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Sibirischer Ich-Erzähler

Jewgenij Grischkowez - noch zu Sowjetzeiten sozialisiert - jedoch hineingewachsen in die neokapitalistische Computerzivilisation - ist ein ganz einzigartiges Phänomen des gegenwärtigen kulturellen Lebens in Russland.

Von Karla Hielscher | 22.04.2010
    Der 1967 im sibirischen Kemerowo geborene Dramatiker, Schauspieler, Regisseur und Musiker ist für seine Generation zur populären Kultfigur mit Fanklub und Internetforen geworden. Bekannt wurde das Multitalent zunächst mit seinen sogenannten "Monospektakeln", monologischen Einmannstücken aus stundenlangen, in alltäglicher Umgangssprache gehaltenen Sprechtiraden, mit denen er zum Liebling der jungen Theaterszene avancierte.

    Seit einigen Jahren hat Grischkowez, der auch als Sänger und Liedermacher mit bekannten Rockgruppen auftritt, sich immer mehr auch als Prosaschriftsteller einen Namen gemacht. In deutscher Übersetzung liegen zwei seiner Bücher vor: Der Roman "Das Hemd" – eine Ich-Erzählung über einen Tag im Leben eines Moskauer Yuppies - und nun gerade ist seine Povest', die lange Erzählung "Flüsse" erschienen.

    "Flüsse" ist die im lockeren Plauderton erzählte Erinnerung an eine Kindheit in Sibirien, verbunden mit der bohrenden, nachdenklichen Frage, was das eigentlich ist - Heimat. Und obwohl in einer Vorbemerkung, einer Art Herausgeberfiktion, die Person des Autors bewusst als namenlos, alterslos, ortlos beschrieben wird, also völlig unbestimmt erscheinen soll, und auch im Text keinerlei genaue geografische Namen auftauchen, ist wohl allen Lesern sofort klar: hier schreibt Jewgenij Grischkowez über seine Kinderjahre in der südsibirischen Stadt Kemerowo, die Bergarbeiterstadt am Fluss Tom, die er vor vielen Jahren wohl für immer verlassen hat.

    Grischkowez erzählt mal humorvoll, mal melancholisch von seinem geliebten Großvater; von der einzigen Begegnung mit einem Bären in einem Haferfeld, die ihm dann niemand geglaubt hat; von einem missglückten Jagdausflug mit dem Vater in die Taiga; vom fesselnden Schauspiel des Eisgangs im Fluss zu Frühjahrsbeginn, als seine Schapka-Uschanka, seine Pelzmütze, von der Brücke auf eine Eisscholle fiel und davonschwamm. Er erzählt von der morgendlichen Dunkelheit an einem frostigen Januartag, wo die Menschen gebeugt und mit hochgeschlagenem bereiften Mantelkragen an der Bushaltestelle von einem Bein auf das andere treten und durch ihre Schals und Fäustlinge atmen; wo die Fenster der Straßenbahnen von einer dicken Eisschicht mit hinein gehauchten und -gekratzten Spuren bedeckt sind. Wir lesen von den jährlichen Reisen in die Wärme nach Sotschi oder auf die Krim, wo die pfiffigen südlichen Kinder beeindruckt und entsetzt die Augen aufrissen, wenn sie voller Ehrfurcht mitkriegten, dass ihre Spielkameraden aus Sibirien kamen; von der Transsibirischen Eisenbahn, wo man auf den endlosen eintönigen Fahrten nicht die grenzenlosen Weiten spürt, sondern bloß die Zeitzonen.

    Der Grundtenor bei all diesen nostalgischen Erinnerungen ist die Entmythisierung, die Entromantisierung Sibiriens. Denn auch in Sibirien ist der Ich-Erzähler in einer Stadt groß geworden, in einer Plattenbausiedlung, und kennt die Taiga nicht; und als Städter empfindet er bei Ausflügen "gönnerhaftes Mitleid" mit den Dorfbewohnern. Er weiß nichts von sibirischer Exotik, für ihn ist alles normal, und er spottet über die Ausländer, die in dicken wattierten Jacken mit Bewegungen wie amerikanische Astronauten bei der Mondlandung aus dem Flugzeug steigen und staunen, dass es hier ein geregeltes Leben gibt und sie von schönen, eleganten Frauen mit supergrellem Make-up und tadellosem Englisch empfangen werden.

    Der Ich-Erzähler in Grischkowez' Text erinnert sich mit vielen anschaulichen Details an seine Kinderkrankheiten und Kinderzeichnungen, an die Abschlussprüfungen in der Schule, daran, wie er das erste Mal Wodka trank, an seine Angst vor Blutegeln und vor Milizionären. Die Frage nach der Besonderheit und Einzigartigkeit, nach dem Selbstverständnis der Sibirier, ihrem Heimatgefühl, fließt schließlich in die Erkenntnis, dass es das intensive, vollkommen ungeschützte Fühlen ist, wie man es nur in der Kindheit erlebt, was Heimat ausmacht.

    Die Fähigkeit des Autors, für diese Gefühle und Empfindungen, die jeder in der einen oder Weise kennt, eine unpathetische und überzeugende Sprache gefunden zu haben, ist wohl auch der Grund für die große Popularität Jewgenij Grischkowez' in Russland. Und es ist natürlich kein Zufall, dass es im Internet ein Audiobook zu dem Buch "Flüsse" gibt, in dem unzählige Leser sich selbst an die Stelle des Autors setzen, ihre eigene persönliche Geschichte erzählen und immer wieder betonen, dass sie das Empfinden haben, der Autor sei genau so einer wie sie, er habe "auch über mich geschrieben".

    Grischkowez' Stil, den er so ähnlich schon in seinen Einmannstücken entwickelt hat, imitiert eine sehr spontane mündliche Rede, mit all den üblichen Wiederholungen, Pausen und zögernden Stockungen, mit viel emotionalem Ausdruck, der durch Satzzeichen wie Pünktchen oder Großbuchstaben signalisiert wird. Seine eher aufs Hören angelegte Prosa ist – wie die russische Kritik betont – ein deutliches Symptom für die Expansion der mündlichen auf Kosten der schriftlichen Kommunikation, wie sie sich beispielsweise im endlosen Handygerede oder der Sprache der E-Mails ausdrückt.

    In der Sprache von Grischkowez mit ihrer bewusst kunstlosen Mündlichkeit und Einfachheit fehlen komplexe Bilder und Metaphern ebenso wie mythische oder literarische Anspielungen. Diese leicht zugängliche, gefühlsgeladene, jedoch in ihrer Ehrlichkeit und melancholisch selbstironischen Grundhaltung nie kitschige oder oberflächliche Prosa erfüllt offenbar ein weit verbreitetes Bedürfnis des russischen Lesepublikums, das von der postmodernen Literatur mit ihrer Kälte und Spielerei genug hat: Das Bedürfnis nach Authentizität, emotionaler Einfühlung und menschlicher Wärme.
    Jewgenij Grischkowez: "Flüsse". Erzählung.
    Aus dem Russischen von Beate Rausch.
    Zürich (Ammann Verlag & Co.), 2010. 171 Seiten, 18,95 Euro.