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Siegfried Unseld: "Reiseberichte"
Ins Gelingen verliebt

Es gibt im 20. Jahrhundert keinen Verleger, der das literarische und gesellschaftliche Leben seiner Zeit so geprägt hat wie Siegfried Unseld. Eine Auswahl seiner "Reiseberichte" aus 40 Jahren, Spiegel seines unermüdlichen Schaffens, erscheint nun zum 70. Geburtstag des Suhrkamp Verlags.

Von Ulrich Rüdenauer | 30.06.2020
Siegfried Unseld: "Reiseberichte". Zu sehen ist der Autor und Verleger und das Buchcover
Sein Büro war tapeziert mit Notizen, Verträgen und Briefen - Siegfried Unseld, der rastlose Verleger (Foto: imago images / teutopress / Cover: Suhrkamp Verlag)
Seine Autoren konnten auch nett zu ihm sein. Sie waren es vor allem, wenn Siegfried Unseld das Portemonnaie weit öffnete und einen Vorschuss bezahlte, der zuweilen das ökonomische Potenzial eines Buches übertraf. Thomas Bernhard war bei Vertragsverhandlungen durchtrieben; und er war charmant, wenn er bekam, was er wollte. Einmal schrieb er dem Patriarchen des Suhrkamp Verlags folgenden Satz ins Stammbuch:
"Wenn Shakespeare der größte Dichter und Minetti der größte Schauspieler, dann ist Unseld der größte Verleger." Allzu oft durfte er mit solchen Elogen allerdings nicht rechnen, zumal bei seinen Starautoren – Thomas Bernhard, Peter Handke oder Max Frisch, die zudem nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Einige Briefwechsel, die in den letzten Jahren sorgsam ediert worden sind, geben beredt Auskunft über die Leidensfähigkeit Unselds. Was er sich nicht alles anhören musste, von seinen Diven! Welche Demütigungen er schluckte, weil er an das große Kunstwerk dachte, an dem er selber 24 Stunden am Tag arbeitete: an Suhrkamp. Die Mitarbeiter, die mit dem 2002 gestorbenen Unseld noch zu tun hatten – so viele sind es gar nicht mehr –, dürften alle mindestens einmal in ihrem Arbeitsleben den vielleicht charakteristischsten Satz dieses Verlegers gehört haben:
"Merken Sie sich eines: Noch der geringste unter den Autoren steht turmhoch über uns." Dieses Credo könnte auch den nun erschienenen Reiseberichten vorangestellt sein. Raimund Fellinger, vor wenigen Wochen erst gestorben, hat diese Auswahl noch herausgegeben: 35 Protokolle von Reisen, Begegnungen, Verhandlungen. 1500 hat Unseld im Laufe seines Verlegerdaseins verfasst. Die nun vorliegenden sind auf gewisse Weise repräsentativ. Sie umfassen einige der wichtigen Etappen im Werden der Suhrkamp Kultur, die Unseld nach Peter Suhrkamps Tod geprägt hat.
Beckett rezitiert Matthias Claudius
Der erste in den Band aufgenommene Reisebericht führt uns nach Berlin, es geht um das Erbe Bertolt Brechts – ein Pfeiler des Verlags. Wir begleiten Unseld mehrmals in die USA, nach Wien und Prag, nach Japan und Russland. Und an viele weitere Orte. Die entscheidenden Autorinnen und Autoren – neben den bereits erwähnten Bernhard, Handke und Frisch sind das Uwe Johnson und Samuel Beckett, Hans Magnus Enzensbeger und Amos Oz – treten immer wieder auf. Bei seinen Reisen zu den fremdsprachigen Schriftstellern hatte es Unseld immer etwas leichter. Im Ausland war er bald selbst ein Star, wurde hofiert und verehrt und höchst freundlich empfangen.
"Am Spätnachmittag Zusammentreffen mit Beckett. Unser Gespräch war überaus erfreulich, der eigentliche Höhepunkt des Pariser Besuchs. Beckett erkundigte sich wieder sehr interessiert nach dem Ergehen des Verlages und einigen Autoren wie Hesse, Frisch, Nossack. Wir hatten ein langes Gespräch über deutsche Literatur, die er genauer kennt, als man gemeinhin annimmt. Sein Lieblingsbuch ist Fontanes »Effi Briest«; Gedichte von Claudius kennt er auswendig; es war sehr merkwürdig, Beckett in diesem Pariser Restaurant Claudius-Verse sprechen zu hören."
Mit vielen seiner deutschsprachigen Autoren war es weniger angenehm. Einmal nimmt er den jungen, gerade zum Popstar aufsteigenden Handke mit zu einem Treffen mit Samuel Beckett. Der Nobelpreisträger erkundigt sich freundlich nach den Stücken des österreichischen Kollegen. Handke aber ist wenig "gerührt" und maulfaul; fast verstockt stellt er Beckett lediglich die Frage, ob er einen Fernseher besitze.
"Ich werde so etwas nicht mehr tun, denn Handke [. . .] gab sich in der Unterhaltung nicht die geringste Mühe, sondern saß da und schwieg. Das geht eben nicht."
Max Frisch explodiert
Das ging eben doch. Und noch viel mehr. Zum 60. Geburtstag von Max Frisch reist Unseld extra nach New York. Er lädt den zu dieser Zeit dort lebenden Schweizer Autor zum Mittagessen ein; der Verlag richtet eine Party für ihn aus. Aber Frisch entwickelt in diesen Tagen einen immer tieferen Groll, der sich am Ende des Besuchs Luft macht.
"(…) und dann kam eine wahre Suada von Vorwürfen, Klagen, Zornesausbrüchen. Er habe sich über mich geärgert. Ich sei mit »leeren Händen« nach New York gekommen, und im übrigen hätte ich mich am Tage seines Geburtstages einfach »schäbig« verhalten. Das würde er mir nie vergessen. Er wisse von nun an, was er von mir zu halten habe, das habe er schon immer gewußt, aber nun sei es ihm deutlich geworden, und ich müsse damit rechnen, daß er dies »meinen Freunden« Jürgen Habermas und Uwe Johnson mitteilen würde."
Über Seiten schildert Unseld die Vorwürfe, die Frisch gegen ihn erhebt. Am Ende hört man gar bei diesem von Eitelkeit zwar selbst nicht freien, aber stets seinen Autoren als Punching Ball zur Verfügung stehenden Verleger so etwas wie Verbitterung.
"Als ich früher in einem Fernseh-Interview von Friedrich Luft gefragt wurde, ob es nicht irgendwie niederdrückend sei, immer nur mit großen Leuten zusammenzusein, erwiderte ich ihm mit einem Zitat von Goethe: »Gegen die Vorzüge anderer gibt es kein anderes Rettungsmittel als Liebe.« Ich hatte bis zu diesem Datum immer darauf gebaut, daß es auch Freundschaft in der Beziehung zwischen Autor und Verleger geben könne, aber seit diesem Datum weiß ich, daß das vielleicht nicht oder nicht mehr möglich sein kann und daß ich mich darauf einstellen muß, das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur Arbeit."
Ein übermenschliches Pensum
Die Arbeit schien bei Unseld so oder so immer an erster Stelle zu stehen. Die Reiseberichte geben einen Einblick in das schier übermenschliche Pensum und das Spektrum der Betätigung des wohl größten Verlegers im 20. Jahrhundert: Quasi im Fluge zu einem anderen Kontinent werden neue Buchideen entwickelt; noch den kleinsten Hinweisen einer Übersetzerin oder eines Literaturwissenschaftlers, die ihm auf einer Party zugeraunt werden, wird nachgegangen; von jeder Reise bringt er detaillierte Aufzeichnungen über die Verlagsbranche in den anderen Ländern mit; Ansprechpartner, Agenten oder Autoren werden in kleinen Skizzen charakterisiert; nebenbei liest er unzählige Manuskripte, feilt mit einigen der schwierigeren Schriftsteller an einzelnen Sätzen; Verträge werden verhandelt, Umsatzzahlen erläutert, zarte Seelen gestreichelt, robustere zu mehr Arbeit angehalten.
Häufig hält er kulturgeschichtliche Eindrücke fest und versäumt auch nicht – er ist eindeutig ein Kind seiner Zeit –, weiblichen Bekanntschaften das Attribut hübsch beizugeben oder auch das Fehlen gewisser Reize zu erwähnen. Er ist sich nicht zu schade, bei Buchhandlungen vorzusprechen, in deren Schaufenster Suhrkamp-Bücher ausgestellt sind, um mit den Buchhändlern eine noch engere Beziehung zu knüpfen. Alles zum Wohle des Verlags. "Ins Gelingen verliebt sein und in die Mittel des Gelingens" – das Zitat Ernst Blochs war ein Leitspruch im Leben Unselds. Die Mittel des Gelingens hat er allesamt zu nutzen verstanden. Und selbst jenen, denen nichts mehr gelang, hielt er die Treue, wenn er sie einmal unter seinem Dach aufgenommen hatte. Das schönste Beispiel ist Wolfgang Koeppen, der über Jahrzehnte von Unseld quasi ein Gehalt ausgezahlt bekam.
"Hätte ich ein Tonbandgerät gehabt, so wäre jetzt ein neues Manuskript von Koeppen da: Beichte im Hotelzimmer. Er hielt in meinem Hotelzimmer einen zweistündigen Monolog über seine Situation, den man ohne belletristische Übertreibung mit »Hölle« betiteln könnte. Er will noch unter allen Umständen bis Ende August sein Manuskript beenden, damit es unter allen Umständen noch in diesem Jahr erscheinen könnte. Im übrigen war er vollkommen abgebrannt. Ich übergab ihm DM 500,–. Wie es weitergehen wird, weiß niemand."
Fragmente einer Autobiographie
Es ging so weiter: Koeppen blieb so gut wie alle angekündigten Manuskripte schuldig. Er war nicht nur ab-, sondern auch ausgebrannt. Unseld hinderte das nicht daran, zu seinem Autor zu stehen – wie man eindrucksvoll im Briefwechsel der beiden nachlesen kann.
Die 40 Jahre umfassenden "Reiseberichte" sind Fragmente einer Autobiographie Siegfried Unselds. Und – zum 70. Geburtstag von Suhrkamp – ein nicht unwichtiger Teil deutscher Literaturgeschichte. Einen solchen Verleger dürfte es nicht mehr geben. Es brauchte für ihn eine bestimmte historische Konstellation und eine Reihe von Autoren, die ihm ihren Ruhm verdankten und zu seinem Ruhm beitrugen.
Cheflektor Raimund Fellinger, der in den 1970er-Jahren zum Suhrkamp Verlag kam, wie kein zweiter die Geschichte des Hauses kannte und nach Unselds Tod nach Außen verkörperte, ist im April dieses Jahres gestorben. Ein bisschen ist dieses von ihm herausgegebene Buch auch sein Vermächtnis. Wer mit der Suhrkamp Kultur aufgewachsen ist, wer noch etwas ahnt von dem, was einmal die Aura dieses Verlags ausmachte, dürfte die "Reiseberichte" Siegfried Unselds verschlingen. Für alle anderen ist es der lehrreiche Blick auf eine große, aber heute schon fast unwirklich erscheinende literarische Epoche.
Siegfried Unseld: "Reiseberichte"
Herausgegeben von Raimund Fellinger
Suhrkamp, Berlin. 378 Seiten, 26 Euro.