Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Sinfonien von Albéric Magnard
Klangvolle Wiedergutmachung

Deutschland hat etwas gutzumachen an Albéric Magnard. Diesem faszinierenden Komponisten, den sogar in seiner Heimat Frankreich kaum noch jemand kennt. Die erste Adresse, wenn es um Magnards sinfonisches Schaffen geht, ist derzeit das Philharmonische Orchester Freiburg mit seinem Chefdirigenten Fabrice Bollon.

Am Mikrofon: Johannes Jansen | 29.03.2020
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 4 , 1. Satz
    Eine Hörner-Episode weckt hochromantische Assoziationen. So wie der Vorname des Komponisten: Albéric. Hat man ihm schon an der Wiege aus dem "Ring des Nibelungen" vorgesungen? Tatsächlich war er einer jener "Wagnériens", die in Frankreich zunehmend auf Unverständnis stießen. Ihm konnte es gleichgültig sein, denn Erziehung und familiärer Hintergrund als Sohn des Herausgebers der Zeitung "Le Figaro" sicherten ihm intellektuelle wie materielle Unabhängigkeit. Dennoch hatte er es nicht leicht, dieser "Alberich" Magnard. In seiner Heimat führte er eine Außenseiterexistenz, die 1914 ein gewaltsames Ende fand. Er starb bei dem Versuch, sich und seinen Besitz gegen deutsche Angreifer zu verteidigen. Sein Haus wurde niedergebrannt. Ein Großteil seiner Werke ging dabei in Flammen auf, nicht jedoch die vier Sinfonien. Das Philharmonische Orchester Freiburg unter seinem Generalmusikdirektor Fabrice Bollon hat sie für das Label Naxos neu eingespielt. Heute geht es um die Sinfonien Nr. 1 und 2.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 4 , 1. Satz
    Trotz allen Waldesdufts, der dieser Partitur entströmt, wird schnell klar, dass hier kein Weber- und Wagner-Epigone werkelt, sondern ein in vielen Regionen bewanderter Komponist. Er spielt mit dem scheinbar Vertrauten, hat aber etwas Eigenes zu sagen. Klar wird auch: Da steht ein Dirigent am Pult, der Magnards Musik und ihre Könner-Attitüde versteht, ohne selbst in diese zu verfallen. Das Offensichtliche noch zu betonen, fiele ihm nicht ein. Geschmackssicher führt Fabrice Bollon sein Orchester durch die c-Moll-Sinfonie, darauf bedacht, stets eine Spur unter dem maximal Möglichen zu bleiben. Schon das diese Sinfonie op. 4 eröffnende "Strepitoso" ist für ihn nur ein "Als-ob" und keine Einladung zur Lärmentfaltung. Da kommt einiges in Bewegung und formt sich zu einem dynamisch und instrumentationstechnisch reich schattierten Klanggebilde mit einer für ein sinfonisches Erstlingswerk erstaunlich selbstbewussten Dramaturgie. Hörerwartungen werden unterlaufen, weil den kraftvollen Aufschwüngen und Steigerungswellen die Richtung fehlt. Kommt das Ziel in den Blick, weicht Magnard aus und bereitet so dem ersten Satz kein rechtes Ende. Nach einer großartig verlangsamten Aufwallung von Bruckner’schem Format fällt das Konstrukt in einen Zustand der Leere.
    Orchester als Riesenorgel
    Aus dem Ungefähr schwebt dann der zweite Satz herein, ein nah am Wasser gebautes "Religioso", und der Klangapparat nimmt den Charakter einer romantischen Riesenorgel mit Saxophonregister an.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 4 , 2. Satz
    Da kommt der Forte-Einsatz mit Pauke und Horn-/Fagott-Mixtur vielleicht nicht ganz auf den Punkt, aber der Gesamtwirkung tut es keinen Abbruch. Und weil Fabrice Bollon und seine Freiburger Maß zu halten wissen, geht dem Choralsatz in seiner beständig anschwellenden Feierlichkeit bis zum Schluss auch nicht die Puste aus.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 4 , 2. Satz
    Rückgriffe auf das Hauptthema in vielerlei Gestalt stärken das satzübergreifende Prinzip, wie es sich in vielen Nachbarwerken aus der Zeit vor der Jahrhundertwende findet, speziell bei César Franck. Aber hier liegt der Ansatzpunkt eher bei Erinnerungsmotiven à la Richard Wagner, unter dessen Einfluss auch Vincent d’Indy geraten war, Magnards wichtigster Lehrer und Widmungsträger dieser Sinfonie. Nachdem sich der Choral in etwas frömmelnder Harmoniums-Verkleidung verabschiedet hat, jongliert das Scherzo mit "Meistersinger"-Versatzstücken auf dem schmalen Grat zwischen Wagner-Reverenz und -Parodie.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 4 , 3. Satz
    Musikalischer Quereinsteiger
    Das Erstaunlichste an diesem Komponisten ist, dass ihm praktisch auf Anhieb Meisterleistungen gelangen, obwohl er sich das Metier erst als Spät- oder vielmehr Quereinsteiger nach einem Jurastudium erobert hat. Das Initialerlebnis soll ein Besuch der Bayreuther Festspiele gewesen sein. So steht es in allen Lexika und auch im sparsam ausgestatteten Booklet dieser CD, das eigentlich nur ein englisch-französisches Beiblatt ohne deutsche Übersetzung ist.
    Nach dem nicht unumstrittenen, unterm Strich aber ermutigenden Erfolg seiner ersten Sinfonie riskierte Magnard mit der zweiten den Eklat – und bekam ihn auch. Das ist verwunderlich, denn im Aufbau ähneln sich beide Sinfonien, obwohl diese zweite mit ihrem "Ouverture" genannten ersten und einem "Danses" überschriebenen zweiten Satz eher den Anstrich einer Suite hat. Dieser Tanzsatz trat an die Stelle der in der Erstfassung von 1893 noch enthaltenen "Fugues" und verkürzte die Gesamtdauer beträchtlich. Doch so hörenswert das Ergebnis ist – die "Furie des Verschwindens" ließ sich nicht mehr besänftigen.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 2 E-Dur, op. 6 , 2. Satz
    Mit feinem Pinsel
    Magnard weiß raffiniert zu orchestrieren, ohne dafür ein Strauss’sches Riesenorchester zu bemühen. Die Freiburger und ihr Chef Bollon erweisen sich als gut eingespieltes Team, setzen die Anweisung "Très nuancé" im dritten Satz mit feinem Pinsel um und sind in dieser Hinsicht der alten, insgesamt etwas spritzigeren Konkurrenzaufnahme des Orchestre de Toulouse unter Michel Plasson sogar überlegen.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 2 E-Dur, op. 6 , 3. Satz
    Klanglich hat die zweite gegenüber der ersten Sinfonie spürbar abgespeckt. Aber das Finale strebt hier wie dort nach Großartigkeit und streift die Grenze zum Bombast. Ein ganzes Jahr habe er daran gearbeitet, berichtete Magnard dem Freund und Dirigenten Guy Ropartz, dem zu verdanken ist, dass Werke wie die Oper ›Guercœur‹ und auch die Sinfonien nicht komplett in Vergessenheit gerieten.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 2 E-Dur, op. 6 , 4. Satz
    Was die unter Studiobedingungen produzierte E-Dur-Sinfonie an Perfektion und klanglicher Präsenz der im Konzertsaal aufgezeichneten ersten Sinfonie voraus hat, macht diese, ungeachtet kleinerer Unvollkommenheiten, durch spürbar größere Emotionalität wieder wett. Harmonisch kühner ist auf jeden Fall die zweite, doch bei aller Liebäugelei mit dem Impressionismus gibt es auch barockisierende Tendenzen in Passagen von etwas zielloser Geschäftigkeit, und nicht immer verstehen es die Freiburger, dieses Manko brillant zu überspielen.
    Musik: Albéric Magnard, Sinfonie Nr. 2 E-Dur, op. 6 , 4. Satz
    Albéric Magnard: Sinfonien Nr. 1 und 2
    Philharmonisches Orchester Freiburg
    Leitung: Fabrice Bollon
    Naxos