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Sexueller Missbrauch im Turnen
Schwer, darüber zu sprechen

Fassungslos auf der einen, aber auch abwiegelnd auf der anderen Seite. So äußerte sich Turn-Bundestrainerin Ulla Koch im Dlf über den Fall Larry Nassar und die massiven Fälle sexuellen Missbrauchs im US-Turnen. "Ich glaube, bei uns im System kann uns das nicht passieren", sagte Koch Anfang Juni. Auf das Gespräch gab es viele Reaktionen.

Von Andrea Schültke | 21.07.2018
    Ulla Koch ist Chef-Trainerin des Deutschen Turner-Bundes.
    Ulla Koch ist Chef-Trainerin des Deutschen Turner-Bundes. (imago sportfotodienst)
    Von Kopfschütteln bis Fassungslosigkeit: So reagierten Betroffene und Expertinnen auf einige Aussagen von Ulla Koch. "Natürlich ist die Aussage, das kann bei uns nicht passieren, die Aussage, die am meisten bei mir hängengeblieben ist, weil, das ist so, muss ich leider Frau Koch widersprechen absolut nicht korrekt", erläutert Gisela Braun von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW. Sie ist seit Jahrzehnten in der Prävention sexualisierter Gewalt tätig und verweist auf die Studie "Safe Sport".
    Gisela Braun von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW.
    Gisela Braun von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW (Dlf/Andrea Schültke)
    Unter Federführung der Sporthochschule Köln waren 1800 Athletinnen und Athleten aus Nachwuchskadern aller Sportarten befragt worden. Jeder Dritte hat im Laufe der aktiven Karriere sexualisierte Gewalt erlebt, einer von neun länger andauernde oder schwere sexuelle Übergriffe. Zahlen speziell zum Turnen gibt es nicht, dennoch ist klar: Auch diese Sportart ist betroffen.
    Für die Präventionsarbeit problematisch sei, wenn man glaube, im eigenen System könne das nicht passieren, warnt Diplom-Sportlehrer Robert Wagner: "Wenn solche Aussagen dazu führen, dass wir oder die Trainer oder Vereinsverantwortlichen sich in Sicherheit wiegen, dann wäre das ein falsches Signal oder ein riskantes."
    "Gute-Gelegenheits-Strukturen"
    Wagner macht Basisarbeit, leitet Seminare in Vereinen und Verbänden zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt. Die sei im Sport genauso häufig, wie in anderen Teilen der Gesellschaft, sagen Expertinnen wie Gisela Braun und weisen auf generelle Risikofaktoren hin:
    "Wir nennen das ganz zynisch "Gute-Gelegenheits-Strukturen" für Täter oder Täterinnen. Die hat der Sport auch sehr stark. Es geht hier sehr viel um Disziplin, Autorität, die Mädchen und Jungen sind gewöhnt den Trainern und Trainerinnen zu gehorchen, das zu machen, was die sagen. Es läuft viel über den Körper, dass die Kinder an ihren körperlichen Leistungen gemessen werden, dass sehr viel trainiert wird und vielleicht weniger Kontakt nach außen da ist. Das sind alles Möglichkeiten, ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die Kinder auch befinden, auszunutzen und zu missbrauchen."
    Der frühere Teamarzt der US-Turner, Larry Nassar, vor Gericht in Lansing, Michigan.
    Der ehemalige Teamarzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, wurde wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs zu 175 Jahren Haft verurteilt (AFP / JEFF KOWALSKY)
    Die angesprochene "Gute-Gelegenheits-Struktur" hatte offenbar auch Larry Nassar in der US-Turnszene. Als eine Art Medizin-Guru haben ihn einige lange Jahre regelrecht verehrt. Erst spät wurde öffentlich: Gleich welche Verletzungen Athletinnen hatten, immer war Nassar mit dem Finger in ihre Vagina eingedrungen und hatte das mit notwendigen Behandlung begründet. Die Betroffenen hatten das jahrelang verschwiegen.
    Ulla Koch, Cheftrainerin des Deutschen Turnerbundes (DTB) zeigte sich im Deutschlandfunk-Sportgespräch bestürzt über die Übergriffe. Das Schweigen der Athletinnen konnte sie nicht nachvollziehen: "Wie junge Frauen, die Erfahrung haben mit Behandlungen, sowas über sich ergehen lassen haben, ohne 'Nein' zu sagen, das ist für mich das Unfassbare. Ob das die Millionen sind, die dahinter stecken, ob der Verband gesagt hat 'ja komm'?"
    "Ich habe mich schuldig gefühlt"
    Hier macht die erfahrene Trainerin die betroffenen US-Turnerinnen indirekt mitverantwortlich für die Übergriffe durch den Arzt. "Also dafür kein Verständnis zu haben, finde ich sehr irritierend", hält Gisela Braun dagegen. Die betroffenen Mädchen schämten sich für das, was ihnen passiert sei. Es sei sehr schwer für sie, darüber zu sprechen.
    Das machten die Betroffenen im Verfahren gegen Larry Nasser deutlich. Auch Olympiasiegerin Aly Raisman: "Ich habe mich schuldig gefühlt, Du warst doch Arzt. Ich dachte ich sei das Problem."
    US-Turnerin Aly Raisman bei einem Interview bei den Olympischen Spielen 2016.
    US-Turnerin Aly Raisman wurde von Larry Nassar missbraucht (imago sportfotodienst)
    Kritik an den Aussagen von Ulla Koch kann Britt Dahmen nachvollziehen. Die Vize-Präsidentin des Deutschen Turnerbundes relativiert aber und macht die Gedanken ihrer Cheftrainerin deutlich: "Sie spricht für den Spitzensport, sie spricht für ihre Erfahrung und sie spricht für das, was sie für denkbar oder undenkbar hält, persönlich, man kann sagen sie hätte vielleicht an der Stelle noch mehr schauen können, was machen wir sonst im DTB mit dem Thema, das hat sie an der Stelle vielleicht nicht gründlich genug gemacht".
    Die Vize-Präsidentin nimmt aber auch sich selbst in die Pflicht und sieht die Verantwortung für das Thema sexualisierte Gewalt in der Spitze der Verbände: "Möglicherweise ist das etwas, was bisher noch unterschätzt worden ist im DTB oder auch in anderen Verbänden, dass wir ganz viele Maßnahmen implementieren können, aber dass auch diese Personen, die in der Verantwortung stehen da mitgenommen werden, dass sie mit einbezogen werden, dass sie das verstehen und mittragen und sensibel bewerten. Also dass man sich des Themas nochmal anders bewusst wird auch der Wirkung nach außen, wenn ich solche Aussagen treffe."
    Präventionsarbeit noch am Anfang
    Der Deutsche Turnerbund hat sich Anfang des Jahres gegen sexualisierte Gewalt positioniert, verlangt etwa die Unterzeichnung eines Ehrenkodexes, hat Präventionsseminare in seiner Ausbildungsordnung festgeschrieben oder eine Ombudsfrau als Ansprechpartnerin benannt. Damit ist der DTB, gemessen an den Ergebnissen der Studie "Safe Sport", weiter als andere Verbände.
    Vize-Präsidentin Britt Dahmen sieht die Präventionsarbeit im DTB aber noch am Anfang. Deshalb will sie mit dem Verband an einem Forschungsprojekt teilnehmen, das die Rolle von Trainerinnen und Trainern im Fokus hat und das Thema Nähe und Distanz: "Weil das für uns nochmal ein guter Anlass ist, wirklich weiterzugehen über einen vorhandenen Ehrenkodex, den sicher auch Frau Koch kennt und wahrscheinlich auch unterzeichnen musste, der aber letztendlich nur eine Unterschrift ist."
    Probleme in der Praxis
    Der Ehrenkodex regelt den Umgang der Unterzeichner mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Sie verpflichten sich unter anderem, "keine Form der Gewalt, sei sie physischer, psychischer oder sexueller Art" auszuüben. Einer von mehreren Punkten in den Ausbildungs-Regeln des Deutschen Olympischen Sportbundes. Die sollen eigentlich alle Verbände umsetzen, wenn sie Trainer ausbilden und Lizenzen vergeben.
    In der Praxis sieht Robert Wagner das Problem, wirklich alle mit dem Thema zu erreichen: "Bei allen Trainern, die schon länger ne Lizenz haben kann es eigentlich nur sichergestellt werden , wenn ein Verband das Thema als Hauptthema irgendwo ansiedelt und über Schulungen, Sensibilisierungsmaßnahmen in Trainerteams mit dafür sorgt und das ist nicht unbedingt sichergestellt."
    Prävention für Spitzenverbände relevant
    Dabei ist das Thema "Prävention sexualisierter Gewalt" für mehr als zwei Drittel aller Spitzen-Verbände relevant, so die Studie "Safe Sport". Aber weniger als die Hälfte verfügt nach eigenen Angaben über fundierte Kenntnisse zur Vorbeugung. Es mangelt an Geld und festangestellten Mitarbeitern, die für das Thema verantwortlich sind.
    Im Zusammenhang mit der aktuellen Leistungssportreform macht der Deutsche Olympische Sportbund seinen Verbänden verpflichtende Vorgaben in Sachen Prävention sexualisierter Gewalt. Bei Nicht-Erfüllung drohen zum ersten Mal Nachteile bei der finanziellen Förderung. In welchem Ausmaß ist noch unklar.