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Sinn und Erkenntnis

Der rumänische Autor Mircea Cartarescu erweist sich in seiner Romantrilogie "Orbitor" als Erzähler des Monströsen. Das zweite Buch "Der Körper" handelt vom Künstler als Kind und jungem Mann, von Initiationserlebnissen für die Fantasie und kreist um die Fragen nach Sinn und Erkenntnis.

Von Jan Koneffke | 16.11.2011
    Die Abrissarbeiten an der Bukarester Altstadt sind schon in vollem Gange, als auch der Ich-Erzähler aus seinem Wohnblock vertrieben wird, dem letzten noch übrig gebliebenen Haus weit und breit. Ihm gegenüber, am Horizont, erhebt sich bereits "das tiefgefrorene Mammut" des Diktatorenpalasts mit dem euphemistischen Namen "Haus des Volkes". Nun sucht Mircea, der mit dem Autor namensgleiche Erzähler, Unterschlupf in der elterlichen Wohnung. Mit dieser erzwungenen Rückkehr, kehren auch die Erinnerungen zurück: An seine Kindheit in den 50er-/60er-Jahren und an seine Eltern, insbesondere aber die Mutter, nach der schon der kleine Junge "unentwegt auf der Suche war". Von ihrer engen Beziehung erfährt man aus einer der schönsten Passagen des Buches um die in Heimarbeit Teppiche webende Frau: Bald schon hält sie sich nicht mehr an die Mustervorlagen, sondern erfindet, zusammen mit dem Kind, immer phantastischer werdende Bildmotive, auf die sogar die Staatsicherheit aufmerksam wird. Aberwitzigerweise der Spionage verdächtigt, verschwindet sie für eine Woche in Securitategewahrsam. Diese anrührende Episode gerät Cartarescu zu einer Metapher für die (Gegen)Macht der Fantasie und charakterisiert sein eigenes Erzählen. Denn die endlose Abfolge von Bildern auf den Teppichen seiner Mutter, "immer fließend" und "immer auf etwas verweisend", kennzeichnet auch Cartarescus Roman.

    "Meiner Meinung nach richtet sich die Fantasie immer gegen die Macht, gegen jede Form von Macht. Sie selbst ist keine Instanz der Gewalt, sondern ein allumfassender Strom. Ja, ich glaube, dass ich mit dieser Episode, die auch mir die liebste meines Buches ist, versucht habe, einen dreidimensionalen Teppich zu imaginieren, einen von meiner Mutter geschaffenen Gewebewürfel, der nicht nur die ganze Welt repräsentiert, sondern auch mein Manuskript selbst, die Romantrilogie Orbitor. Dieses metaphysische Objekt ist ein Abgrund meines Buches und in gewisser Weise der Triumph der Imagination und des Traums im Angesicht der harten und blinden Wirklichkeit."

    Das macht die Faszination und gleichzeitig die Verstiegenheit des Ganzen aus, denn der rumänische Autor zielt mit seinem 600-seitigen Buch – das nur das Mittelstück einer fast 2000 Seiten umfassenden Trilogie bildet – tatsächlich auf alles, die ganze Welt. Dabei wird die Reise zwischen Realem und Imaginärem immer wieder zum Höllentrip, zu einer grausigen Fahrt auf Dantes Spuren in ein zeitgenössisches Inferno.

    In diesem Buch gibt es nichts, was es nicht gibt: Einhörner mit Spiralhörnern vor der Stirn, die sich ins Unendliche drehen, Flöhe, groß wie Schafe, ein Mädchen mit einer Tarantel anstelle des Herzens und Muttermalen, die bei Dunkelheit Sternbilder werden, Schmetterlinge in allen Farben und Größen, an Elephantiasis leidende Huren in den Schaufenstern des Rotlichtviertels von Amsterdam, Zwerginnen und Schlangenmenschen, und immer wieder Türen, die in alptraumhafte Räume oder in apokalyptisch erhabene Landschaften führen: Über die abschüssige, blumenübersäte Talsenke "breitete sich ein tiefer Hochsommerhimmel, entzündet von der in der Mitte des Gewölbes stehenden Sonne, aus deren Photosphäre sich gewaltige Lavazungen erhoben, blendende Brücken schlugen und sich langsam niederstürzten …".

    "Der Körper" nennt sich das Mittelstück der Trilogie und spielt damit auf die, symmetrische, Gestalt des Schmetterlings an. Doch mehr als das: Diese wahrhaft "körperliche" Prosa zerbirst geradezu vor Sinnlichkeit, wie nicht nur die großartig ausgepinselte Orgie in einem bulgarischen Gasthaus beweist. Dabei kehrt der Roman, in dem mythische Welten mit den Erkenntnissen von Stringtheorie und Neurologie, Neostrukturalismus und Psychoanalyse auf unnachahmliche, regelrecht unerhörte, Weise kurzgeschlossen werden, immer wieder von seinen Ausflügen in Mikrokosmos und Makrokosmos zu einer festen Körperlichkeit zurück, und erzählt vom kleinen Mircea ("Mircisor") in einem so vitalen wie repressiven Land.

    "'Der Körper' scheint mir der zentrale Punkt meines Romangewölbes und ohne Zweifel konzentriert er sich auf meinen Körper, den Körper des Kindes, das ich war, den Körper des Jugendlichen. In meiner Vorstellung meint 'der Körper' nicht nur meine inneren Organe, meine Haut, meine Knochen, sondern das gesamte Universum, denn für mich existiert kein Unterschied zwischen innen und außen. Alles ist mein Körper, die ganze Wirklichkeit. Aus diesem Grund glaube ich, dass er für diesen zweiten Band der Trilogie absolut wesentlich ist, seinen höchsten Punkt darstellt. Wenn sich der erste Band auf das Bild der Mutter und der Familie konzentrierte, auf meine Herkunft mütterlicherseits, und im dritten Band die Historie im Vordergrund steht, die Revolution von ´89, die Geschichte des rumänischen Kommunismus, so hat der zweite Band etwas Schwebendes an sich. Er ist wie der schwerelose, vom Boden abgelöste, Körper eines Kindes oder Jugendlichen, der sich in einem Zustand der Gnade befindet, in metaphysischer Schwebe."

    Dennoch gelingen Cartarescu hier, in der Schilderung des kindlichen Blicks auf die kommunistische Propaganda oder die Doppelmoral der Erwachsenen, ganz bodennahe satirische Volten. Nein, Ironie und Komik sind diesem Autor der Apokalypse nicht fremd, etwa wenn es um Mirceas Onkel geht, den Securitateleutnant Stanila Ion, der für den Staatszirkus zuständig ist. Bei den Parteisitzungen in der Manege führt der Clown Ciacanica den Vorsitz: "Der Parteisekretär versuchte einzugreifen, wobei er sich mit dem Wasserstrahl aus seiner Blume im Knopfloch abkühlte, das Einmannorchester geriet mit dem Feuerschlucker ins Handgemenge, unter einem Heidenlärm von Mundharmonikas, Posaunen, Akkordeons, Tschinellen und Pikkoloflöten wälzten sie sich, von Flammen umflackert, im Sand, bis der Securitateoffizier plötzlich aufsprang und rief: `Zur Ordnung, Genossen, zur Ordnung´, wobei er seinen gefürchteten Dienstausweis in alle Himmelsrichtungen schwenkte."

    Doch handelt der Roman Mircea Cartarescus nicht zuletzt vom Künstler als Kind und jungem Mann, von den Initiationserlebnissen, die ihn in die Welt der Fantasie einführen, von seiner Anspannung, aus dem Ich, dem "rätselhaftesten Wort der Welt", das die Welt selbst und zugleich völlig nichtig ist, den "riesenhaften Roman der Wirklichkeit" und aller möglichen Wirklichkeiten herauszuspinnen. Denn "Sinn bekommt das Chaos nur deshalb, weil ich hier und kein Angström weiter links stehe, weil die Perspektiven sich auf mich zu verengen, denn ich bin die Pupille, ich bin ich, bin Mircea." So geht es in Cartarescus Buch tatsächlich um ganz alte Fragen: Sinn und Erkenntnis.

    "Ja, ich glaube wirklich, dass ein Buch, ein Roman nicht nur eine literarische oder ästhetische Erfahrung sein sollte, sondern im Innersten, in letzter Konsequenz ein Instrument der Erkenntnis. Ich glaube, Schriftsteller und Künstler im Allgemeinen, haben die Kunst nie nur als eine Sache des Vergnügens betrachtet, des ästhetischen Vergnügens als Zweck, sondern auch als eine Form der Erkenntnis, die sich von der wissenschaftlichen oder religiösen Erkenntnis unterscheidet, selbst dort, wo sie diese Erkenntnisse einschließt oder reflektiert – wohlgemerkt als eine Form der Erkenntnis an und für sich, denn die Kunst strebt nicht danach, die Welt in ihrer objektiven Struktur, sondern das Instrument der Erkenntnis selbst zu erkennen, das heißt, unseren Verstand, unsere Empfindungen; von ihnen, von unserer Innenwelt handelt die Kunst, und mein Buch macht dabei keine Ausnahme. Mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, habe ich versucht, mir diese Fragen zu stellen, nicht unbedingt, um sie zu beantworten, aber um ihnen eine Gestalt zu geben, einen Inhalt, der so konkret wie möglich ist, selbst dort, wo es um abstrakte Dinge geht, um Träume, Halluzinationen, um eine wiederhergestellte Erinnerung."

    Bei all diesen großen Fragen verleugnet der heimliche Held des Buches, Mircea Cartarescu, keineswegs, ein Ich an der Peripherie zu sein, am südöstlichen Rand Europas, was seine Anstrengung, den Totalroman zu schreiben, umso gewaltiger, aber auch umso glaubhafter macht. So sind die vielen magischen Türen in diesem Buch nicht nur als Türen zur Erkenntnis zu verstehen, sondern immer auch als Sehnsuchtspforten, als Fluchtwege aus einem Land, das bis zur Revolution von `89 ein Gefängnis war.

    Und damit schließt sich der Kreis zum anfangs noch übrig gebliebenen Wohnblock: Als "priapischer, ungemein schmerzender Penis der traurigsten Stadt dieser Welt" hatte er zunächst die Abrisswelle überstanden, bis auch er dem Willen des totalitären Regimes zum Opfer fiel. Das letzte Wort behielt sein Gegenüber am Horizont, das "tiefgefrorene Mammut … in der Abendröte mit der Wucht einer Entjungferung". Aus den sexuellen Metaphern lässt sich unschwer ersehen, was das werdende Schriftsteller-Ich zur Anstrengung zwang, diese riesenhafte Trilogie zu schreiben: Eine tiefe narzisstische Kränkung, Erniedrigung, Ohnmacht. Cartarescus Buch ist die totale Antwort auf das totalitäre Regime: Es ist zum Schluss sein Roman, der das letzte Wort behält.

    Mircea Cartarescu: "Der Körper", Roman. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold. Paul Zsolnay Verlag. Wien 2011. 607 Seiten