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"Sie können niemanden zwingen, an der Koordination teilzunehmen"

Die Vereinten Nationen brauchen ein uneingeschränktes Mandat, um bei Katastrophen besser koordinieren zu können, sagt Gerold Reichenbach, Berichterstatter für den Katastrophenschutz im Innenausschuss des Bundetags (SPD). Zugleich hält er ein solches Mandat aufgrund von nationalen Interessen auf absehbare Zeit für nicht durchsetzbar.

Gerold Reichenbach im Gespräch mit Mario Dobovisek | 23.01.2010
    Mario Dobovisek: Und am Telefon begrüße ich den SPD-Bundestagsabgeordneten Gerold Reichenbach, im Innenausschuss ist er Berichterstatter für den Katastrophenschutz und war selbst als Helfer und Koordinator für Technisches Hilfswerk und Vereinte Nationen im Einsatz, unter anderem nach dem schweren Erdbeben in der Türkei vor zehn Jahren. Guten Morgen, Herr Reichenbach!

    Gerold Reichenbach: Schönen guten Morgen!

    Dobovisek: Ja, die erste Phase ist vorüber, die Phase des Suchens und des Rettens aus den Trümmern. Wie lautet Ihr erstes Fazit?

    Reichenbach: Also ich bin immer etwas vorsichtig mit der Beurteilung von Lagen (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll), weil ich das selbst erlebt habe, dass die Sicht von vor Ort und von dem, was man dann zu Hause glaubt, besser wissen zu können, sehr unterschiedlich ist. Das ist natürlich eine ganz besondere Situation in Haiti – das, was ich wahrgenommen habe, auch über meine Kontakte, ist, dass die UN durchaus ihre Aufgabe wahrnimmt, dass auch auf der europäischen Ebene die Mechanismen, die wir etabliert haben, also dieses Informationszentrum, durchaus funktionieren. Was immer in solchen Lagen die Schwierigkeit ist, ist, dass wir Koordinatoren haben, die auf freiwilliger Basis koordinieren können. Das heißt, Sie können niemanden zwingen, an der Koordination teilzunehmen. Und das ist in all diesen Lagen nach meiner Erfahrung immer das Problem, dass natürlich auch vieles bilateral läuft und auch vieles dann unkoordiniert läuft, weil man sich nicht koordinieren lassen will.

    Dobovisek: Brauchen die Vereinten Nationen dafür ein uneingeschränktes Mandat, um eben diese Freiwilligkeit auszuhebeln?

    Reichenbach: Also wenn Sie mich fragen, ja, aber ich glaube nicht, dass das auf absehbare Zeit politisch durchsetzbar sein wird, weil da natürlich immer wieder nationale Interessen auch bei solchen Hilfsmaßnahmen sich in den Vordergrund spielen. Ich hab das selbst erlebt, dass es auch bei bestimmten Ländern einfach schwierig ist, sie in die Koordination einzubinden, weil sie – ich formuliere es mal flapsig – es gewohnt sind, ihren eigenen Stiefel zu machen.

    Dobovisek: Aber statt die Koordinierung beherzt zu übernehmen, standen zunächst alle Beteiligten wie der Elefant vor der Maus, sagen wir mal, niemand hat sich bewegt, bis US-Soldaten die Kontrolle über den Flughafen übernahmen. Ist das ein Armutszeugnis für die Vereinten Nationen, Herr Reichenbach?

    Reichenbach: Nein, das ist, glaube ich, eher eine Frage des Equipments. Einen Flughafen kontrollieren kann ich nur, wenn ich die technische Ausstattung dafür habe. Das ist ohnehin immer ein Problem bei der Debatte Zivil oder Militär. Es gibt bestimmte Ausstattungen, die sind einfach nur beim Militär vorhanden. Denken Sie an Transportkapazitäten, Hubschrauber, große Transportflugzeuge oder auch so etwas wie einen mobilen Feldflugplatz, also einen mobilen Tower. Es gibt nach meinem Kenntnisstand, außer vielleicht bei ganz wenigen privaten großen Airlines, Einrichtungen, mit denen man einen Flughafen betreiben könnte. Und an der Stelle kann man, glaube ich, die Vereinten Nationen nicht dafür verantwortlich machen. Es gibt einen Mechanismus, der ist etabliert, was die Koordinierung betrifft, dass die UN möglichst früh und möglichst schnell dann einen Vertreter von UN-OCHA, das ist das Büro für die Koordinierung der humanitären Hilfe in Genf, vor Ort schicken, da gibt es auch weltweit ein trainiertes Team. Das ist dann aber oft die Frage natürlich auch der Verkehrsmöglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen, und in manchen Fällen natürlich auch die Frage des betroffenen Landes, ob das bereit ist, Hilfe anzunehmen und Hilfe anzufordern. Es gibt eine ganze Reihe Fälle in der Vergangenheit, wo es sehr lang gedauert hat, bis Mechanismen der Koordinierung für die internationalen Hilfsorganisationen etabliert werden konnten, weil das betroffene Land zunächst nicht reagiert hat oder nicht reagieren wollte.

    Dobovisek: Das ist genau der Punkt. Der Katastrophenschutz von Vereinten Nationen und Europäischer Union, die sind ja so konzipiert, dass es zunächst an Zivilschutzstrukturen oder die Regierungen andockt im jeweiligen Land, doch was, wenn die lokale Regierung zunächst nicht arbeitsfähig ist, wie es zum Beispiel in Haiti der Fall war?

    Reichenbach: Also zunächst mal gilt auch gegenüber den Vereinten Nationen der Grundsatz der Souveränität. Ich glaube, das ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, den man zunächst mal akzeptieren muss. Etwas anderes ist es – und diese Diskussion gibt es in den Vereinten Nationen seit einigen Jahren beim Thema Failed States, also dort, wo Sie gar keine handlungsfähige Regierung mehr haben. Das kann entweder infolge der Katastrophe sein, oder denken Sie an bestimmte Länder in Afrika, wo es entweder kaum noch Regierung gibt oder Regierungen gibt, die überhaupt keine Kontrolle mehr über das Territorium haben – ich nenne mal das Beispiel Somalia. Da geht man bei den Vereinten Nationen dazu über, zu sagen, dann können wir reagieren, dann müssen wir reagieren. Am Ende ist dies aber nicht nur eine diplomatische Frage, sondern es ist am Ende dann auch immer eine Frage der physischen Möglichkeiten, also der Transportmöglichkeiten und in bestimmten Regionen auch die Frage der Sicherheit.

    Dobovisek: Müssen wir die Vereinten Nationen also für solche ja Katastrophen besser ausrüsten, besser ausstatten mit Personal, mit Gerät, das ständig verfügbar ist?

    Reichenbach: Ich glaube, es ist nicht das Problem die Verfügbarkeit des Gerätes. Mannschaften, Teams, das hat man auch jetzt in Haiti gesehen, ich hab das selbst in der Türkei erlebt, gibt es weltweit genug. Es gibt auch immer mehr Nationen, die bereit sind, in diesem internationalen Hilfsprozess sich mit einzubeziehen, auch sich zu koordinieren oder koordinieren zu lassen. Ich nehme mal nur das Beispiel Europäische Union, die ganzen, all die Staaten, die bei der Erweiterung der Union hinzugekommen sind, leisten da ihren Beitrag, nehmen auch an innereuropäischen Übungen teil. Die Frage ist eher die der Koordination, die der zuverlässigen Koordination und – das haben Sie angesprochen – der Möglichkeiten der Vereinten Nationen, auch schnell zu reagieren. Und dazu können auch nationale Regierungen Hilfe leisten. Also es gibt diesen unsinnigen Vorschlag, jetzt Richtung Afghanistan vom Entwicklungshilfeminister, wir finanzieren nur noch nationale Projekte oder finanzieren sie Gros, wenn sie mit den Militärs kooperieren. Das halte ich für ziemlichen Unsinn. Aber sinnvoll wäre es zum Beispiel, wenn die Bundesrepublik Deutschland sagen würde, wir finanzieren bei privaten Hilfsorganisationen, beim Technischen Hilfswerk oder bei anderen staatlichen Einrichtungen wie der GTZ, oder auch dann, wenn das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe tätig wird, ist das selbstverständlich, aber bei privaten Hilfsorganisationen finanzieren wir nur Gros, wenn sie bereit sind, sich in die internationalen Koordinierungsmechanismen auch einzuklinken und sich dort koordinieren zu lassen.

    Dobovisek: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerold Reichenbach. Als Helfer und Koordinator für THW und Vereinte Nationen war er bereits mehrfach nach Katastrophen im Auslandseinsatz. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen, Herr Reichenbach!

    Reichenbach: Danke schön, auf Wiederhören!