Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Shitstorms
Mehr Macht für alle, mehr Verantwortung für alle

Als Shitstorm werde gerade alles von gezielter politischer Aktion bis zur gerechtfertigten Empörung bezeichnet, beobachtet unsere Kolumnistin Marina Weisband. Doch das sei nur die "Vorstufe zu einer neuen Kommunikation, wo wir kollektiv aufhören zu schreien".

Von Marina Weisband | 22.01.2020
Ein junger Mann trägt Kapuzenpulli und ruft in ein Megaphon
Marina Weisband: Ich glaube, der Shitstorm ist eine Vorstufe zu einer neuen Kommunikation, wo wir kollektiv aufhören zu schreien (Imago Images / Jannis Große)
Shitstorms. Wir bezeichnen so alles von gezielter politischer Aktion gegen Aktivist*innen bis zur gerechtfertigten Empörung gegen wirklich schreckliche Aussagen. Immer, wenn eine Person oder ein Unternehmen viel, viel Unmut online abbekommt, heißt das Shitstorm. Dabei ist das Phänomen eigentlich älter als das Internet. Dass eine vermeintlich unschuldige Aussage plötzlich die Runde machte, eine Person neu definierte und in allgemeine Ungnade fallen ließ, haben die klassischen Massenmedien auch hinbekommen. So kam das Gerücht auf, dass der frühere ZDF-Kindermoderator Peter Lustig keine Kinder möge, das er auch posthum nie ganz losgeworden ist. Allein durch Überschriften.

Neu ist, dass viel mehr Menschen die niedrigschwellige Möglichkeit haben, ihren Unmut so loszuwerden, dass dieser die Rezipienten auch direkt und unmittelbar erreicht. Das motiviert natürlich dazu, sich an viralen Diskursen zu beteiligen, und eröffnet eine ganz eigene Dynamik. Unter anderem organisieren – nach Recherchen, beispielsweise von Journalist Rayk Anders, besonders rechtsextreme – Gruppen nun ganz gezielt Shitstorms, indem sie Beiträge einzelner Personen in eigenen Foren teilen und sich verabreden, diese gemeinsam anzugreifen, gerne mit fünfzig Accounts pro Person. Diese orchestrierten Angriffe, Dogpiling genannt, sind zu einer Waffe geworden, um andere mundtot zu machen.
Verschiebung von Macht
Auf der anderen Seite sind Shitstorms nicht immer so negativ wie ihr Ruf. Beispielsweise bricht just gerade ein Wirbelwind an Kritik über eine Architekturfirma herein, die einem Bewerber versehentlich den internen Vermerk "Bitte keine Araber" zugeschickt hatte. Es ist also ein Aufschrei gegen Rassismus, gerichtet gegen Betriebe, die normalerweise nicht zur Verantwortung gezogen werden können für solche Entscheidungen. Die Möglichkeit, als ganz normaler Mensch als Teil einer großen Gruppe plötzlich eine Stimme zu haben gegen Unternehmen mit schmutziger Arbeitsethik, sehr reiche sexistische Männer oder Institutionen, die früher von der Macht im Status Quo geschützt waren, ist sicher eine attraktive Möglichkeit.
"Cancel Chris Brown", forderten vornehmlich schwarze Frauen. Ein Boykott des Musikers, nachdem herauskam, dass er seine Freundin Rihanna geschlagen hatte. Die Bewegung hat dem Millionär in der Tat einen empfindlichen Schlag versetzt. Männer wie er sahen sich früher weniger Konsequenzen ausgesetzt. Es ist also eine gewisse Verschiebung von Macht, die da stattfindet. Menschen, die wenig zu sagen haben, können als Gruppe plötzlich andere angreifen, die vorher nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten.
Marina Weisband wurde 1987 in der Ukraine geboren und kam 1994 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Die Schwerpunkte der Autorin und Diplompsychologin sind Partizipation und Bildung. In ihrem Buch "Wir nennen es Politik" schildert sie Möglichkeiten neuer politischer Partizipation durch das Internet. Seit 2014 leitet sie bei politik-digital.de das aula-Projekt zur Demokratisierung von Schulen.
Vorstufe zu neuer Kommunikation
Mehr Macht für alle heißt aber auch mehr Verantwortung für alle. Und hier merkt man, dass längst noch nicht alle User mit dieser neu hinzugewonnenen Macht umgehen können. Und angegriffen werden nicht nur Mächtige, sondern auch Menschen, die eigentlich selbst marginalisiert sind, sich aber unglücklich geäußert haben. Und allzu oft hagelt es eben auch nicht nur Kritik, sondern Beleidigungen und gar Drohungen. Betroffen ist oft nicht nur eine Person selbst, sondern jeder, der sich mit ihr assoziiert, arbeitet oder in Frage stellt, ob die Reaktion dem Vergehen angemessen ist.
Es ist, als ob Menschen, die immer ohnmächtig die Poster und Abbilder der Mächtigen angeschrien haben, plötzlich die Möglichkeit sehen, diesen Leuten direkt gegenüber zu stehen und einfach weiter zu schreien, als würden sie nicht gehört werden. Aber kann das so bleiben? Ich glaube, der Shitstorm ist eine Vorstufe zu einer neuen Kommunikation. Wo wir kollektiv aufhören zu schreien und plötzlich feststellen, dass wir nachfragen können. Dass wir unsere Geschichten erzählen können. Dass wir auf Fehler hinweisen können, ohne den dahinterstehenden Menschen komplett und absolut zu verurteilen. Wir müssen uns an neue Macht gewöhnen. Und Verantwortung dafür tragen.