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"Sie waren überzeugt von dem, was sie taten"

Er musste mit ansehen, wie sein Fahrer erschossen wurde und lebte selbst täglich mit der Angst zu sterben. Seine Erlebnisse als Entführungsopfer der Taliban in Afghanistan hat Daniele Mastrogiacomo in dem Buch "Tage der Angst" verarbeitet.

Daniele Mastrogiacomo im Gespräch mit Christoph Heinemann | 29.10.2010
    Christoph Heinemann: Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, hat vor einer Verteufelung der Taliban im Afghanistan-Konflikt gewarnt. Die Aufständischen müssten Teil einer Lösung am Hindukusch sein, das sagte Ischinger während eines Symposions des Bundesnachrichtendienstes in Berlin. Leichter gefordert als beherzigt, vor allem wenn man sich die Schilderungen unseres Gesprächspartners jetzt anhört. Daniele Mastrogiacomo ist Auslandsreporter der italienischen Tageszeitung "La Republica". Er ist in Pakistan geboren, kennt sich in der Region sehr gut aus. Am 5. März 2007 wurde er, Mastrogiacomo, in der südafghanischen Provinz Helmand gemeinsam mit seinem Dolmetscher Adschmal Nakschbandi und seinem Fahrer Sajed Agha von den Taliban entführt. Die beiden Afghanen wurden von den Taliban getötet. Daniele Mastrogiacomo hat seine Erfahrungen in einem Buch geschildert, das inzwischen in deutscher Sprache vorliegt. Der Titel: "Tage der Angst". Ich habe ihn vor dieser Sendung zunächst gefragt, wie er während seiner Gefangenschaft von den Taliban behandelt wurde.

    Daniele Mastrogiacomo: Unterschiedlich. Einerseits waren sie aufmerksam. Wir bekamen dasselbe zu essen wie sie. Wir hatten einen eigenen Ort zum Schlafen. Sie behandelten uns wie einen von ihnen. Und plötzlich Augenblicke extremer Gewalt. Vielleicht erhielten sie entsprechende Befehle. Dieser Wechsel von Normalität zu Gewalt hat mich sehr getroffen. Wir mussten körperlich viel aushalten: Sie schlugen uns, behandelten uns extrem hart, Hände und Füße waren immer angekettet. Zum Glück haben sie uns während dieser zwei Wochen nicht in irgendein Loch gesperrt. Wir waren ständig mit dem Wagen unterwegs, ständige Ortswechsel. Dadurch war diese Gefangenschaft etwas weniger hart.

    Heinemann: Der schwierigste Augenblick in dieser Zeit war die Ermordung Ihres Fahrers Sajed …

    Mastrogiacomo: Das war, wie Sie sich vorstellen können, tragisch, äußerst schwierig und hart, schockierend. Wir befanden uns mit verbundnen Augen gefesselt in einer Ebene. Im Hintergrund hörte man eine traditionelle Musik. Der Kommandant hat uns unser Todesurteil vorgelesen. Ich habe das nicht verstanden, aber ich merkte, dass mein Übersetzer Adschmal neben mir zu weinen begann. Ich habe ihn gefragt: 'Was ist los?'. Die Szene sieht man auch auf dem Video, das sie gedreht haben: Ich habe mich kniend aufgerichtet, er sagt mir schluchzend: wir sind zum Tode verurteilt. Da war mir klar: das ist das Ende.
    Sie haben dann Sajed mitgenommen. Ich konnte durch meine Kopfbinde etwas sehen. Sie haben ihn im Sand erstickt, und dann sah ich diese Bewegung des Messers, hin und her – sie haben ihm den Kopf abgetrennt. Und in dem gleichen, fast mystischen Ritual haben sie dann den Körper hochgenommen, haben den Kopf mit seinem Turban auf diesem Körper befestigt und trugen ihn wie einen gewöhnlichen Toten mit Respekt zu einem nahen Fluss und überließen ihn der Strömung. Wir waren restlos unter Schock. Ich dachte, jetzt sind wir dran. Das Leben ist zu Ende.

    Heinemann: Sie haben die Taliban als Personen zwischen Mystizismus und Brutalität charakterisiert. Woher kommt dieser Fanatismus und auch dieser Hass?

    Mastrogiacomo: Ich glaube, und das haben sie mir auch erzählt, dass sie von Anfang an so aufwachsen. Das sind ganz junge Leute – 20, 21 höchstens, gewöhnlich auch 18, 17, einige sogar erst 15 Jahre alt. Sie wachsen gemeinsam in den Religionsschulen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auf, da ihre Familien sie nicht ernähren können. Sie werden dann aufgefordert, im Dschihad, dem Heiligen Krieg, zu kämpfen. Sie sind mit der Religion sehr eng verbunden. Das fanatisiert sie. Alles was davon abweicht, muss abgeschafft werden, weil es feindlich ist. Dem muss man misstrauen und es ausschalten, weil es die Reinheit des Korans beschmutzt.

    Heinemann: Sie schreiben, dass auch die Taliban mit der Angst leben …

    Mastrogiacomo: Sie leben ständig mit der Angst. Aber was mich dabei überrascht hat, ist das Abgeklärte, das Heitere. Das ist unvorstellbar. Ich habe sie nie niedergeschlagen erlebt. Wir kennen in unseren Gesellschaften Depressionen, Momente, in denen wir weinen, wütend sind, oder streiten. Sie waren immer heiter, machten Scherze, lachten. Ihr ganzes Leben war das: sie kämpften und lebten zusammen. Es gab keine Mädchen, Frauen, keine Möglichkeit, sich zu vergnügen, keine Musik, kein Fernsehen, nichts. Ich habe sie immer heiter erlebt. Eine Abgeklärtheit, die von innen kam. Sie waren überzeugt von dem, was sie taten.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Interview mit dem italienischen Journalisten Daniele Mastrogiacomo, Autor des Buches "Tage der Angst – Entführt von den Taliban". - Die Regierung von Präsident Karsai verhandelt und auch die Amerikaner werden eines Tages mit den Taliban verhandeln. Kann man mit diesen Leuten eine Art Demokratie oder eine Art Rechtsstaat organisieren?

    Mastrogiacomo: Das wird schwierig. Ich war immer davon überzeugt, dass man mit den Taliban verhandeln muss. Ihre Vorstellung von Demokratie ist allerdings problematisch. Afghanistan, eine islamische Republik, deren Grundlage die Scharia ist. Sie haben ihre Tradition, das Gesetz soll nach den Regeln des Korans angewendet werden. Aber ich glaube, mit der Zeit werden sie ihre Form der Demokratie finden, in der einige Grundrechte geschützt werden, vor allem auch die Minderheiten. Afghanistan hat sich der Welt gegenüber so weit geöffnet - mit Internet und Handys, sie wissen, was in der Welt passiert -, dass dies keine geschlossene Gesellschaft mehr sein wird. Und das verpflichtet sie, einige Dinge einzuhalten, die im Rest der Welt üblich sind.

    Heinemann: Daniele Mastrogiacomo, Sie sind in Pakistan geboren, viel in der Region gereist, und Sie schreiben: ich werde nicht mehr dorthin zurückkehren …

    Mastrogiacomo: Nach einer solchen Erfahrung ist es schwierig, in ein wunderschönes Land, das ich sehr liebe, zurückzukehren. Ich schreibe allerdings auch in meinem Buch, dass es mir immer schwergefallen ist, mit diesem Land einen Kontakt herzustellen. Jeder der reist, beruflich oder privat, versucht, mit dem jeweiligen Land in Beziehung zu treten. Das ist mir in Afghanistan nie gelungen.
    Dann sind da meine Erfahrungen, der Schmerz über den Verlust zweier Freunde, die Polemik: Manche Afghanen haben gesagt: der Weiße, der aus dem Westen, kehrt nach Hause zurück, während die beiden Afghanen tot sind – zwei Länder, zweierlei Maß: Das hat bei mir Verbitterung ausgelöst.
    Meine afghanischen Kollegen wissen, dass das nicht so ist. Ich möchte nach Afghanistan zurückkehren, wenn es möglich sein wird, dort zu leben, ohne Entführungen, Gewalt und Krieg, wie sie dort gegenwärtig herrschen.