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"Shackletons Reise"
Polarexpedition mit Buntstiften

Es war ein aberwitziges Unterfangen: Der Forscher Ernest Shackleton wollte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die Antarktis durchqueren. Doch die Expedition scheiterte spektakulär. William Grill erzählt die Geschichte großer Begeisterung für alle Forschungsreisen. Die sonnigen und humorvollen Bilder zeichnete er mit Buntstiften.

Von Thomas Linden | 16.01.2016
    Er war einer der Helden des 20. Jahrhunderts, und widersetzte sich doch hartnäckig allen Versuchen einer Glorifizierung. Andere Polarforscher vor ihm hatten schon Platz genommen in der Galerie der Unsterblichen. Roald Amundsen gebührt der Ruhm, als erster Mensch den Südpol betreten zu haben. Robert Scott verlor zwar den Wettlauf zum Pol, er erfuhr aber in der englischsprachigen Welt eine unbeschreibliche Verehrung, die im Grunde bis heute anhält. Für Ernest Shackleton blieb nur noch verhaltene Begeisterung angesichts einer Leistung, deren Dimension erst Jahrzehnte nach seinem Tode so recht ermessen wurde. Der Brite träumte davon, den antarktischen Kontinent zu Fuß zu durchqueren. Das Vorhaben scheiterte, da sein Schiff – die Endurance – schon bald im Packeis des Weddellmeers steckenblieb.
    Alle Männer kamen lebend nach Europa zurück
    Das ehrgeizige Unternehmen war nicht zu realisieren, so dass es für die Expeditionsteilnehmer bald nur noch darum ging, das eigene Leben zu retten. Mehr als zwei Jahre, von Sommer 1914 bis Herbst 1916, harrten die Männer zunächst auf dem Schiff und dann auf einer Eisscholle aus, bevor sie sich unter unglaublichen Anstrengungen durch Eiswüsten, Gebirgsmassive und schließlich in kleinen Booten durch die haushohe Dünung vor Kap Hoorn kämpften. Aber Shackleton schaffte es, jeden seiner 27 Männer wieder lebend zurück nach Europa zu bringen.
    Jetzt hat der junge britische Illustrator William Grill "Shackletons Reise" mit Buntstiften nachgezeichnet. Schon damals zählten zur Mannschaft der Endurance ein Maler und ein Fotograf, mit deren Arbeiten die Expedition später entsprechend medienwirksam vermarktet werden sollte. William Grill entdeckt in seinem Bilderbuch das Expeditionsunternehmen für uns noch einmal vollkommen neu. Vor dem papierweißen Hintergrund der Schneelandschaft entwirft Grill in Blau-, Braun- und Rottönen eine wundervoll optimistische Dokumentation ganz eigener Art. Von der 28-köpfigen Mannschaft mit ihren Wissenschaftlern, Handwerkern und Matrosen erhält jeder ein eigenes Porträt. Nicht nur Kinder lieben Hunde, deshalb werden die Silhouetten der Schlittenhunde gezeichnet und die Namen der 69 Hunde finden allesamt Erwähnung im Text.
    "Die lebhaften Hunde sollten bei der Expedition eine wichtige Rolle spielen. Jedem Besatzungsmitglied wurde mindestens ein Hund zugeteilt, um den es sich kümmern musste. Viele Männer entwickelten eine enge Bindung zu den Tieren, allen voran der stellvertretende Expeditionsleiter Frank Wild sowie Tom Crean und der Fotograf Frank Hurley."
    Eigene Kapitel für Proviant und Ausrüstung
    Man kann das Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und findet sofort Eingang in die Welt der Forschungsreisen. Ja, mitunter scheint es so, als würde man in dieses Abenteuer wie in einen großen Raum treten, in dem alles zugleich vorhanden ist. Da gibt es nicht nur die Konstruktionszeichnungen des Schiffs, sondern in präzisen Miniaturen werden das Holz, die Werkzeuge und die Zimmerleute bei der Arbeit gezeigt.
    Ein eigenes Kapitel ist dem Proviant und der Ausrüstung gewidmet. Grill zeichnet die Kleidung, die Skier oder das Fahrrad, mit dem man offenbar über das Eis radeln wollte. Als die Mannschaft dann auf dem Schiff ein halbes Jahr im Eis festsaß, musste man sich die Zeit vertreiben und zugleich bei Laune bleiben. In pointiert gemalten Szenen sehen wir, wie die Mannschaft Schach spielt, singt, oder auf dem Eis fotografiert und Rennen mit ihren Hundeschlitten veranstaltet. Selbst das Warten wird bei Grill zu einer faszinierenden Angelegenheit. Es ist diese Lust am Detail, in der die Liebe zum Material und das Interesse an den historischen Fakten zum Ausdruck kommt, zu denen auch dramatische Situationen zählen.
    "Und dann geschah es. Am 27. Oktober wurde das tapfere Schiff, das sich so weit durchgeschlagen hatte, irreparabel beschädigt. Die Endurance sank ein Stück weit ein, ihr Deck brach allmählich auseinander, und dann drang Wasser ein. Alle Besatzungsmitglieder waren todunglücklich über den Zustand des Schiffs. Es hatte sich 1500 Meilen weit durch das Eis gekämpft und erlitt nun dieses traurige Schicksal."
    Humorvoller Blick auf Details und Ziele der Expedition
    William Grill verliert sich nicht in den kleinen Momenten, immer wieder öffnet er den Blick mit Panoramen, auf denen wir etwa sehen, wie die Endurance von den Eisschollen zerquetscht wird oder die Männer mit ihrer Ausrüstung durch die Schneefelder ziehen. Das ist dann großes Kino. Aber keines, das pathetisch auftrumpft. Der Stil von Grills Illustrationen bleibt auf sympathische Weise naiv, die originelle Wahl der Buntstifte tut ein Übriges. Grill ironisiert das ganze Unternehmen, das zu seiner Zeit als eine Angelegenheit von nationalem Prestige gehandelt wurde und eine späte Fortsetzung des Kolonialismus im Mantel wissenschaftlicher Forschung darstellte. Dem setzt der erst 25 Jahre alte Brite seinen Humor entgegen, indem er sich einer raffinierten Verzerrung der Proportionen seiner Figuren bedient, so wirken die Körper der Männer riesig im Vergleich zu ihren winzigen Köpfen. Und nie vergisst Grill die roten Nasen, die wohl alle Expeditionsteilnehmer geplagt haben müssen.
    Vielleicht wirken die Bilder manchmal ein wenig zu freundlich, die unmenschlichen Strapazen der Märsche, die hunderte Meilen durch das Eis führten, oder die Furcht vor dem wilden Meer, das von den Männern mit großen Rudern durchpflügt werden musste, sprechen eine andere, furchterregende Sprache. Das zeigt sich, als Shackleton schließlich Rettung für die zurückgelassenen Männer im Basislager bringt:
    "Am 30. August 1916 kam für die Männer auf der Elefanteninsel endlich Hilfe. Die Männer liefen ans Ufer, winkten wie wild und jubelten vor Freude. Shackleton rief: 'Geht es euch allen gut?', und der stellvertretende Expeditionsleiter Frank Wild antwortete: 'Wir sind alle wohlauf, Boss!' Shackleton kehrte gerade rechtzeitig zurück, denn die Männer waren völlig ausgezehrt und entkräftet. Es war wie ein Wunder, dass es Wild gelungen war, die Hoffnung der Besatzung aufrechtzuerhalten."
    Aber Realismus ist kein Anliegen von William Grill, er will uns mit seinen durchsonnten Bildern und dem begleitenden Text für die Romantik der Expeditionsreisen gewinnen. Und das gelingt ihm, weil man sich angesichts seines Rekonstruktionseifers sogleich in die Situation der Polarforscher hineinversetzt. Zudem ist Shackleton ein sympathischer Held, der sein Leben und das seiner Männer nicht an die nationale Sache und den persönlichen Ruhm verkauft, sodass er schließlich sagen kann:
    "Ich zog das Leben dem Tod vor, für mich selbst und meine Freunde ... Ich glaube, es entspricht unserem Wesen, dass wir forschen und ins Unbekannte vordringen. Das einzig wahre Versagen bestünde darin, überhaupt nicht zu forschen."
    Literaturhinweis: William Grill: "Shackletons Reise"
    NordSüd Verlag, 78 Seiten, 19,99 €, empfohlen ab 7 Jahren