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Siedlungsaktivität in Ostjerusalem
Palästinensern droht die Zwangsräumung

Die Siedlungsaktivität im arabischen Teil Jerusalems nimmt erstmals seit Jahren wieder zu. Israelische Menschenrechtler sehen das mit Sorge. Besuch bei einer von Zwangsräumung bedrohten palästinensischen Familie.

Von Tim Aßmann | 28.08.2017
    Arabisches Viertel in Ostjerusalem
    Bis 2009 gab es in Ostjerusalem Zwangsräumungen. Nach internationalen Interventionen hörten sie auf - bis jetzt. (Deutschlandradio / Tim Aßmann)
    Mohammed Shamasnehs Blick ist leer. Die Fragen des Reporters beantwortet er fast automatisiert. Es wirkt so, als habe er sich von dem Zimmer, in dem er sitzt, und von dem Haus, in dem seine Familie lebt, innerlich schon verabschiedet:
    "Wir bekamen den Räumungsbescheid, ausgestellt auf den neunten August. Wir konnten zunächst noch einen Aufschub von fünf Tagen erreichen, sind aber vor Gericht endgültig gescheitert. Der Räumungsbescheid ist rechtskräftig."
    Und wenn die Shamasnehs nicht freiwillig gehen, werden die israelischen Behörden das kleine Haus zwangsräumen. Mohammed wohnt mit seiner Frau und vier Kindern hier und mit seinen Eltern, beide über achtzig. Seit 53 Jahren lebt die Familie hier – in Sheik Jarrah, im arabischen Teil Jerusalems, den Israel im Sechstagekrieg 1967 besetzte.
    Übernahmen durch Siedler waren ausgesetzt - bis jetzt
    Vor dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 gehörte das Land, auf dem das Haus steht, einer jüdischen Familie. Sie zog nach Westjerusalem, als Sheik Jarrah unter jordanische Verwaltung kam. 2009 begann der Streit um das Haus der Shamasnehs. Unterstützt von einer jüdischen Siedlerorganisation erhoben die ehemaligen Besitzer Anspruch auf das Land und gewannen den Rechtsstreit schließlich.
    2009 verloren bereits arabische Familien in Sheik Jarrah ihr Zuhause durch Zwangsräumungen. Jüdische Siedler zogen ein. Es gab internationale Proteste. Politiker wie Jimmy Carter und Hillary Clinton schalteten sich ein. Danach gab es in Sheik Jarrah zunächst keine weiteren Übernahmen durch Siedler. Bis jetzt.
    Menschenrechtlerin: "Diese Leute schaffen Fakten"
    Die israelische Menschenrechtsorganisation Ir Amim, die unter anderem Außenminister Sigmar Gabriel durch Ostjerusalem führte, beobachtet die Siedlungsaktivitäten in der Stadt. Vor allem in den Viertel in Altstadtnähe würden radikale Siedlerorganisationen versuchen immer mehr Häuser und Grundstücke zu übernehmen und die Bewohner zu vertreiben, erklärt Betty Hershman von Ir Amim anhand einer Karte:
    "Diese Leute schaffen Fakten. All diese blauen Punkte zeigen Siedlungsaktivität in der Altstadt und den angrenzenden Vierteln. In Sheik Jarrah wurden Pläne, die jahrelang ruhten, nun wieder aufgenommen inklusive dem Bau einer sechsstöckigen jüdischen Religionsschule direkt am Eingang des Viertels. Nichts könnte brandgefährlicher sein als das."
    Die drohende Zwangsräumung der Familie Shamasneh fällt in eine Zeit, in der die Stimmung in der Stadt sowieso äußerst angespannt ist. Im Juli protestierten die Menschen in Ostjerusalem wochenlang gegen israelische Sicherheitsmaßnahmen am Tempelberg. Es kam zu Gewalt mit Toten und Verletzten. Israel nahm die Maßnahmen schließlich zurück.
    Anwalt: Tempelbergkrise war "ein Sieg der Straße"
    Der Anwalt Mounir Nusseibeh von der Al-Quds-Universität bietet Rechtsberatungen an – unter anderem für Familien, die von Zwangsräumung bedroht sind. Die sogenannte Tempelbergkrise hat der Bevölkerung in Ostjerusalem aus Sicht von Mounir Nusseibeh viel Selbstvertrauen gegeben:
    "Es war ein Sieg der Straße ohne politische Führung. Sie haben gesehen, dass sie selbst etwas erreichen können. Ich glaube, dass hat in den Köpfen etwas verändert. Wie sich das auf künftige Konfrontationen mit der Besatzungsmacht auswirkt, muss sich noch zeigen, aber ich halte es für eine bedeutende Entwicklung."
    Die von der Zwangsräumung bedrohte Familie Shamasneh erhält viel Solidarität. Vor einigen Wochen beteten Hunderte vor dem Haus um so ihre Unterstützung zu zeigen. Ihr Zuhause werden die Shamasnehs aber wahrscheinlich dennoch verlieren.