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"Sie ist so stark wie nie zuvor"

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Karl-Rudolf Korte einen erweiterten Handlungsspielraum in der neuen Regierung. Dass der Koalitionsvertrag weniger im Detail ausgearbeitet sei, zeige, dass die beiden Partner mehr Vertrauen zueinander hätten.

Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: Gestern erst hat sich der 17. Deutsche Bundestag konstituiert und heute musste er direkt einer gewichtigen Aufgabe nach Artikel 63 des Grundgesetzes nachkommen – Überschrift: "Wahl des Bundeskanzlers". Die Parlamentarier folgten dem vorgesehenen Prozedere. Vor einer guten Stunde ist Angela Merkel also zum zweiten Mal zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden.
    Mitgehört hat Professor Karl Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg. Guten Tag, Herr Professor Korte.

    Karl Rudolf Korte: Hallo, Frau Engels.

    Engels: Wir haben es gerade gehört: Die Abstimmung selbst verlief glatt, aber Bundeskanzlerin Merkel konnte sich nicht auf alle Stimmen aus Union und FDP stützen. Bedeutet das, dass die Kritik an Angela Merkel im eigenen Lager doch größer ist als gedacht?

    Korte: Nein. Prozentual ist die Abweichung nicht höher als bei anderen Kanzlerwahlen. Man sollte das jetzt in diesem Punkt nicht überbewerten. Es gab eine Ausnahme bei der Schröder-Wahl 98. Da hat er mehr Stimmen bekommen als aus dem eigenen Lager. Ansonsten: Kiesinger in der Großen Koalition hat prozentual dramatisch viel mehr Abweichungen hinnehmen müssen, andere Kanzler haben weniger. Sie liegt eigentlich in einem guten Mittelfeld. Nach den vielen Personalentscheidungen der letzten Tage vor allen Dingen ist das gar nicht anders erwartbar, dass da nicht jeder mitzieht.

    Engels: Der Koalitionsvertrag, um einmal aufs Inhaltliche zu kommen, er ist ja an vielen Stellen eher wage. Alles steht ohnehin unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit. Gibt das einer Bundeskanzlerin Angela Merkel nun im neuen Bündnis mehr Gestaltungsmacht als damals in der Großen Koalition, oder eher weniger?

    Korte: Mehr. Sie hat damit ihre Korridore zum Handeln erweitert, weil vieles wird nicht nur in Kommissionen verlagert – das kann sie ja auch mitbestimmen, wir die Kommissionen leitet -, sondern sie wird auch in ein zeitliches Korsett eingespannt. Sie kann also von der Zeit her die Dramaturgie von Verhandlungen beeinflussen, und auch was die Prüfungsberichte anbelangt, das hat sie in der Hand. Ich sehe einen Vorteil darin, jetzt sich nicht bei jedem Detail festzulegen, und das knüpft auch an das an, was Lammert gestern sagte. Der Bundestag ist Gesetzgeber und nicht Gesetzentgegennehmer. Auch wenn hier Parlamentarier an der Ausarbeitung des Koalitionsvertrages zu einem hohen Prozentsatz beteiligt waren, trotzdem muss es ja Aufgabe des Bundestages sein und man kann nicht für vier Jahre ein absolutes Detailprogramm ausarbeiten. Das war beim letzten Mal notwendig, weil ja überhaupt kein Vertrauen zwischen den Partnern bestand. Diese Koalition traut sich zunächst mal und kennt sich, aber wird natürlich nicht im Detail jetzt alles vorformulieren, sondern sich auch Spielraum lassen.

    Engels: Die Opposition hat direkt moniert, dass keine Regierungserklärung am Anfang dieser zweiten Legislaturperiode steht. Zunächst will die Bundeskanzlerin ins Ausland fahren. Ist das denn ungewöhnlich, dass der Kanzler erst im Ausland ist, bevor er vor dem eigenen Hause Stellung nimmt?

    Korte: Nein, das ist nicht ungewöhnlich. Protokollarisch fliegt sie als Erstes nach Frankreich. Das ist ein Zeichen, was viele Kanzler gesetzt haben, ein symbolisches Zeichen, jetzt zufällig zeitlich auch in Zusammenhang mit dem EU-Gipfel. Die große Regierungserklärung, die große Startrede des Kanzlers, die kommt ja erst in ein paar Wochen. Die wird ausgearbeitet nicht nur entlang des Koalitionsvertrages, sondern vielleicht auch mit eigenen Ideen, die so ein bisschen die Grundphilosophie der nächsten Jahre ausmachen könnten. Ungewöhnlich fand ich eher in den letzten Tagen das Auftreten vor der Presse, dass man, bevor man in die Parteigremien gegangen ist, den Koalitionsvertrag öffentlich der Presse vorgestellt hat. Das war sehr ungewöhnlich und vielleicht hängt auch die eine oder andere abweichende Stimme damit zusammen.

    Engels: Nun muss ja Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag beachten; es muss vor allen Dingen der Bundesrat wieder genauer in den Blick genommen werden, denn die Mehrheit ist klein, die schwarz-gelbe Mehrheit dort. Haben damit die Ministerpräsidenten der Union mehr Einflussmöglichkeiten auf die Bundespolitik, so wie wir das vor der Großen Koalition kannten?

    Korte: Ja, eindeutig. Wir haben nicht nur den Mechanismus Regierung und Opposition wieder in Kraft gesetzt - das war ja bei der Großen Koalition weitgehend ausgehebelt durch eine systematisch geschwächte Opposition -, sondern wir haben auch den Konflikt zwischen Bundestag und Bundesrat wieder, zwischen der Regierung, die alle schwarz-gelb sind, aber nicht das Gleiche inhaltlich wollen, in der großen Linie sicherlich, aber wenn es darum geht, dass der Bund finanzpolitisch Dinge verspricht, ausgeben will, die die Länder am Ende zu tragen haben, dann werden die Länder sich melden. Also es kommt nicht auf die Größe des Landes an, sondern auf das Stimmenverhältnis im Bundesrat. Zwei Stimmen Mehrheit bedeutet, dass bei jeder wichtigen Entscheidung, bei der der Bundesrat gebraucht wird, die Bundesregierung die Zustimmung aller schwarz-gelben Regierungen im Land in den Bundesländern braucht, und das wird die Macht der einzelnen Ministerpräsidenten deutlich steigern.

    Engels: Erleben wir deshalb auch in den kommenden Jahren einen stärkeren Streit innerhalb der CDU? Der war ja die letzten Jahre relativ selten zu beobachten. Nun könnte man den Antagonismus CDU-Ministerpräsidentenmacht gegen Bundesregierung innerhalb der Union wieder stärker erleben. Erwarten Sie das?

    Korte: Ja, eindeutig, denn die Konfliktlage war doch in der Wettbewerbssituation der Großen Koalition überlagert durch dieses Sonderformat des Regierens. Das wird jetzt wieder kommen und man sieht noch mal mit Blick auf die Geschichte – heute ist ja ein historischer Tag für Regierungsbildungen. Kanzleramt nicht verloren wegen irgendwelcher öffentlichen Ereignisse oder verloren wegen der Oppositionsstärke, sondern nur, wenn sie die eigenen Leute in der eigenen Mannschaft, also die eigene Partei nicht mehr hinter sich haben. Das ist das Hauptfeld. Die Hauptintegrationsleistung der Kanzlerin muss innerhalb der CDU/CSU laufen, und da hat sie es in der Tat mit Ministerpräsidenten zu tun, die wiederum vor Wahlen stehen und die ihre Mehrheit auch behalten wollen.

    Engels: Fazit: Angela Merkel hat ihre Wunschkoalition, aber ein schwierigeres Regieren vor sich?

    Korte: Sie ist stärker als vorher. Sie ist so stark wie nie zuvor in ihrer Kanzlerschaft. Aber man kann nicht daraus ableiten, dass das Regieren jetzt ein leichter Weg für sie sein wird. Nein, das sehe ich nicht so. Das wird schwierig werden, aber ich glaube nicht, dass sie von ihrer Art des Stilmusters, taktisch, zögerlich, moderierend, präsidial, etwas abweichen muss. Das kann sie auch als Stil in die neue Koalition einbringen und sie wird auch die Widerstände und Widersprüche innerhalb des eigenen Lagers nutzen. Nicht jeder Ministerpräsident ist in der gleichen Grundrichtung auf dem Weg wie ein anderer Ministerpräsident von der gleichen Parteifarbe. Auch diese Widersprüche innerhalb der eigenen Partei wird sie nutzen, um an der Spitze zu bleiben.

    Engels: Professor Karl Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg. Vielen Dank für das Gespräch.

    Korte: Bitte schön!