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Sexueller Parasitismus
Wie Seeteufel bei der Paarung ihre Körper verschmelzen

Wenn sich Seeteufel paaren, verschmelzen ihre Gewebe förmlich miteinander. Eigentlich sollte sich ihre Immunabwehr einschalten. Bei den Fischen ist diese deaktiviert – sie überleben dennoch. Forscher hoffen nun auf neue Erkenntnisse für Patienten, die an ererbter oder erworbener Immunschwäche leiden.

Von Dagmar Röhrlich | 31.07.2020
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Ein kleines Männchen des Anglerfischs klebt an einem viel größeren Weibchen (Edith A. Widder)
"Die Weibchen sind sehr viel größer als die Männchen. Und die Männchen reduzieren sich mehr oder weniger mit der Zeit auf die Funktion der Hoden. Sie produzieren eigentlich nur die Spermien, die dann die Eier, die das Weibchen produziert, befruchten können."
Denn Tiefseeanglerfische, auch Seeteufel genannt, praktizieren Sexualparasitismus, erklärt Thomas Boehm: eine bizarre, in den unendlichen Weiten der Tiefsee aber wohl sinnvolle Strategie zur Fortpflanzung. Schließlich sind dort unten Begegnungen mit potentiellen Partnern rar.
"Das heißt, dass Männchen beißt sich in das Weibchen hinein, und dann führt es zu einer Gewebsverschmelzung und am Ende dann auch zu einem gemeinsamen Blutkreislauf. Das heißt, es entsteht eine echte Chimäre: Weibchen und Männchen kommen zusammen und trennen sich nie mehr."
Die Fische überlisten das Immunsystem
Thomas Boehm vom Max-Planck-Institut für Biologie und Epigenetik interessiert seit langem dafür, wie das überhaupt funktionieren kann: Eigentlich sollte das Immunsystem anspringen und die Verschmelzung der Körper verhindern. Genetische Veränderungen müssen also die Abstoßungsreaktionen unterdrücken. Welche das sind, verrieten jetzt Genanalysen verschiedener Seeteufelarten:
"Die haben ganz einfach die genetische Information, die für diese Abstoßungsreaktion erforderlich ist normalerweise, inaktiviert. Die haben diese Gene zerstört und stellen sich sozusagen jetzt ohne Abwehr gegenüber, sodass das Männchen ohne große Probleme mit dem Weibchen verschmelzen kann."
Die Tiere haben also einen Zweig des für alle Wirbeltiere typischen Immunsystems deaktiviert – und zwar je nach Ausprägung mehr oder weniger komplett. Bei manchen Arten verschmelzen die Partner vorübergehend, andere bilden lebenslange Paare, und bei wieder anderen haften bis zu acht Männchen an einem Weibchen. Dabei gilt anscheinend: Je vergänglicher die Bindung, desto intakter das Immunsystem.
Killer-Zellen müssen ausgeschaltet werden
"Diese temporäre Verbindung zeichnet sich dadurch aus, dass die Anglerfische oder die Seeteufel keine Möglichkeit haben, auf eine weitere Infektion zu reagieren."
Sprich: Das Gen, das dafür zuständig ist, Antikörper "reifen" zu lassen, damit sie Erreger bei einer zweiten Infektion effizienter bekämpfen, ist inaktiviert.
"Sie wollen offensichtlich verhindern, dass, wenn ein zweites Männchen kommt, da eine etwas stärkere Abstoßung stattfindet. Das ist der erste Schritt, und er gilt für alle Anknüpfungsarten. Die zweite, wo es eine 1:1-Verbindung gibt zwischen Männchen und Weibchen, die aber permanent ist, das führt zusätzlich dazu, dass die Killerzellen, die dafür verantwortlich sind, fremde Gewebe oder infiziertes Gewebe abzutöten, eliminiert werden in ihrer Funktion."
Denn diese Killer-T-Zellen würden verhindern, dass die Paarungspartner zusammenwachsen. Das Männchen fiele wieder ab und beim Weibchen entstünde eine schwärende Wunde.
"Dann im Extremfall da, wo das Weibchen mehrere Männchen an sich bindet, da führt das dazu, dass nicht nur die Killerzellen zerstört werden, sondern dass überhaupt gar keine Antikörper mehr gebildet werden können.
Inspiration für die Medizin
All das, was das Immunsystem der Wirbeltiere so besonders macht, ist dann genetisch stumm geschaltet, die erworbene Immunabwehr regelrecht ausgeschaltet. Für einen Menschen wäre dieser Zustand tödlich. Doch diese Fische überleben.
"Sie müssen die Aktivitäten im Immunsystem, von denen wir wissen, dass sie die erste Linie der Verteidigung darstellen - also zum Beispiel die Bildung von Interferon, das sind Signalstoffe, die Zellen darauf vorbereiten, dass eine Infektion passieren kann – vielleicht in besonderer Weise aktivieren und die Zellen sozusagen unter einen permanenten Schutzschirm stellen. Und dadurch verhindern, dass Viren oder Bakterien da diese Fische attackieren können."
Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass verschiedene Seeteufel-Arten ihre bizarren Reproduktionstricks im Verlauf der Evolution mehrmals unabhängig voneinander entwickelt haben. Das erste Mal wohl vor 90 oder 100 Millionen Jahren. Und obwohl die Forschungen über die Immunsysteme der Seeteufel gerade erst so richtig begonnen haben, könnte es sein, dass sie Forscher wie Thomas Boehm eines Tages auf neue Ideen bringt, wie man Menschen helfen kann, die an einer ererbten oder erworbenen Immunschwäche leiden.