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Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre“
Als das Reisen noch geholfen hat

Sibylle Berg hat neue Weltbetrachtungen vorgelegt. In ihrem Buch „Wunderbare Jahre“ reist sie einmal um die ganze Welt und liest den Daheimgebliebenen die Leviten. Das macht sie gewohnt zynisch, prägnant und unwiderstehlich.

Von Shirin Sojitrawalla | 12.10.2016
    Die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg
    Die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Als das Reisen noch geholfen hat, wimmelte die Welt vor unentdeckten Orten. Man fuhr hierhin und dorthin, die Gefahren schienen sich in überschaubaren Grenzen zu halten, die Angst vor Malaria und Kakerlaken überwog die vor Untergang und Terror jedenfalls bei weitem. Ach, das war schön. Das findet auch Sibylle Berg, die immer gern auf Achse war.
    Ihr neues Buch "Wunderbare Jahre" ist auch ein Abgesang auf ihr einstiges "unbeschwert in der Welt unterwegs sein. Schon in der Einleitung macht sie klar, was verloren gegangen ist: "Dieses niedliche, immer zugige London mit freundlichen Einheimischen gibt es nicht mehr. Gut, da muss man ja nicht hingehen, dann geht man eben woanders hin. Italien ist immer noch reizend; wenn man die 40 Prozent jugendlicher Arbeitsloser wegdenkt, kann man noch ans Mittelmeer, Sie wissen schon. Die Boat-People. Es muss ja auch keiner mehr verreisen. Es gibt auf 3Sat und Arte täglich diese wunderschönen Sendungen, in der die Welt in Ordnung ist."
    Die Königin der Kolumne ist zurück
    Da ist er schon: der bewährte Zynismus der welterfahrenen Sibylle Berg, die den Daheimgebliebenen die Leviten liest. Einmal um die ganze Welt ist sie gereist und schildert ihre Eindrücke in kurzen Geschichten, die kürzeste rund fünf, die längste rund 20 Seiten lang. Persönliche Erlebnisse, die ein Ich und wie es die Welt sieht, spiegeln. Dabei erweist sich Sibylle Berg einmal mehr als Königin der Kolumne, der triftigen Kurzform, die das Leben auf den Punkt bringt. Das präzise Beobachten ihres Gegenstandes zeichnet auch ihre Reisenotizen aus.
    Keiner Chronologie folgend, führt sie uns nach Bangkok und in die Schweiz, zu den Filmfestspielen nach Cannes und zum Meistersingen nach Bayreuth, lotst uns in den Orient-Express und auf ein Containerschiff, zeigt uns ein Vegetariererdorf und ein Altenheim für Holocaustüberlebende in Israel sowie ein Hundeleben in Bangladesch. Wie schon in ihrem Buch "Die Fahrt" zeichnen sich auch die neuen Geschichten durch ihren realitätsgesättigten Witz aus.
    Ihre Reisen spinnen sich dabei von 1994 bis fast ins Jahr 2015 und verköcheln ironische Beobachtungen mit gesellschaftspsychologisch gemeinen Sätzen, die ins Schwarze treffen. Dabei kommt sie gern vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Jedermann zum Ich:
    Bodenlos ehrlich und nonchalant arrogant
    "Es gibt einen Konsens mittelständischer Bildungsbürgerträume, zu dem zählen der Besuch der Chinesischen Mauer, einmal Nibelungen in Bayreuth, die Liebe zu Frankreich und eine Reise im Orient-Express. Danach kann man sterben. Mein Intellekt funkelt wie der Abendstern am dunkelblauen Himmel über Thailand, und ich warte in der Lounge des Eastern and Oriental Express, die mich an die VIP-Lounge des Flughafens Bombay erinnert, der mich an ein heruntergekommenes Bahnrestaurant in Rumänien erinnert hat. Die mir stets unverständlichen Klimaanlagen dimmen die Raumtemperatur auf Schweiz im Februar. Der Mensch könnte transpirieren, und das hasst er."
    Bodenlos ehrlich und nonchalant arrogant reist das begnadete Lästermaul Sibylle Berg durch die Lande und vergrößert mit ihren Geschichten, die Lust auf der Welt zu sein ihrer Leser. Auf jeden ihrer Reiseberichte folgt ein Postskriptum, das den heutigen Zustand der Welt beziehungsweise der jeweiligen Destination in den Blick nimmt. Damit holt die Autorin sich und ihre Geschichten auf den Boden der Tatsachen: Die Zahl von Anschlägen im Land finden sich dort ebenso wie Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes und persönliche sowie sachdienliche Einschätzungen über die Gefährdungen der Gegenwart.
    Illustrationen von Isabel Kreitz begleiten das Buch
    Eine weitere Besonderheit des schmalen Buches bilden die Illustrationen von Isabel Kreitz, die den Band wie Vignetten zieren. Es sind Bilder, die sich auskennen in der Welt. Dabei illustrieren sie die Geschichten nicht bloß schnöde, sondern spinnen sie zart und schräg weiter. Eine Reise ins abergläubische Indien verziert sie etwa mit unterschiedlichen Arten in die Zukunft zu blicken: Von der Kaffeesatzlesung übers Glückskeksversprechen bis hin zum Glaskugelblick. Während Sibylle Berg die Welt gewissermaßen entzaubert, verhext Kreitz sie auf hübsch vertrackte Weise.
    Dabei schwingt in all den hier versammelten Geschichten eine Wehmut mit, die sich aus dem vermeintlich himmlischen Damals speist. Natürlich ist Sibylle Berg nicht so doof anzunehmen, dass früher alles besser war, doch sie weiß eben auch, dass unsere Zukunft mit unseren Erinnerungen nicht Schritt halten wird können. Nicht nur das Reisen war damals anders, auch wir waren längst nicht die, die wir heute sind:
    "Die Schönheit macht nichts mehr mit mir, das Meer ist nur Wasser. Die Erinnerung, das einzig Lebendige, Trauer um die Zeit, in der alles Aufregung war."
    Schnörkellos, kurz und hart erzählt Berg in ihren wunderbaren Berichten auch von den Ausnüchterungstendenzen des Älterwerdens und davon, wie sich das Leben mit den Jahren abnutzt. Kurz: Bleiben Sie zu Hause und lesen Sie Sibylle Berg!
    Sibylle Berg: "Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten"
    Carl Hanser Verlag, München 2016, 185 Seiten, 16 Euro