Freitag, 19. April 2024

Archiv


Sieg der Entsagung

Arthur Schopenhauer entwickelte eine eigene Position des Subjektiven Idealismus. In seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" vertrat der Philosoph als einer der Ersten die Überzeugung, dass der Welt ein unvernünftiges Prinzip zugrunde liege.

Von Konstantin Sakkas | 19.09.2010
    Als Dietmar Gottschall und Silke Siegel 1962 ihren berühmten "Rundbrief" an die intellektuelle Elite der Bundesrepublik verschickten, worin sie ganz unironisch die Frage nach dem Sinn des Lebens stellten, riet ihnen der Schriftsteller Rudolf Walter Leonhardt statt einer eigenen Antwort, die Werke der großen Philosophen zu lesen, und setzte hinzu:

    "Fangen Sie mit Schopenhauer an: Er ist am verständlichsten – auch am menschlichsten, und das gerade durch seine logischen und erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeiten, welche Ihnen jeder Berufsphilosoph mit viel Scharfsinn nachweisen wird."

    Dass Arthur Schopenhauer, der vor 150 Jahren in Frankfurt am Main starb, einer strengen Kritik seiner philosophischen Methodik nur schwer standhält, gehört zu den Enttäuschungen, die jeder seiner Verehrer erleidet, wenn er ein Stück weit aus seinem Bannkreis tritt. Ebenso aber gilt, dass kein deutschsprachiger Philosoph bis heute so eine breite und allgemeine Wirkung erzielt hat wie Schopenhauer.

    Für die akademische Philosophie sieht das natürlich anders aus: Gegenüber den großen Systemdenkern der Neuzeit wie Leibniz, Kant, Hegel und Heidegger kann Schopenhauer bestenfalls als Essayist bestehen; von den alles zermalmenden Existenzialisten wie Kierkegaard, Nietzsche und Sartre unterscheidet ihn wiederum der Rest von Systematik und Ganzheitlichkeit, auch der versöhnliche Grundtenor, der seinem Werk trotz allem Pessimismus eignet. Aber was die Lesbarkeit seines Stils wie die Verstehbarkeit seiner Aussagen angeht, sind seine Reichweite und sein auktorialer Charme unübertroffen.

    Schopenhauer liest man nicht nur der Erkenntnis, sondern auch des Trostes wegen. Und tröstlich – dies das Paradoxe dieses sogenannten Pessimisten – ist der Tenor seines ganzen Werkes: Von seinem jugendfrisch-stürmischen Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" bis zu den altersklugen "Aphorismen zur Lebensweisheit" – das Wort Arthur Hübschers, der im Grab seines Idols Schopenhauer beigesetzt werden wollte, gilt bis heute:

    "Schopenhauer lehrt uns die Welt kennen und durchschauen. Er richtet das Bild des Menschen auf, das wir dieser Welt entgegenhalten können, und hat ihm alle Züge des Erreichbaren aufgeprägt. Er ruft zur Entfaltung höherer Daseinsformen auf, die nach den höchsten Vorbildern gelebt werden. Man kann mit seiner Philosophie leben – und mit ihr sterben."

    Eben deshalb, weil seine Philosophie in all ihrer Radikalität nie unmenschlich, nie verzweifelt wirkt, sprach man schon im 19. Jahrhundert von einem "vergnüglichen Schopenhauerschen Pessimismus" und spielte damit auf den Salon der Gräfin Schleinitz an, den die Memoiren der späten Kaiserzeit als Oase des Kunstsinns und der Humanität im gründerzeitlichen Berlin feierten. Und nicht nur Frau von Schleinitz führte damals, wie es ihre Freundin Anna von Helmholtz ausdrückte, ein Leben "mit Goethe und Schopenhauer als steten Gefährten, mit rotem Damast als Hintergrund".

    Denn noch viel mehr als den vergrübelten Kleinbürgern in ihren schäbigen Dachkammern verdankte der Misanthrop Schopenhauer seinen Ruhm den Damen und Herren der großen Gesellschaft in ihren prächtigen Salons. Schopenhauer wurde der unmodische Modephilosoph der deutschen Gesellschaft, und dies über die Zeiten und Reiche hinweg: Datierte sein früher Ruhm aus der bleiern spätbiedermeierlichen Zeit der zweiten Restauration, nach dem Scheitern der Revolution von 1848, so wuchs er im Bismarckreich nach 1871 zur Ikone des gebildeten Bürgertums, des mondänen wie des kleinen, und konnte seine Stellung nach dem Schock von 1918 im Zeichen einer allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Verunsicherung noch ausbauen.

    Prägend für den Charakter Schopenhauers, der am 22. Februar 1788 im damals preußischen Danzig zur Welt kam, waren zweifellos die negativen Erfahrungen im Elternhaus. Der Vater, obwohl begüterter Kaufmann, ist schwermütig und stirbt 1805, wahrscheinlich durch Selbstmord. Da ist der Sohn gerade 16. Die Mutter Johanna zieht mit Schwester Adele nach Weimar, wo sie alsbald eine wichtige Rolle als Salonière im Umkreis Goethes spielen soll; mit dem Sohn verbindet sie gegenseitige Abneigung, die 1814 schließlich zum definitiven Bruch führt. Arthur entwickelt sich früh zum Einzelgänger, in ihm verbinden sich genialisches Selbstbewusstsein und grimmige Weltabwendung. Typisch die erste große Liebe: Ausgerechnet Karoline Jagemann, spätere Frau von Heygendorff, Weimarer Theaterstar und obendrein Geliebte des Großherzogs Karl August, muss es sein – da ist die Schwärmerei eines romantischen 19-Jährigen von vorneherein ein heilloses Unterfangen.

    Einen unbefangenen, freien Zugang zur Außenwelt gewinnt Arthur nur im Intellektuellen, auch die ausgedehnten Reisen durch Europa, auf die die Eltern den Jugendlichen schicken, tragen dazu bei. Früh erwirbt er sich solide Sprachkenntnisse, und zeitlebens pocht er auf den Wert der klassischen Sprachen für eine gründliche Bildung. Nach einigen Wanderjahren lässt er sich in den 1820er-Jahren definitiv in Frankfurt am Main nieder und führt dort bis zu seinem Tod das Leben eines materiell abgesicherten Privatgelehrten. Als er 1860 72-jährig stirbt, ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus ein geachteter, verehrter, ja berühmter Philosoph.

    Diesen Ruhm hätte sich der junge Schopenhauer wohl kaum träumen lassen. Ganze zehn Freiexemplare erhält er 1819 von seinem Verleger Friedrich A. Brockhaus als Honorar für den Druck seines Hauptwerkes "Die Welt als Wille und Vorstellung" – eine symbolische Geste, mehr nicht. Sie wird den Kaufmannssohn, den das väterliche Erbe zeitlebens vor wirtschaftlichen Abstürzen bewahrte, materiell nicht sonderlich getroffen haben; wohl aber seelisch, war doch die Erstveröffentlichung seines opus magnum alles andere als ein Erfolg. Noch Jahrzehnte sollte Schopenhauer im Schatten des damals größten Denkers Europas stehen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel – eine Konkurrenz freilich, die der fast eine Generation jüngere Schopenhauer gezielt gesucht und geradezu fanatisch beschworen hat.

    "Scharlatan", "Galimathias", "Pöbelphilosophie", "Afterphilosophie" – dies nur eine Auswahl der Verbalinjurien, mit denen Schopenhauer um sich schmeißt, sooft er auf Hegel und dessen philosophisches System kommt. Dessen Weg- und Denkgefährten Fichte und Schelling kommen kaum besser weg, bestenfalls als "Talentmänner" lässt er sie gelten, nicht als eigenständige Denker. Seine Aggression gegen den weltvertrauenden moralischen Idealismus dieser drei motiviert sich aus seinem gnadenlosen, verzehrenden Bewusstsein für das Leiden in der Welt – und für den wesentlichen Anteil, den der menschliche Wille an diesem Leiden hat. In einer grundlegenden Studie schreibt Georg Simmel:

    "Die Philosophie Schopenhauers ist der absolute, philosophische Ausdruck für den inneren Zustand des modernen Menschen. Es ist das Zentrum seiner Lehre, dass das eigentliche, metaphysische Wesen der Welt und unser selbst seinen ganz umfassenden und allein entscheidenden Ausdruck in unserm Willen besitzt. Der Wille ist die Substanz unseres subjektiven Lebens, wie und weil das Absolute des Seins überhaupt ein rastloses Drängen, ein stetes Übersichhinausgehen ist, das aber, gerade weil es der erschöpfende Grund aller Dinge ist, zu ewiger Unbefriedigung verurteilt ist."

    Der Wille ist also das eine große Thema in Schopenhauers Philosophie. Das andere ist die Vorstellung, das heißt: das menschliche Erkenntnisvermögen. Getreu seinem Vorbild Immanuel Kant gilt für Schopenhauer, dass die Welt an sich nicht real, sondern nur als Projektion des menschlichen Intellekts da ist: "Die Welt ist meine Vorstellung" – mit diesem berühmten Satz hebt sein Hauptwerk an. Doch Vorstellung ist nicht gleich Vorstellung: Es kommt darauf an, so Schopenhauer, ob sie dem Willen unterworfen ist oder nicht. Ist sie es nicht, gilt der Grundsatz: "Solange wir uns rein anschauend verhalten, ist alles klar, fest und gewiss." Schopenhauers ganze Philosophie ließe sich als Versuch begreifen, diese ursprüngliche Klarheit und Gewissheit der willen- und interesselosen Anschauung wieder einzuholen. Der Weg dazu heißt: Verneinung des Willens zum Leben.

    Spätestens hier zeigt sich, wie unpassend das Etikett "Nihilismus" ist, das man Schopenhauer schon zu Lebzeiten verpasst hat. Denn auch er fragt danach, wie der Mensch glücklich werden kann; seine Antwort lautet: nicht durch Verausgabung des Willens, sondern durch seine Konzentration auf das absolut Notwendige. Seine Philosophie, die auf Entsagung und Selbstgenügsamkeit hinausläuft, greift Elemente der Stoa, des Buddhismus, des Christentums auf. Sie ist – allem Gerede vom Menschenhasser Schopenhauer zum Trotz – nicht gewalttätig, sondern zielt auf Selbstbescheidung. Und deshalb gibt bei ihr die Vernunft nie das Regiment über die Leidenschaften auf. In den Worten Arthur Hübschers:

    "Allerdings: Schopenhauer ist kein Gefühlsphilosoph, wie, zu seiner Zeit, Herder oder Jacobi, kein Existentialist wie die Nachfahren Kierkegaards. Er lebt aus dem Herzen, er deckt das Ursprünglichste und Tiefste im Menschen auf, aber er hütet sich, das kritische, ordnende Vermögen zu verwerfen. Er richtet seinen Blick auf allgemeine, zeitlose Wahrheiten und Werte. Die Wesenheit, die essentia, steht ihm vor der Existenz."

    Was das historisch bedeutet, sollte sich ein Jahrhundert später zeigen: Über das eigene In-der-Welt-sein zutiefst verunsichert, weltlos und standlos geworden, lieferten Intellektuelle wie Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Ernst Jünger zuerst ihren Intellekt ihren wirren Gefühlen aus, um sich anschließend diesem verwirrten, entfremdeten Intellekt selbst zu unterwerfen. Konvulsivisch phantasierten sie vom "Hochverrat des Geistes gegen den Geist", waren unfähig und unwillig, im Denkenkönnen selbst die Garantie dafür zu entdecken, dass ihr Leben nicht sinnlos ist; dass es einen ontologischen, seinsmäßigen Horizont hat, in den sie selbst als Menschen eingebettet sind: und so wurden sie bereitwillige Apologeten, ja geistige Mittäter Hitlers und seiner Zerstörungsbewegung. Auf Schopenhauer aber, den so genannten Nihilisten, konnten diese Negativisten sich nie berufen; denn für ihn galt mit Hannah Arendts Worten die Einsicht

    "dass der Mensch als 'Herr seiner Gedanken' nicht nur mehr ist als alles, was er denkt [ ... ]; sondern auch dass der Mensch von vorneherein als ein Wesen bestimmt ist, das mehr als ist als sein Selbst und mehr will als sich selbst."

    Diese großartige Einsicht macht Schopenhauer so attraktiv; und sie rückt ihn in die Nähe Hegels, der, wenngleich von der entgegengesetzten Seite, denselben Punkt im Auge hatte wie Schopenhauer: das zufriedene, friedliche Bei-sich-selbst-Sein des Menschen. Und diese Einsicht war es, die ihn so fundamental von jenem Denker trennt, mit dem er gerne in einem Atemzug genannt wird und der ihn in Deutschland populär machte: Friedrich Nietzsche.

    Schopenhauers und Nietzsches Lebensläufe haben Einiges gemein: der berufliche Misserfolg, das Zukurzkommen gegenüber wirkungsmächtigeren Zeitgenossen – Hegel hier, Richard Wagner da –, die lange ausbleibende Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied, der in ihrer jeweiligen Philosophie ebenso angelegt ist, wie er sich in ihrer Wirkungsgeschichte abspiegelt: Nietzsche war ein zutiefst unerfüllter Mensch, der seine Unfähigkeit, "blonde Bestie" zu sein, als substanzielles charakterliches Defizit auslegte und darüber wahnsinnig wurde. Schopenhauer aber, bei aller Unleidlichkeit, strahlt doch mit jeder Zeile Ganzheitlichkeit, Sphärenharmonie, ja: Versöhnung aus. Irreführend ist da der Hinweis auf seinen vermeintlichen "Voluntarismus": Schopenhauers Willensphilosophie ist rein analytisch, metaphysisch, beschreibend; wenn er den Willen, im unausgesprochenen Rückgriff auf den Apostel Paulus und Augustinus, als Leitprinzip des Daseins ausmacht, so leitet er daraus nicht zugleich eine Handlungsmaxime ab.

    Dagegen bei Nietzsche, der sich von Schopenhauer nach dem Enthusiasmus der frühen Jahre bald enttäuscht lossagte, ist der Wille Handlungsmaxime, und zwar umso radikaler, je weniger sich Nietzsche und seine Zeitgenossen ihres Willens, ihrer eigenen Lebensfähigkeit noch sicher sind. Anfangs freilich meinte Nietzsche es durchaus Ernst mit seiner Schopenhauer-Begeisterung; in der "Dritten unzeitgemäßen Betrachtung von 1874: Schopenhauer als Erzieher", preist der Basler Altphilologie-Professor das Werk Schopenhauers als großartiges Beispiel denkerischer Wahrhaftigkeit, im Gegensatz zum verflachenden, Welt und Geschichte unkritisch verabsolutierenden Positivismus seiner fortschrittsbegeisterten Mitwelt.

    Doch mit solcher Bescheidenheit, der es um intellektuelle Redlichkeit, nicht um chiliastische Selbstverwirklichung ging, war es bald vorbei – spätestens nach dem Bruch Nietzsches mit Richard Wagner und seinem Kreis. Nietzsche hatte zwar Recht mit seinem Vorwurf, der Eklektiker Wagner benutze den Schopenhauerschen Pessimismus nur als Mäntelchen für einen krassen, schrankenlosen Egoismus, der, fern von aller Entsagung, von Ruhm, Geld und Sex nie genug haben konnte; aber ebenso falsch wie diese Scheinheiligkeit war die Reaktion Nietzsches, der sich selbst immer mehr wie ein Versager vorkam: nämlich vom Missbrauch eines Ideals –Schopenhauers Verneinung des Willens – auf die Falschheit des Ideals selbst zu schließen. Diese Fehlableitung kostete ihn die Gesundheit, geistig und körperlich, und auch einen guten Teil seiner historischen Reputation.

    Zwischen Schopenhauer und Nietzsche, daran hat Georg Simmel zu Recht erinnert, lag Charles Darwin. Die von diesem eingeführte unselige Tendenz, Trivialitäten des natürlichen Daseins zu existenziellen Maximen zu überhöhen, hat niemand so ins Extrem gesteigert wie Nietzsche mit seinem ekstatischen Anruf an die Zeitgenossen, zum weltumstürzenden Übermenschen zu werden. Schopenhauers Willensethik will aber das genaue Gegenteil hiervon. Bernhard Taureck:

    "Auflösung der Philosophie besagt bei Schopenhauer Nachweis der Illusion der bisherigen Philosophie und Übergang in das Freiwerden vom Willen. Beides geschieht so: Im Ich, im Selbstbewusstsein eines jeden Menschen, wird sich die Welt als etwas bewusst, was sich in Raum und Zeit nicht zeigt: Die Tatsache, dass die Welt blinder Wille ist. Es gibt Möglichkeiten, von diesem Willen freizukommen [ ... ]. Dies sind für Schopenhauer vor allem die Erfahrungen der Buddhisten mit jener Metapher 'Nirwana', das 'Verwehen' bedeutet."

    "Wer verzweifelt stirbt", so schrieb einst Adorno, "dessen ganzes Leben war umsonst" – auf Nietzsche, den Enttäuschten, Gebrochenen und schließlich geistig Umnachteten, mag man das mit Recht anwenden; auf Schopenhauer dagegen kaum. Auch täuscht man sich, will man das Versöhnliche seines Denkens erst in seinen späten Schriften wahrnehmen; nein: schon in den jugendlich-zornigen Anfängen seines Werkes ist diese Tendenz angelegt. Ja, es stimmt, der Autor der "Welt als Wille und Vorstellung" verstand sich, so überspannt wie selbstbewusst, als der Anti-Hegel.

    Doch, um mit Hegel selbst zu reden, Schopenhauers Negation Hegels war eine konkrete, keine abstrakte; sie war rebellisch, aber nicht revolutionär, und im Rebellieren bereits fand sich die Seinsverleugnung Schopenhauers aufgehoben und behütet in der Seinsvergötterung seines Antipoden Hegel. Denn ob Verleugnung oder Vergötterung: Für beide, Hegel und Schopenhauer, steht das Sein als Horizont des menschlichen Denkens und damit der menschlichen Existenz im Grunde fest und unumstößlich.

    Schopenhauer ist der Hegel für den Hausgebrauch, ist gleichsam die praktische Vernunft des Weltgeistes; die "Welt als Wille und Vorstellung" mit ihrem wundervollen essayistischen Schneid scheint für jene geschrieben, denen die "Phänomenologie des Geistes" mit ihrem esoterischen Schwulst zu kompliziert ist. Unter dem Schleier von Pessimismus und Grantigkeit zeigt sich: Schopenhauers Nihilismus ist in Wahrheit ein Pseudo-Nihilismus, der sich die Maske von Hegels Seinsphilosophie aufgesetzt hat; zum echten fehlt ihm der negativistische Gehalt, die Haltung unbedingter Auflehnung. Er will nicht die Welt besser machen, sondern findet sich damit ab, wie sie ist; er empfiehlt weder Selbstmord noch Mord, sondern Rückzug und Verzicht. Dem dröhnenden, aber ohnmächtigen Triumph des Willens setzt er den stillen, gefassten Sieg der Entsagung entgegen.

    Hieran liegt es, warum zwar Nietzsche, niemals aber Schopenhauer vor den Karren Hitlers und seines weltfeindlichen Destruktivismus gespannt wurde. Der im Grunde gemütliche alte Mann, der schon als Knabe nicht wirklich jung war, hatte mit der "Welt als Wille" die Metaphysik gefunden, die seiner von Vater- und Mutterkomplexen aufgestörten Seele den ersehnten und nötigen Halt bieten konnte; sein Intellekt dabei, dies der Unterschied zum späteren Existenzialismus, blieb zeitlebens klar, wovon gerade die nie getrübte Konstanz und Bravour seines Stils eindrücklich zeugen. Rüdiger Safranski:

    "Schopenhauer hat vom Leib, vom Willen, vom Leben gesprochen ohne Messianismus. Unser Leib wird uns nicht erlösen, unser Wille auch nicht. Er hat die Ohnmacht der Vernunft gegenüber dem Willen drastisch gezeigt. Aber er war 'der rationalste Philosoph des Irrationalen' [ ... ]. Er wusste: Man muss dem Schwächeren beistehen, der Vernunft. Für die Torheit, den Willen, diesen Riesen, zu sich selbst befreien zu wollen, hatte er nur Verachtung übrig."

    Diese souveräne, grandseigneurale Verachtung, die das Gegenteil ist von blindem Hass und ohnmächtiger Verzweiflung, hat Schopenhauers Nimbus über Zeiten hinweggerettet, die sich in morbidem, weltsüchtigem und dabei jugendlichem Überschwang jeder Altersweisheit überlegen wähnten. Paradoxerweise war Schopenhauer weniger unter seinen frühen Zeitgenossen, den Idealisten und Jüngern Kants, ein Außenseiter, als unter denen, die nach ihm kamen und noch in den beiden Weltkriegen ihren Fatalismus und Negativismus gern mit der Fassade seines so genannten "Pessimismus" drapierten. Arthur Hübscher:

    "Schon in der gängigen 'Philosophie des Untergangs' stand Schopenhauer merkwürdig abseits. [ ... ] Die Aufgabe der Propheten schien erfüllt. Sie hatten die Überlieferungen von Jahrhunderten wachgehalten, und ihr Wissen um die Zukunft war immer aus dem Wissen um das Überzeitliche gekommen. Die Angst der Zeit aber, eine drängende, einmalige, unwiederholbare Angst, die nichts mehr war als sorgende Gegenwärtigkeit [ ... ], ohne Rückhalt im Vergangenen, – hätte sie bei ihnen noch Trost und Warnung holen können?"

    Wohl kaum. Aber nicht, weil Schopenhauer nicht auch die Qualitäten eines philosophischen Trösters in sich hätte; die hat er gewiss, und in besonderem Maße; sondern weil die existenzialistische Generation sich schlicht nicht mehr trösten lassen wollte. Der epochemachende und epochenzerstörende Impetus des politischen Existenzialismus war zum großen Teil Trotz, verschleppte Infantilität, verspätete Adoleszenz, die sich nicht damit abfinden mochte, dass ihre Generation, nach zwei Revolutionen, inmitten von Freiheit und Wohlstand, von der ewigen, höllisch komplizierten Aufgabe des Nachdenkens nicht mehr durch einen leichten, flotten Schlachtentod oder Liebestod erlöst wird. Den geistesgeschichtlichen Gegensatz zwischen der Generation Hegels und Schopenhauers und jener Kierkegaards und Nietzsches brachte der große Karl Löwith in einer schönen Parabel zum Ausdruck:

    "Die Alten leben nicht wie die Jünglinge in einer unbefriedigten Spannung zu einer ihnen unangemessenen Welt und im 'Widerwillen gegen die Wirklichkeit'; sie existieren auch nicht in der männlichen 'Anschließung' an die wirkliche Welt, sondern wie Greise sind sie, ohne jedes besondere Interesse für dies oder jenes, dem Allgemeinen und der Vergangenheit zugewandt, der sie die Erkenntnis des Allgemeinen verdanken. Dagegen ist der Jüngling eine am Einzelnen haftende und zukunftssüchtige, die Welt verändern wollende Existenz, die uneins mit dem Bestehenden Programme entwirft und Forderungen erhebt, in dem Wahn, eine aus den Fugen geratene Welt allererst einrichten zu sollen. [ ... ] Den Schritt zur Anerkennung dessen, was ist, vollzieht die Jugend nur notgedrungen, als schmerzlichen Übergang ins Philisterleben. Aber sie täuscht sich, wenn sie dieses Verhältnis nur als ein solches der äußern Not versteht und nicht als vernünftige Notwendigkeit, worin die von allen besonderen Interessen der Gegenwart freie Weisheit des Alters lebt."

    Doch die "Alten" – man mag dies bedauern oder nicht – behalten am Ende Recht. Und ist es ein Zufall, dass ausgerechnet die Exponenten der beiden großen revolutionären philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, Heidegger und Max Horkheimer, am Ende ihres Lebens zu Schopenhauer zurückfinden? Offen bekannt hat dies freilich nur Horkheimer. Doch auch die Texte des späten Heidegger, seine Rede vom "Seyn" – mit Ypsilon –, dem man sich überlassen müsse, atmen den Geist Schopenhauerscher Besinnung, in der das Gewühle des Willens, körperliches und geistiges Begehren, zur Ruhe kommt. Schopenhauers Denken zeigte sich in der Tat, wie es Adorno mit Spitze gegen Heidegger forderte, "solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes".

    Noch etwas anderes unterscheidet Schopenhauer von seinen Nachfolgern: Seine Untauglichkeit zum Guru. Freilich zeigt er sich in seinem Werk oft eingebildet, meistens gekränkt und immer von sich selbst überzeugt. Doch wenn er jemals an der Ruhmsucht litt, so hat ihn die Nichtbeachtung durch die Mitwelt in seinen frühen Jahren davon geheilt. Für die Idolatrien Richard Wagners, der in den 1850er-Jahren voller Begeisterung den Kontakt zu ihm suchte, hatte er gar nichts übrig. Rüdiger Safranski:

    "Schopenhauer war kein Buddha, und zu seinem Glück zwang er sich auch nicht dazu, es werden zu wollen. Klug ist er jener Tragödie ausgewichen, die darin besteht, dass einer versucht, den eigenen Inspirationen, den eigenen Einsichten hinterherzuleben. Schopenhauer hat sich nicht mit sich selbst verwechselt. Denn es geht nicht gut aus, wenn man versucht, sich selbst beim inspirierten Wort zu nehmen, versucht, es zu 'verwirklichen', 'umzusetzen', 'anzueignen'. Man sollte das Selbst geschehen lassen. Selbstgeschehenlassen und nicht Selbstaneignung ist das Geheimnis des Schöpferischen."

    Von hier ist es allerdings nicht mehr weit zur "Gelassenheit" des späten Heidegger oder zum taoistischen "Seinlassen", das Jaspers in seinen Metaphysikern vor dem historischen Horizont eines hysterisch-destruktiven Aktivismus heraufbeschwört. Doch wie soll, oder besser: wie kann er aussehen, dieser "gelassene", das Sein zulassende und sich darauf verlassende Mensch? Schopenhauer selber gibt eine Beschreibung:

    "Ein solcher Charakter wird demnach die Menschen rein objektiv betrachten, nicht aber nach den Beziehungen, welche sie zu seinem Willen haben könnten: er wird zum Beispiel ihre Fehler, sogar ihren Hass und ihre Ungerechtigkeit gegen ihn selbst, bemerken, ohne dadurch seinerseits zum Hass erregt zu werden; er wird ihr Glück ansehen, ohne Neid zu empfinden; er wird ihre guten Eigenschaften erkennen, ohne jedoch nähere Verbindung mit ihnen zu wünschen; er wird die Schönheit der Weiber wahrnehmen, ohne ihrer zu begehren. Sein persönliches Glück oder Unglück wird ihn nicht stark affizieren."

    So fanden antike Weltweisheit und christliche Entsagungsethik, buddhistische Selbstauflösung und taoistisches Nichthandeln, scholastische Seins-Logik und idealistische Versöhnung mit der Welt zur späten Synthese. In Schopenhauers Denkgebäude kann sich jeder zurückziehen: Dem jugendlichen Sinnsucher bietet es ebenso viel Erhellung, wie dem alternden Sinnskeptiker Freude am Gedankenspiel; es verheißt Selbstvergewisserung ebenso wie Seinsgewissheit– kein schlechtes Erbe in einer Zeit, die nicht mehr nur, wie einst 1848, alles infrage stellt, sondern die spätestens 1945 aufgehört hat, überhaupt Fragen zu stellen. Und Schopenhauers Philosophie ist die letzte große Philosophie, die klare Antworten gibt, deren Klarheit nicht nur ein Tarnname für Verzweiflung oder Brutalität ist. "Verneinung des Willens zum Leben" ist nicht das gleiche wie "Verneinung des Lebens" – dieser feine Unterschied macht den ganzen Schopenhauer und gibt ihm seine Würde. Rüdiger Safranski:

    "Die Schopenhauersche Philosophie ist doppelbödig. Sie lässt sich auf die Pragmatik des Lebens und der individuellen Selbstbehauptung ein und erklärt zugleich, dass es 'eigentlich' nichts sei mit dem Individuum, dass es 'eigentlich' nichts sei mit dem Leben überhaupt, dass 'eigentlich' alles eins sei. Diese Doppelbödigkeit war es, die [ ... ] auf die Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute gewirkt hat. Sie spricht einen ästhetischen Sinn an, eine ästhetische Haltung zum Leben. Sie gibt dem Lebensernst die Grundierung des Nichtigen. Jeder muss zwar 'im großen Marionettenspiel des Lebens doch mitagieren [ ... ]; jedoch vergönnt ihm die Philosophie einen Blick auf das Ganze des Theaters. Für Augenblicke hört man auf, Akteur zu sein, und wird zum Zuschauer [ ... ]: unbeteiligtes Sehen, ohne in den blind machenden Ernst verwickelt zu sein."