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Sexueller Missbrauch
Die Verantwortung der Theologie

Wie war massenhafter sexueller Missbrauch möglich? Hat das auch etwas mit der rigorosen katholischen Moral zu tun? Wir haben gesündigt, sagt der Moraltheologe Antonio Autiero, mehr Widerspruch sei nötig gewesen. Die Debatte hat gerade erst begonnen.

Von Kirsten Dietrich | 02.07.2019
Schatten bei der Vorstellung der Missbrauchsleitlinien der katholischen Kirche.
Machtbeziehungen: die katholische Theologie steht vor grundlegenden Fragen (dpa / Harald Tittel)
Der frühere Papst und Theologieprofessor Joseph Ratzinger machte sich kurz vor Ostern Gedanken zu den Ursachen sexuellen Missbrauchs. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht: Die Achtundsechziger und alle katholischen Moraltheologen, die sich davon nach Ansicht des Altpapstes mitreißen ließen. Eine besonders hämische Passage galt dem Bonner Gelehrten Franz Böckle.
Unter Theologen rief der Aufsatz Kopfschütteln bis Entsetzen hervor. Doch die Frage, welche Verantwortung die eigene Disziplin trägt, stellt sich – und erste Versuche, sie anders als Joseph Ratzinger zu beantworten, werden sichtbar.
"Nicht mutig genug"
Der Moraltheologen Antonio Autiero sieht eher zu wenig als zu viel Liberalität innerhalb seiner Zunft:
"Aus der Analyse des Ganzen kann man auch die Folgen ziehen, dass die Moraltheologie in den letzten Jahrzehnten oder mindestens in der Zeit zwischen den 60er und den 90er/2000er Jahren, wo die systematische Kontrolle durch Kirche stärker war, daran gesündigt hat, sich nicht mutig genug gezeigt zu haben."
Das klingt fast schon wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis, mit dem die evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Versagen angesichts des Nationalsozialismus bekannte. Sündig geworden - bezogen auf Missbrauch und Gewalt - heißt für Antonio Autiero: Die katholischen Moraltheologen haben zu viel über die Kontrolle von Sexualität nachgedacht – und damit das Erleben der Einzelnen nicht ernstgenommen, im Guten wie im Bösen. Wer anders dachte, wurde von der Kirchenleitung zum Verstummen gebracht – und die theologische Zunft habe sich dem nicht widersetzt. Wie kann es anders gehen?
Care-Ethik statt Kontrolle
"Eine Sexualmoral, die als Care-Ethik, Fürsorge-Ethik der Intimität sich versteht, setzt jeder Form von Arroganz, Machtausübung, Verschwendung Energien, Verachtung der Realität des anderen ein Ende. "
Für diese Care-Ethik der Intimität will Autiero zurückgreifen auf eine Theologie, die schon einmal die Erfahrungen der Schwachen und Leidenden in den Mittelpunkt stellte: die politische Theologie der Befreiung, entstanden in Lateinamerika Ende der 60er Jahre.
"Natürlich, das ist eine neue Sakramentalität: Sakramentalität der Beachtung der Leidenssituation der anderen. Auf die Gott blickt und uns einlädt, mitzuschauen."
Das erfordert ein grundlegendes Umdenken, das viel weiter reicht als nur bis zum direkten Umgang mit Sexualität und Beziehung. Auch über die Sakramente zum Beispiel muss neu nachgedacht werden, also über heilsvermittelnde Handlungen, in denen Gott vermittelt durch von ihm beauftragte Personen direkt wirkt. Die Beichte ist so ein Sakrament, und sie muss als Reaktion auf den Missbrauch anders verstanden werden, nicht nur theologisch, sondern quasi psychologisch geerdet werden.
"Klares Machtverhältnis"
"Es gibt in so Missbrauchsbeziehungen eine ganz bestimmte Dynamik, wo das Opfer oder die betroffene Person Schuld übernimmt und sich selber schuldig fühlt. Das sind häufig Kinder oder Jugendliche, die in einem klarem Machtverhältnis stehen, wo sie nicht das Sagen haben."
Sagt Gertrud Ladner von der Universität Innsbruck.
"Dann kann man nicht zu diesen Schuldgefühlen in der Beichte sagen: Ok, du fühlst dich schuldig, ich entschuldige dich durch die Beichte. Deine Schuld ist dir genommen, damit ist es gut – es ist nichts gut für Opfer. "
"Die Kirche steht vor der Herausforderung, da Unterscheidungen zu treffen. Und sehr klug zu schauen, was ist an Tradition erhaltsam, was lässt sich auch weiter übersetzen, ohne Substanz zu verlieren, was ist aber auch im Lauf der Jahrhunderte dazugekommen, importiert worden, auch kultiviert worden, an Hochproblematischem? "
Daniel Bogner Theologie Moraltheologie Fribourg
Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie in Fribourg/Schweiz. (Privat)
Auch für den Moraltheologen Daniel Bogner von der Universität Fribourg in der Schweiz bedeutet das: die katholische Theologie muss genauer nachdenken, was das heißt: sakramentales Handeln, Handeln quasi als verlängerter Arm Gottes. Über die Jahrhunderte sei immer weiter gefasst worden, was unter dieses Sakrament falle und damit menschlichem Urteil entzogen sei – das habe die Machtverhältnisse viel mehr als nötig zugunsten der geweihten Amtsträger verschoben.
Sakramentalität ungleich Sakralität
"Ich würde sehr stark unterscheiden zwischen Sakramentalität und Sakralität. Sakramentalität bedeutet, in kirchlichen Vollzügen gibt es bestimmte Punkte, mit bestimmten Praktiken, an denen man sagt, hier verdichtet sich die Heilszusage Gottes. Aber das ist etwas anderes, als Hinz und Kunz für sakral zu erklären. Und noch die randständigste Alltagspraktik eines Klerikers, nur weil er ein geweihter Mann ist, für wichtig, wertvoll, respektwürdig zu halten."
Eine Theologie, die angemessen auf sexualisierte Gewalt durch Kleriker reagieren will, sollte für Bogner deswegen nicht nur auf Sexualethik und Zölibat schauen. Sie sollte sich stattdessen viel mehr auch mit dem Kirchenrecht beschäftigen – denn mit ihm werde diese falsch verstandene Heiligkeit in die Strukturen der Kirche eingeschrieben. Anders als Joseph Ratzinger suchen Bogner, Ladner und Autiere die Ursachen sexualisierter Gewalt nicht allein außerhalb der Kirche, sondern in ihrem Innersten. Noch ist offen, wie viele Kolleginnen und Kollegen diese Debatte weiterführen. Sie steht erst am Anfang.