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"Sie sollten unbequeme Fragen stellen"

Der Autor Tony Judt würdigt in seiner Essaysammlung "Das vergessene 20. Jahrhundert" große politische Denker. Gleichermaßen rechnet er mit Menschen ab, die nur den Intellektuellen mimten, wie zum Beispiel der "Gartenzwerg" Tony Blair.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 09.06.2010
    Wer über das "vergessene 20. Jahrhundert" schreibt, kann keinen größeren Wunsch haben, als die epochalen Prägungen, die kreativen Leistungen und die Verwerfungen (die destruktiven Kräfte) wieder in Erinnerung zu rufen und daraus Lehren für das neue Jahrhundert zu ziehen.

    Tony Judt tut dies zumeist mit argumentativer und visionärer Kraft, analytischer Schärfe und Angriffslust, mit Zorn auf diejenigen, die sich nicht in die Politik einmischen, wo ihr Engagement dringend gefragt wäre. Besonders deutlich wird dies in seinem Aufsatz "Das Schweigen der Lämmer oder Der merkwürdige Tod des liberalen Amerika”.

    "Intellektuelle sollten nicht selbstgefällige Theorien über den Krieg formulieren, ihn gar rechtfertigen und propagieren. Sie sollten unbequeme Fragen stellen - vor allem sich selbst.

    Damals - sobald das ganze Ausmaß der desaströsen Innen- und Außenpolitik Präsident Bushs erkennbar wurde - gehörte Judt (der seit 1995 Europäische Studien in New York lehrt) zur Avantgarde, die zum Widerspruch und zur Empörung aufrief und den Kollaps des amerikanischen Liberalismus zu verhindern versuchte.

    Etwas verwundert stellt man fest, dass man in manchen Fällen nicht wirklich emotional in die Zeitströmungen hineingezogen wird. Man bleibt zu sehr in Distanz, weil der Autor auch über weite Strecken auf Distanz bleibt. Der Grund? Es handelt sich fast ausnahmslos um Rezensionen. Zwar kann Judt immer wieder, zum Beispiel im Fall Louis Althussers, die Buchbesprechung mit einem persönlichen Erleben, dem Besuch von Althusser-Vorlesungen in Paris in den 1960er-Jahren, verknüpfen, vorherrschend aber ist der Ton eines kritischen Rezensenten, der, in diesem Text, ganz vom Ressentiment gegenüber einem "eigenwilligen 'Marxismus'” beherrscht wird.

    "Er zerlegte Marx, nahm hier eine Passage, dort eine Textstelle, die ihm gerade in seine Interpretation passte, und konstruierte daraus die denkbar wunderlichste und unhistorischste Version der marxistischen Philosophie.”

    Althussers Versuch, aus dem Marxismus eine starke Theorie, frei von menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten zu machen, sie abzulösen von der düsteren Geschichte des Stalinismus und Marx' revolutionären Prognosen, findet, was man durchaus akzeptieren kann, nicht Judts Wohlwollen. Althussers Theorie aber als "abstruse politische Apologetik” und ihn als "drittklassigen Philosophen” abzukanzeln, greift doch viel zu kurz. Viel ärgerlicher noch ist der Mangel an Feingefühl für die tragische Geschichte Althussers, der seine Frau Hélène ermordete. Eine von dramatischer und destruktiver Selbstaufspaltung geprägte Beziehung lässt sich nicht auf das Klischee einer "bizarren Persönlichkeit” und "absurde Fantasien” reduzieren.

    Frei von solcher Selbstbegrenzung und Empathielosigkeit sind seine Porträts Eric Hobsbawms (des "letzten romantischen Kommunisten”), Arthur Koestlers (des "Intellektuellen par excellence”), Manès Sperbers, Primo Levis oder Albert Camus'. Anlass des Porträts von Camus war die Rezension des postum erschienenen unvollendet gebliebenen Romans "Der erste Mensch".

    "Neben der Suche nach dem Vater, dem Verhältnis zur Mutter und den Schulerfahrungen des jungen Protagonisten geht es in diesem Roman um drei Themen, die Camus schon in frühen Essays und Erzählungen behandelt: Sinnlichkeit, Armut und die besondere Rolle, die Algerien für ihn spielt.”

    Judt kämpft oft mit dem Einstieg in die Porträts, die zuweilen durch negative Charakterisierungen blockiert wirken und die durch die enge Pforte eines zu besprechenden Buches hindurch entworfen werden müssen. Dann aber findet man sich, zum Beispiel im Camus-Essay, wieder mitten im Spannungsfeld zwischen der Ablehnung durch die antihumanistische Mode unter Intellektuellen und dem in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts neu erwachten Bedürfnis nach einem couragierten moralischen Standpunkt, einer moralischen Autorität, einem "würdigen Zeugen eines unwürdigen Zeitalters”.

    Würdigen Zeugen wird in diesem Buch der ihnen angemessene Raum gegeben, auch wenn Judt immer wieder der Neigung verfällt, sie als problematisch, in manchen Fällen sogar als gefährlich - zum Beispiel Hannah Arendt auch als "diffus und verworren” - darzustellen.

    Einen ganz entscheidenden Impuls für sein Schreiben bezieht Tony Judt aus dem Wunsch, kulturelle, gesellschaftliche und soziale Deformationen, den Verlust an moralischer und politischer Größe offenzulegen. Scharf attackiert er zum Beispiel den "Gartenzwerg” Tony Blair, seine Arroganz und Unglaubwürdigkeit.

    "Es ist vor allem das Unechte an Blair und seiner Politik, das den meisten Menschen missfällt ... Er ist immer zutiefst überzeugt, aber man weiß nicht so recht, wovon. ... Die Engländer nehmen den Verfall ihres Landes gleichmütig hin.”

    Wie differenziert und geschichtlich fundiert Tony Judts Angriffslust sein kann, zeigt auf exemplarische Weise sein Aufsatz über Israels Sechstagekrieg von 1967 unter dem Titel "Ein düsterer Sieg”. Es ist ein Aufsatz, der Pflichtlektüre jedes deutschen Politikers sein müsste, um wenigstens einen kleinen Spielraum für die gelähmte deutsche Außenpolitik gegenüber Israel zu eröffnen. Die mangelnde Wahrnehmung der Araber war, so Judt, die "Ursünde der zionistischen Vorväter”. Hinzu kam, dass die israelischen Generäle durch den Blitzkrieg den "unerledigten Rest des Unabhängigkeitskrieges von 1948" erledigen wollten. Auf diesem Hintergrund war es nur eine Frage der Zeit, dass beidseitige Hasspropaganda, Vernichtungsideologien, mediale Verzerrungen und Missverständnisse zum Krieg führten.

    "Ein historischer Sieg kann ebenso tragisch sein wie eine historische Niederlage: Das Land ist in den letzten 40 Jahren unsicherer als zu irgendeiner anderen Zeit. ... Das Risiko für Israel besteht heute darin, dass der Zionismus für viele seiner vehementen Anhänger eine Ideologie und Rhetorik von Selbstherrlichkeit und Exklusivität geworden ist.”

    Alle in diesem Buch versammelten, zwischen 1994 und 2005 entstandenen Essays sind thematisch eng, über die großen Themen zu Ende des 20. Jahrhunderts, miteinander verknüpft. Tony Judt versucht den Ort der Geschichte in einer Zeit des Vergessens zu bestimmen und dabei immer wieder die Verantwortung des Intellektuellen in den Vordergrund zu stellen. Warum nur lassen wir, so seine Frage, die zentralen Konflikte und Dogmen, die Ideale und Ängste des 20. Jahrhunderts bereits im Dunkel des Vergessens versinken, ohne wirklich Lehren daraus gezogen zu haben? Warum gedenken wir nur spezieller Aspekte der Vergangenheit, ohne in ihr noch eine allgemein gültige Form erkennen zu können?

    "Wenn wir die Welt verstehen wollen, die wir erst sei kurzem hinter uns gelassen haben, müssen wir uns an die Macht der Ideen erinnern ...”

    Tony Judt: "Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen." Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010, 475 Seiten, 27,90 Euro.