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Sexuelle Gruppen-Gewalt gegen Frauen
Vom Tahrir-Platz zum Kölner Hauptbahnhof

Seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln beschäftigt Deutschland ein Phänomen: die gemeinschaftliche sexuelle Belästigung von Frauen. In der arabischen Welt ist "Taharrusch dschama'i" schon lange ein Begriff. Im Zusammenhang mit den hohen Flüchtlingszahlen werden derartige Vorfälle jetzt auch in Deutschland wahrgenommen. Was steckt dahinter?

Eine Analyse von Thorsten Gerald Schneiders | 15.01.2016
    Chaos im Schatten des Doms - Silvester 2015 in Köln
    "Du kannst die deutsche Sprache nicht, du verstehst die Abläufe in diesem Land nicht." (dpa / picture-alliance / Markus Boehm)
    Sie grapschen, sie heben Röcke hoch, sie zischen unflätige Bemerkungen. An der Uni, im Park, auf wenig belebten Straßen, in gedrängten Microbussen, in überfüllten U-Bahn-Waggons. Oder sie rotten sich zum Mob zusammen, begeben sich in eine große, laute Menschenansammlung, gucken sich eine Frau aus, drängen sie ab, umstellen sie und fangen an, sie zu bestehlen und massiv zu belästigen.
    Die Bandbreite dessen, was im Arabischen einen eigenen Namen trägt – nämlich "taharrusch dschama'i" – gemeinschaftliche (sexuelle) Belästigung – ist groß. Sie reicht bis hin zur brutalen Vergewaltigung im öffentlichen Raum. "Das ist zwar Teil der kollektiven Kultur geworden", sagt die ägyptische Kommunikationswissenschaftlerin Hanan Badr von der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) in Berlin, "aber es ist kein Teil der islamischen oder arabischen Kultur an sich. Es findet ja beispielsweise auch in Indien statt. In der arabischen Welt gab es das Phänomen vor 50 Jahren nicht. Da war die Gesellschaftsordnung noch strukturierter. Wer eine Frau belästigte, dem wurde damals der Kopf kahlgeschnitten."
    Frauen demonstrieren in Kairo auf dem Tahrir-Platz gegen sexuelle Gewalt
    Frauen demonstrieren in Kairo auf dem Tahrir-Platz gegen sexuelle Gewalt (dpa/picture alliance/Romain Beurrier/Wostok Press)
    Die breite Öffentlichkeit nahm erstmals während des Arabischen Frühlings 2011 von derartigen Übergriffen auf Frauen Kenntnis. Als Hunderttausende auf dem zentralen Tahrir-Platz den Sturz des Langzeitherrschers Hosni Mubarak forderten. Frauen standen damals oft in der ersten Reihe, spielten eine wichtige Rolle in der Revolutionsbewegung. Manchmal wurden die Übergriffe von staatstreuen Sicherheitskräften forciert oder zumindest gebilligt. Die protestierenden Frauen sollten so sehr eingeschüchtert werden, dass sie am nächsten Tag zuhause bleiben würden.
    Viele Frauen in der arabischen Welt können vermutlich davon berichten
    "Taharrusch dschama'i" existiert aber auch ohne politische Motivationen. Viele Frauen in der arabischen Welt werden aus eigener Erfahrung davon berichten können. Nicht von Vergewaltigungen, aber zumindest von Anzüglichkeiten, lüsternen Blicken, unsittlichen Berührungen. Hanan Badr sagt: "Gerade als Frau treffen mich die Vorfälle in Köln sehr, da ich ja das Phänomen kenne und darunter in meinem Heimatland Ägypten leide." Es spielt übrigens keine Rolle, ob eine Frau ein Kopftuch trägt oder nicht. Kopftuch und Verschleierung schützen vor Übergriffen nicht – wovon diverse Videos und Bilder im Internet zeugen.
    Im Jahr 2016 wird das Phänomen nun auch in Deutschland gesamtgesellschaftlich wahrgenommen – im Zuge der Einwanderung aus arabischen Staaten und im Zuge der Flüchtlingsbewegungen. "Ausgerechnet die Flüchtlinge", denken nun viele. Ausgerechnet die Menschen, die vor Krieg, Not und Leid geflohen sind. Doch der Gedanke greift zu kurz. In Köln beteiligten sich an den Übergriffen junge Männer aus dem nordafrikanisch geprägten kleinkriminellen Milieu. Diese Männer sind also schon länger im Land. Und auch Flüchtlinge aus Syrien fliehen nicht allesamt vor dem Krieg oder aus den riesigen Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien oder im Libanon. Unter ihnen sind auch junge Leute, die selbst keine einzige Bombe je haben fallen sehen, weil sie in vergleichsweise ruhigen Landstrichen leben wie Teile der von Kurden geprägten Region in Nordosten des Landes. Im alten Syrien wären ihre Familien ökonomisch vergleichsweise gut gestellt gewesen.
    Es kommen insbesondere die jungen, arbeitsfähigen Männer
    Doch war es vor dem Krieg für Syrer nur sehr schwer möglich, nach Europa zu gehen, nehmen einige die aktuelle Situation nun auch als Gelegenheit wahr, endlich "auswandern" zu können. Sie schließen sich dem syrischen Flüchtlingstreck an, so wie es auch schon Einwohner anderer arabischer Staaten machten. Als Syrer haben sie große Chancen auf eine Bleibeperspektive in Deutschland – die Einzelfallprüfungen wurden zeitweise ausgesetzt, Bundeskanzlerin Angela Merkel öffnete die Grenzen. Nun machen sich weniger die Familien, die Alten, die Frauen und die Kinder auf den Weg, sondern es kommen insbesondere die jungen Männer, die arbeitsfähigen Burschen.
    Marokkaner blicken über die Klippen von Tanger nach Europa.
    Die Straße von Gibraltar (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    In Deutschland angekommen, sind sie auf sich allein gestellt. Ohne Lebenserfahrung, das erste Mal im Ausland, zum ersten Mal ohne Familie. "Am Anfang verhältst du dich schüchtern, ruhig, bist unsicher", sagt ein ehemaliger syrischer Flüchtling, heute Mitte 40, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, nennen wir ihn Mahmud: "Du kannst die deutsche Sprache nicht, du verstehst die Abläufe in diesem Land nicht. Also hältst du dich an diejenigen, die in der gleichen Situation sind, die gleich alt sind. Manche besaufen sich, probieren Drogen, hängen vor Diskotheken ab, geraten in Schlägereien, lassen sich Tattoos stechen." Aber er habe Glück gehabt, sagt Mahmud, dass sein Onkel bereits in Deutschland gelebt habe. Der habe ihn an die Hand genommen: "Nur wenn du so jemanden nicht hast...."
    Keine sexuellen Kontakte vor der Ehe
    Zurück in die Arabische Welt. Die Täter des "taharrusch dschama'i" sind zumeist Männer zwischen Pubertät und Heirat in urbanen Milieus. Viele sind unzufrieden und frustriert von den Restriktionen, die ihnen ihre Umgebung auferlegt: keine sexuellen Kontakte vor der Ehe. Nicht einmal ein Gespräch unter vier Augen zwischen einem fremden Jungen und einem fremden Mädchen wird gestattet. Aber zugleich öffnet einem das Internet ein Fenster auf die Welt des Sex, Drugs and Rock'n'Roll.
    So staut sich bei manchen Betroffenen einiges auf: Wer etwas Geld hat, sucht Prostituierte auf. Wer mehr Geld hat, wählt die von manchen islamischen Gelehrten legitimierte Zeitehe – man heiratet eine Frau für eine kurze Zeit, manchmal nur für Stunden. Andere suchen körperliche Nähe beim gleichen Geschlecht: Während Junge und Mädchen in der Öffentlichkeit nicht Hand in Hand, Arm in Arm gehen darf, Junge und Junge darf es sehr wohl. Und ein weiteres Ventil ist "taharrusch dschama'i".
    "Religionsprediger verbreiten konservative Sicht auf Frauenrolle"
    "Solche Jugendliche reden sich ein", erläutert die Kommunikationswissenschaftlerin Badr, "dass die Frauen das so wollten oder selbst provozierten. Sei es, weil sie so spät aus dem Haus gingen oder weil sie auf eine bestimmte Weise angezogen seien. Die Jugendlichen versuchen, sich dadurch die Schuld zu nehmen, dass sie die Frau auf ein bloßes Objekt der Verführung reduzieren." Badr fügt hinzu, hier sehe sie auch eine Verantwortung bei den "Religionspredigern, die diese konservative Sicht auf die Frauenrolle verbreiten".
    Helme von Soldaten der irakischen Armee liegen in Kirkuk auf dem Boden.
    Die meisten Flüchtlinge sind direkte Opfer des brutalen Krieges in Syrien und im Irak. Auf einen Teil trifft das nicht unmittelbar zu. (dpa / picture alliance / Sebastian Backhaus)
    Solche Vorstellungen aus der arabischen Welt sind auch in Deutschland angekommen. Badr warnt allerdings: "Diese Vorfälle als 'böse Araber gegen unschuldige Europäer' darzustellen ist absurd und verfehlt den Punkt. Es gibt Europäer, die ein ähnliches Frauenbild haben. Und es gibt Bürger arabischer Herkunft, die sich an die Gesetze halten, sei es in ihrer Heimat oder in Europa."
    "Taharrusch dschama'i" findet nicht erst seit der gestiegenen Zahl an Flüchtlingen in Deutschland statt. In der Sozialarbeit kennt man das Problem dieser Übergriffigkeit gegen Frauen und Mädchen schon lange. Auch der einst geflohene Mahmud sagt, vor zehn Jahren sei das noch viel schlimmer gewesen. Aber was soll der deutsche Staat denn nun mit solchen jungen Männern wie denen in Köln tun? Mahmud hat eine klare Vorstellung: "Abschieben! Sofort abschieben!"