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Singende Wiedertäufer

Nun endlich hat sich das Theater in Münster der Herausforderung Meyerbeers gestellt, nachdem es bereits vor elf Jahren mit der Uraufführung von Azio Corghis Oper "Divara" eine der konfliktreichsten Phasen der regionalen Geschichte und die radikalprotestantische Politik der "Täufer" ins Visier genommen hatte. Hilfreich war dem Großprojekt die neue Werk-Ausgabe von "Le prophète", die das in der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte ausgeschiedene Material wieder zugänglich und dadurch neue Lesarten des Stücks möglich machte. Matthias Brzoska, einer der Herausgeber, im Gewühl der Premieren-Pause:

Von Frieder Reininghaus | 27.09.2004
    Es sind mehrere vollständig Nummern neu, die man nie gehört hat und die heute Abend uraufgeführt werden. Zum Beispiel der Selbstmord-Monolog der Berthè, außerdem sind sehr viele handlungserläuternde Rezitative neu und auch viele Ballett-Szenen, die wir hier allerdings nicht sehen.
    Damit das Stück überhaupt in einem in Münster realisierbaren und rezipierbaren Rahmen aufgeführt werden konnte, wurden nicht nur die wichtigsten editorischen Novitäten in die neue Werk-Fassung integriert, sondern im Gegenzug auch wieder kräftige Striche gemacht (einfach, damit der Opernabend, der ohne Ballett auskommen muß, nicht mehr als fünf Stunden dauert). Die chemisch keineswegs reine Sozialutopie, deren Intitiatoren der Librettist Eugène Scribe wie der Komponist Meyerbeer ein entschiedenes Engagement gegen Bauernarmut und Fürstenwillkür zubilligte, erscheint so in nicht ganz unerheblich verändertem Licht: Gegenüber dem umfunktionierten Historien-Drama "Le prophète", das John Dew 1986 in Bielefeld als Kammerspiel zeigte und das Hans Neuenfels 1998 an der Wiener Staatsoper zu einer psychoanalytische Studie machte, wahrt die neue Produktion in Münster die Balance zwischen den verschiedenen Komponenten, die in dieser 'Grand opéra' zusammentreffen - auch wenn die Wahl der Bildebene alles andere als unanfechtbar erscheint.

    Wolfgang Quetes ließ Heinz Balthes einen Bühnenraum bauen, der an den Eingangsbereich des nahe gelegenen Theater-Parkhauses erinnert: Ein aufgeschnittenes Oktogon - Beton-Architektur mit einem Stück Treppe, die in tiefes Blau getaucht wurde. Es ist dasselbe Blau, das Berthès Kleid schmückt und so die Braut des Schankwirts Johann von Leyden, der in die Funktion des Propheten gedrängt wird, optisch aus dem Aufmarsch der armen Leute heraushebt. Und die muten an, als stammten sie - nicht anders als die Bewaffneten der verschiedenen politischen Gruppierungen - einem Sozialdrama Gerhart Hauptmanns.

    Durch Drehungen wird der Wechsel der Schauplätze angedeutet: Von der Zwingburg des Grafen Oberthal geht es so kräftig blau in die Kneipe zu Leyden (die einst sicher nicht so weiträumig war), weiter in verschiedene Unterstände bei der Belagerung Münsters durch die eigentlich pazifistischen "Täufer" und hinein in die blauäugige Stadt, in der sich Johann nicht nur zum geistlichen Führer, sondern auch zum weltlichen Herrscher aufschwingt. Der Machtappetit kommt mit dem Essen - und sehr umsichtig verfährt Regisseur Quetes, der die Elemente der Historie (von 1534-35) gradlinig, ohne Brechung "erzählt", auch mit den eingelagerten und an zentrale Stelle rückenden persönlichen Konflikten: den der Berthè mit dem Grafen Oberthal und mit dem Mann ihres kurzen heftigen Lebens - Carmen Acosta sticht in dieser Partie positiv hervor - und den Konflikten um und mit der Mutter Fidès, der Suzanne McLeod eine ergreifende Stimme verleiht.
    Ivan Törzs sorgt mit dem bemerkenswert leistungsfähigen Chor und dem Sinfonie-Orchester Münster für einen stimmigen Rahmen, in dem die Glanzlichter der Clarinetten-Soli und der Trompeten-Signale aufblitzen, die dunkle Färbung der Partitur des Skeptikers Meyerbeer aber hinreichend deutlich wird. Das Terzett der Täufer, die religiösen Fanatismus mit Selbstverwirklichungsabsichten paaren, macht seine böse Sache ebenfalls glänzend.

    Allein die beiden männlichen Protagonisten - Graf Oberthal und Prophet Johann - mag man sich von stimmkompetenteren Sängern besetzt wünschen. Daß und wie letzterer ein Muttersöhnchen gewesen sein mag, zeigt die Inszenierung überzeugend. Und sie schlägt schließlich den Bogen zum großen Vernichtungswerk eines anderen Kleinbürgers und Diktators: Bilder des im 2. Weltkrieg zerbombten Münster krönen das letzte Finale auf geschichtslehrsame Weise.