
"Das ist mein Anliegen: Kirchen, kirchliche Institutionen, Gemeinden dazu herauszufordern, nicht nur kreative, sondern auch sichere Orte zu schaffen für Kinder und Jugendliche."
Der Bochumer Pastor Christian Rommert engagiert sich seit vielen Jahren zu Fragen des Kindesschutzes. Den entscheidenden Anstoß gab seine Frau. Sie selbst wurde als Kind sexuell missbraucht, konnte darüber aber erst als Erwachsene sprechen. Christian Rommert begann mit Vorträgen und Seminaren in evangelisch-freikirchlichen Gemeinden, als das Thema dort noch tabu war. Inzwischen hat er über 100 Gemeinden besucht und sie zum Umgang mit sexueller Gewalt und Missbrauch beraten.
Er erzählt: "In jedem Seminar, in jedem Vortrag, in jedem Gottesdienst, den ich zu dem Thema gestaltet habe, kamen hinterher mindestens eine Person, manchmal auch mehrere Personen, die gesagt haben, das betrifft mich. Hochrechnungen gehen davon aus, dass jede vierte, fünfte Frau betroffen ist im Laufe ihrer Kindheit und jeder siebte bis zehnte Mann. Und das würde ich für den kirchlichen Kontext auf jeden Fall auch so sehen."
Machtgefälle sind Unsicherheitsfaktoren
Dabei gebe es Faktoren, die eine Freikirche für Täter durchaus attraktiv machten. Hier spiele vor allem das familiäre Miteinander, die besondere Nähe und enge Kontaktpflege - die von vielen ja gerade als Stärke freikirchlichen Gemeindelebens empfunden wird - eine Rolle. Und nicht zuletzt eine konservative Sexualmoral.
Rommert: "Also gerade im freikirchlichen Kontext vertraut erst einmal jeder jedem. Keiner traut dem anderen etwas Böses zu. Das Thema Sexualität ist immer noch etwas, was im kirchlichen Kontext immer noch ein Stück tabuisiert wird. Weil man da Angst mit verbindet, darüber nicht offen sprechen kann. Es gibt diese Frage des Gehorchens. Liebe Kinder sind Kinder, die gehorchen. Da steckt oft auch noch eine alte Pädagogik dahinter. Und es gibt leider auch noch Kirchen, in denen das Machtgefälle zwischen Mann und Frau kultiviert wird. Und solche Machtgefälle sind immer Unsicherheitsfaktoren."
In der Vergangenheit sei jedoch oft, selbst nach Aufdeckung von Taten, nicht viel passiert, kritisiert Rommert:
"Im Windschatten der Vergebung konnten viele Täterinnen und Täter einfach die Gemeinde wechseln und dort ganz neu beginnen, ohne dass auf die Eignung geachtet wurde von diesen Menschen. Und wenn wir jetzt wissen, dass Täterinnen und Täter gezielt Orte aussuchen, in denen sie übergriffig sein können, in denen sie Grenzen ausloten und Menschen verführen können: 'Das ist doch alles gar nicht so schlimm, was unterstellt ihr mir da ...' Dann wird plötzlich verständlich, dass Kirche, wenn es eben nicht Sicherheitsmaßnahmen gibt, dass Kirche dann eben ein sehr gefährdeterer Ort ist."
Anfälligkeit von Strukturen
Christoph Stiba, Generalsekretär des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, glaubt nicht, dass Freikirchen besonders riskante Orte für Kinder sind. Er verweist auf das gesamtgesellschaftliche Problem.
"Das kann ja niemand statistisch sagen, ob evangelische Freikirchen anfälliger ist aufgrund bestimmter Strukturen. Überall da, wo starke Vertrauensstrukturen sind, Abhängigkeitsstrukturen, gibt es immer ein Machtgefälle Und das ist in einem Verein nicht anders als in einer Kirche, einer Jugendgruppe. Dass diese Strukturen anfällig sind, das ist sicherlich so. Diese Dimension ist in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen. Und je mehr man das wahrnimmt, auch wir als Kirche müssen das wahrnehmen, ist es klar, dass es bei uns auch ist. In allen Sportclubs, in allen Vereinen, in allen Jugendorganisationen ist das so. Und in dem Moment, wo das offenbar wird, muss man sich kümmern. Und das tun wir."
Es ist ein sensibles Thema, mit dem der Bochumer Pastor Christian Rommert in den Gemeinden konfrontiert wird. Dass er von einer persönlichen Betroffenheit erzählen kann, erleichtere das Reden. Gemeindemitglieder vertrauen sich ihm an. Manche sprechen zum ersten Mal überhaupt über ihre Erlebnisse. Es sind Geschichten, in denen sich immer wieder Muster abbilden. Eine Kindheit in christlich konservativen Elternhäusern, in denen oftmals eine Hilf- und Sprachlosigkeit im Umgang mit Sexualität herrsche. Genau diese Angst und Zurückhaltung machen sich Täter zu nutze, sagt Rommert.
"Diese Angst, die erlebt das Kind und ist plötzlich dankbar, wenn da ein Erwachsener kommt, der die Fragen beantwortet. Und Täterinnen und Täter treten manchmal in so einer Art 'Love-Teacher', als Lehrer in sexuellen Dingen auf."
Was dann passieren kann, beschreibt Rommert so:
'Komm ich zeig dir mal nen Foto, ich weiß, du kommst aus so einer Gemeinde, da spricht man drüber nicht, aber vielleicht willste das mal sehen' und da bauen sie ein Vertrauensverhältnis auf und führen auch Testrituale durch, wie das Kind reagiert auf Fotos. Kann man das dann nachstellen: 'Ich möchte auch mal ein Foto machen wie dies, was ich dir gezeigt habe und eigentlich will ich das auch mal erleben mit dir.' So rutscht ein Kind dann plötzlich in so eine Situation rein."
Aufwachsen in einer Art Gehorsamskultur
Bei vielen Betroffenen spiele auch körperliche Gewalt in der Familie eine Rolle. Das Aufwachsen in einer Art Gehorsamskultur. Dazu kämen aber auch theologische Aspekte zumal in einer konservativen und sehr bibeltreuen Gemeinschaft, sagt Rommert, der viele Jahre auf Leitungsebene im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden arbeitete, bevor er sich als Berater selbstständig machte. Ein typisches Beispiel sei der Umgang mit der Geschichte aus dem Alten Testament, in der Lot von seinen Töchtern verführt wird.
"Die Geschichte wird so erzählt, dass du nicht weißt, wer ist der Täter, wer ist Opfer. Da sind schon so viele Verdrehungen drin und das nutzen natürlich Täterinnen und Täter für sich. Eine sehr radikale Theologie wird manchmal missbraucht, um eben Gehorsam einzufordern. Und da missbrauchen Täterinnen und Täter eben dann auch die Bibel. Es sind mir durchaus Geschichten begegnet, wo mir eine Betroffene erzählte, der Täter hat gesagt, ich mache dich jetzt zu Lots Tochter."
Anfangs, als er die ersten Seminare gegeben hat, stieß er noch auf viel Unverständnis und Abwehr in den Gemeinden. Sexueller Missbrauch? So etwas gibt es bei uns nicht! ,hat Christian Rommert ein ums andere Mal zu hören bekommen. Als Geschäftsführer des Gemeindejugendwerkes hat er im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden eine Anlaufstelle für Betroffene aufgebaut, die Präventionskampagne "sichere Gemeinde" mitentwickelt.
"Was ich kritisieren oder anprangern würde, ist, dass über einen langen Zeitraum der Schutz der Institution höher bewertet wurde als der Schutz der Kinder und Jugendlichen und Betroffenen. Man wollte, dass die Kirche keinen Schaden nimmt."
Eine Haltung, die dazu beigetragen hat, dass das Thema sexueller Missbrauch erst sehr spät als Problem im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden erkannt wurde. Christoph Stiba:
"Dass es gut ist, wenn wir eigene Strukturen da etablieren, sowohl zur Prävention als auch zur Intervention, das war so nicht im Bewusstsein. Ich glaube, dass man möglichst die Augen vor so etwas verschließt, dass das schon die Realität unserer Gesellschaft ist. Ich finde das schon schmerzhaft, nicht nur für uns als Kirche, da im Besonderen, dass so etwas mit Kindern, die uns anvertraut sind, passieren kann.
Das ist einfach schmerzhaft. Aber ich glaube, das ist es für die ganze Gesellschaft. In gewisser Weise ist es doch ein Scheitern im Miteinander. Was wir nicht wahrhaben wollen, dass das in Familien passiert, dass Väter ihre Kinder missbrauchen. Das ist doch etwas, was man nicht gerne anguckt und wo man möglichst lange wegguckt."
Sensibilität für das Problem ist gestiegen
Generalsekretär Stiba ist - heute zumindest - keine Situation bekannt, in der ordinierte Mitarbeiter, die belastest sind, in einer anderen Gemeinde eine Beschäftigung gefunden haben. Aber auch er erlebt, dass Gemeinden sagen, das ist nicht unser Thema.
"Denen würde ich gerne sagen, das ist nicht wahr. Das ist unser Thema. Und das ist das Thema jeder Gemeinde. Und ich glaube, dass wir das sehr notwendig in den Blick nehmen sollten, präventiv unsere Kinder zu schützen. Und ich glaube, dass wir die Verantwortung haben, Kinder zu schützen in unseren Gemeinden zu schaffen."
Mittlerweile hat sich auch im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden mit seinen 82.000 Mitgliedern und 800 Gemeinden einiges in punkto Aufarbeitung getan. Auch im Umgang mit Täterinnen und Tätern. Mit einem gesellschaftlich veränderten Klima ist auch dort die Sensibilität für das Problem gestiegen. Seit 2009 gibt es das von Christian Rommert initiierte Präventionsprogramm "sichere Gemeinde". Und seit Herbst letzten Jahres eine externe Anlaufstelle mit unabhängigen Beratern, an die sich Betroffene wenden können. Die Aufdeckung von Taten hat dienstrechtliche Konsequenzen. Wichtig sei es gewesen, sagt Christoph Stiba, dass ein Verfahren unabhängig von kirchlichen Strukturen etabliert wurde.
"Von daher glaube ich, versuchen wir auf diesem Wege, der Versuchung auszuweichen, die es ja gibt, weil man sich ja gut kennt. Und dies sollte nicht geschehen. Hier soll deutlich sein, dass Opferschutz vor Täterschutz geht, dass wir auch als Institution Interesse haben, dass nicht Dinge unter den Teppich gekehrt werden."
Wenn Christian Rommert in Gemeinden gerufen wird, erarbeitet er mit ihnen über einen längeren Zeitraum ein Konzept, das für mehr Sicherheit sorgen soll. Das kann bei ganz praktischen Dingen anfangen wie einer anderen Raumaufteilung oder Glastüren bei Seelsorgegesprächen. Und auch die Öffentlichkeit spielt eine wichtige Rolle
"Ich würde sagen, aktuell besteht die Gefahr, dass das Thema wieder einschläft. Aber Täter passen sich an an neue Situationen. Sicherheit ist etwas, was sich täglich neu erarbeitet werden muss. Das Thema muss lebendig bleiben und dass ist etwas, wo ich sagen würde, da müssen wir aufmerksam sein. Andere Bereiche, wo sich etwas ändern muss, sind von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Da würde ich schon sagen, wir können noch sehr in unsere Pädagogik investieren. Starke Kinder sind der stärkste Schutz."