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Sexueller Missbrauch im Sport
Treten auf der Stelle

Druck aus der Politik und teure Schadenersatzprozesse könnten neue Fakten im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch im US-Sport schaffen. Aber die Fehler liegen im System. Und sie sitzen tief.

Von Jürgen Kalwa | 19.05.2018
    US-Turnerin Alexandra Raisman bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio auf dem Schwebebalken
    US-Turnerin Alexandra Raisman bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio auf dem Schwebebalken (Imago)
    An einem Nachmittag Mitte April: Senator Jerry Moran eröffnet die Sitzung, in der zwei Turnerinnen, eine Eisschnellläuferin und ein ehemaliger Eiskunstläufer zu Wort kommen. Sie alle Opfer von sexuellem Missbrauch im Sport.
    In den Wochen davor hatte eine einzige Sportart im Mittelpunkt gestanden: Der Arzt Larry Nassar hatte jahrzehntelang minderjährige Turnerinnen sexuell missbraucht. Doch längst ist klar: Es gibt viel mehr Täter - in vielen Sportarten. Nur die Vergangenheit aufzuarbeiten reiche nicht, sagt Senator Richard Blumenthal.
    Und fordert ein generelles Umdenken in der Politik: "Athleten sind quer durch zahlreiche olympische Sportarten missbraucht worden. Das kann niemand abstreiten. Wir wollen dagegen ankämpfen, die Situation korrigieren und verhindern, dass es erneut passiert."
    Zahllose Schadenersatzprozesse
    Aus diesem Grund kündigt Jerry Moran an diesem Tag bereits den nächsten Schritt an: "Wir haben den 22. Mai als Termin für das nächste Hearing angesetzt und dem Turnverband, dem Nationalen Olympischen Komitee und der Universität Michigan State klar gemacht, dass wir sie hier als Zeugen erwarten." Es geht darum, die Frage zu klären, welche Rolle Funktionäre in einem System spielen, in dem Missbrauch auf breiter Basis möglich ist.
    Dem organisierten amerikanischen Sport droht der Gegenwind allerdings nicht nur aus der Politik. Es stehen zahllose Schadenersatzprozesse aus, die von betroffenen Athleten vorangetrieben werden. Sie könnten die Verbände ähnlich wie bei der Einigung mit der Universität Michigan State am Ende hunderte von Millionen Dollar kosten und einige an den Rand der Pleite bringen. Beispiele für das Fehlverhalten der Funktionäre gibt es genug.
    Der ehemalige Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, steht wegen sexuellem Missbrauch und anderen Delikten vor Gericht.  
    Der ehemalige Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, steht wegen sexuellem Missbrauch und anderen Delikten vor Gericht. (AFP / JEFF KOWALSKY)
    Auch im Fall Larry Nassar. Der Teamarzt der US-Turnerinnen ist inzwischen in diversen Verfahren zu einer Haftstrafe von mehreren hundert Jahren verurteilt worden. Der kalifornische Anwalt John Manly vertritt viele seiner Opfer: "Der US-Turnverband hat im Juni 2015 zugegeben, er wusste, dass Nassar möglicherweise ein Kinderschänder war. Aber anstatt das zu tun, was die Gesetze in den betreffenden Bundesstaaten Texas und Indiana verlangen, hat man fünf Wochen lang gar nichts gemacht. Außer eine interne Untersuchung auf den Weg zu bringen. Dabei muss man kein Wissenschaftler sein um zu wissen: Das erste, was man in einem solchen Fall tut, ist: zum Telefonhörer greifen und die Polizei anzurufen."
    Auch bei der Verschleierung waren Funktionäre beteiligt. Das dokumentiert eine Klage des namhaften Sportpsychologen Steven Ungerleider gegen das Nationale Olympische Komitee der USA und die ehemalige Eishockey-Spielerin Angela Ruggiero. Als Mitglied der IOC-Athletenkommission und im Verwaltungsrat des amerikanischen NOK soll sie irgendwann begonnen haben, Ungerleider gegenüber einflussreichen Funktionären als "Betrüger" zu bezeichnen.
    Kinder vor Missbrauch schützen
    Der habe Berichte über Missbrauch an jungen Turnerinnen einfach nur "fabriziert". Ruggiero soll sogar versucht haben, den Chef der medizinischen Kommission des Internationalen Olympischen Komitees davon abzubringen, den Themenkomplex in IOC-Gremien zu behandeln. Ruggieros Anwalt bestreitet die Anschuldigungen.
    Ungerleider arbeitet seit Jahrzehnten im internationalen Sport. Er sagte dem Deutschlandfunk, bei seiner Klage gehe es ihm nicht um Geld. Er wolle Kinder vor horrendem Missbrauch schützen: "Der geht übrigens noch immer weiter. Wir haben noch immer Trainer, die von einer Stelle zur anderen wandern, ohne dass ihre Namen auf der Verbotsliste auftauchen oder sie jemand belangt. Das NOK weigert sich. Sie haben alle möglichen Gründe dafür."
    Kein Fortschritt im Kampf gegen Missbrauch
    Für Abhilfe soll seit kurzem eine Initiative des NOK sorgen. Sie heißt SafeSport. Dass sie etwas ausrichten kann, glaubt Ungerleider allerdings nicht." Das sind gute Menschen mit guten Absichten. Aber sie haben nicht das Geld, nicht die Ermittler. Das geben sie ehrlicherweise sogar zu. Sie kommen jeden Tag in ihr Büro und haben soviele Fälle zu bearbeiten, dass sie gar nicht wissen, was sie als erstes tun sollen."
    Mit anderen Worten: Im Kampf gegen Missbrauch tritt man in den USA weiterhin auf der Stelle.