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Signale von Schülern erkennen

Schulen aus dem Bodenseekreis setzen auf vertrauensbildende Konzepte, um Schülern Gesprächsangebote zum Thema Missbrauch zu bieten. Diskutiert wird auch über die psychologische Schulung der angehenden Lehrer.

Von Thomas Wagner | 16.07.2011
    Noch eine Woche bis zu den Sommerferien: In der großen Pause stehen die Schülerinnen und Schüler der Realschule Überlingen sehr gelassen beieinander. Schulleiter Karl Hepp blickt von seinem Büro aus nachdenklich auf den Pausenhof.

    "Wir selber haben an der Schule keine Missbrauchsfälle entdeckt, also direkt an der Schule. Aber wir wissen von Missbrauchsfällen im häuslichen Arbeitskreis."

    Anlass genug, darüber nachzudenken, wie man als Schule solche Fälle erkennen und damit umgehen kann. An der Überlinger Realschule setzt die Schulleitung auf das Konzept der niederschwelligen Vertrauensbildung. Die 700 Mädchen und Jungen können sich an einen Beratungslehrer wenden,

    "der einen sehr engen Draht zu den Schülern hat, der volles Vertrauen genießt, weil er Tag und Nacht für seine Schüler zur Verfügung steht. Auf diese Weise erreichen wir, dass die Schüler ein sehr niederschwelliges Gesprächsangebot finden, indem sie dann, wenn sie so weit sind, sich zu öffnen, ihn erreichen können."

    Auch wenn es um das schlimme Thema Missbrauch geht. Gleich neben der Realschule, im Gymnasium Überlingen, sind einmal pro Woche Schulpsychologen zu Gast. Gerade wenn es um das Erkennen von sexuellem Missbrauch geht, falle es den Schülern grundsätzlich leichter, sich Personen von außen anzuvertrauen, meint der stellvertretende Schulleiter des Gymnasiums, Willi Rinderer.

    "Es ist unheimlich wichtig, weil die Beratungslehrer auch gleichzeitig Lehrer an der Schule sind und insofern auch ein Rollenkonflikt entstehen könnte und weil natürlich ein Opfer das nicht unbedingt seinem Lehrer mitteilen möchte, weil dann die Scheu noch größer ist. Da sollte ein absolut vertrauensvoller Raum geschaffen sein."

    Allerdings nehmen die Schüler das Beratungsangebot der Schulpsychologen nur selten wahr. Möglicherweise, glaubt der stellvertretende Schulleiter, stelle dies für die Schüler immer noch eine zu hohe Hürde dar. Deshalb spielt das Thema Missbrauch auch im Unterricht eine Rolle.

    "Außerdem werden im Religionsunterricht, im Deutschunterricht Rollenspiele gemacht, um das Vertrauen zu stärken in sich selbst, um auch ‚Nein‘ sagen zu können, wenn man in Gefahr ist, Opfer eines Missbrauchs zu werden."

    Nur rund 30 Kilometer entfernt, befindet sich die Schule Schloss Salem – eine weltweit bekannte Internatsschule. Dort wurden im vergangenen Jahr mehrere Missbrauchsfälle bekannt, die bereits Jahre und Jahrzehnte zurückliegen. Die Schulleitung hat reagiert – mit einer so genannten "Child Protection Policy." Dabei stehen die beiden Schulgeistlichen den Schülern als unabhängige Vertrauensperson zur Verfügung. Schulpsychologen bieten regelmäßig vertrauliche Einzelgespräche an. Außerdem wurden die Kompetenzen der Schülervertretungsgremien gestärkt. Schüler vertrauen sich eher Gleichaltrigen als Erwachsenen an. Dennoch sieht Schulleiterin Eva-Maria Haberfellner ein gravierendes Defizit:

    "Ich bin derzeit mit der Lehrerausbildung und der Curricula nicht zufrieden. Dieses Thema muss vielmehr angesprochen. Wir haben hier Lehrer, die, wenn sie zum ersten Mal mit Schülern umgehen, verunsichert sind: Was darf ich denn tun? Kann ich jetzt einen Schüler, der traurig ist, am Arm nehmen und so weiter? Und wie verhalte ich mich? Ich glaube deshalb, dass wir die Lehrerausbildung völlig umstellen müssen, um auch mit diesem Thema besser fertig zu werden."

    Wohl wahr! Die meisten angehenden Lehrer erfahren während ihrer Ausbildung nichts darüber, wie sie später einmal mit dem Missbrauchsthema umgehen sollen. Studierende der Pädagogischen Hochschule Weingarten:

    "Also ich bin bisher erst im zweiten Semester. Von dem her hab‘ ich in dieser Richtung bisher noch gar nichts mitgekriegt. Ich wag‘ es auch noch zu bezweifeln, dass da noch was kommt im Laufe des Studiums."

    "Ich bin jetzt im vierten Semester. Ich hab‘ bislang noch keine Veranstaltung gesehen in dieser Richtung. Und ich befürchte, dass in dieser Richtung gar nichts mehr angesprochen wird."

    Professor Ursula Pfeiffer lehrt in Weingarten Erziehungswissenschaften. Sie verweist darauf, dass angehende Lehrer sehr wohl psychologisch geschult würden. Aber: Das derzeitige Niveau reiche nicht aus.

    "Wir müssen die Beobachtungsfähigkeit von Erwachsenen schulen, die die versteckten Signale von Kindern lesen können. Denn in der Regel haben Kinder einen generalisierten Verdacht gegen über Erwachsenen, wenn sie Missbrauchsopfer wurden, sodass es gar nicht naheliegt, dass sie dann auf die schulische Vertrauensperson zugehen, weil zunächst alle Erwachsenen keine Vertrauenspersonen mehr sind. Sie äußern die Signale ihrer Betroffenheit anders – aber so, dass wir Lehrer und Betreuungspersonen schulen können, diese Signale wahrzunehmen."

    Ein erster Schritt in diese Richtung sei die Aufnahme des Moduls Diagnostik in die Ausbildung der baden-württembergischen Lehramtsbewerber – ab dem Wintersemester diesen Jahres – ein Schritt hin zum Ziel, Missbrauchsfälle in einem frühen Stadium zu erkennen und dagegen anzugehen.