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Sinnlichkeit und Kunstgeschichte

"Edle Einfalt, stille Größe" - dies geflügelte Wort gehört für Gebildete wie Halbgebildete zum Thema Klassik. Johann Joachim Winckelmann, der es prägte, ist als Wiederentdecker der Antike, Begründer der Kunstgeschichte und Inspirator von Dichtern und Denkern der Goethegeneration bekannt. Weniger Beachtung findet jedoch die Tatsache, dass er das hehre, so weltentrückt klingende Ideal im Hinblick auf einen nackten Mann formulierte.

Von Dorothea Dieckmann | 12.01.2006
    Es ist die Figur des Laokoon aus der berühmten Statuengruppe, die im Todeskampf die Schönheit des männlichen Körpers offenbart. So steht es in Winckelmanns erster bahnbrechender Schrift:

    Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden ... Unter einem Gewande, welches der Künstler dem Laokoon als einem Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen sein.

    Die Bedeutung der Sinnlichkeit in Winckelmanns Kunstauffassung, aber auch in seinem Leben hat bisher niemand so konsequent verfolgt wie Wolfgang von Wangenheim in seiner jüngst erschienenen Biographie. Schon unter den Zeitgenossen war es ein offenes Geheimnis, dass "unser Winckelmann", wie Goethe schrieb, sich "in Gesellschaft von schönen Jünglingen belebte", und so gründet der in Berlin lebende Germanist und Kunsthistoriker seine so spannende wie instruktive, wunderbar elegant geschriebene Studie auf die homoerotische Veranlagung und Lebensweise des berühmten Archäologen und Altertumsforschers:

    " Die griechische klassische Antike war die Epoche, die am klarsten seinen persönlichen privaten Vorlieben entgegenkam durch ihre Herausstellung der männlichen Nacktheit, die ganz merkwürdige Gründe hatte, die Winckelmann übrigens selber nicht wusste und die man heute vermutet in der Religion. Die Griechen waren natürlich keinesfalls im Alltag nackt, weder die Männer noch die Frauen, und sie waren genauso freizügig und dabei auch schamhaft wie wir etwa, nur mit etwas anderen moralischen Schwerpunkten. Also, ihre Moralstruktur war anders, und das hat Winckelmann so sehr gefallen daran. Er setzt sich ja sehr entschieden gegen die christliche ab, unter der er so sehr zu leiden hatte und die er ja in der Tat auch mit sehr verächtlichen Worten gelegentlich streift und bespricht."

    Bis zu seinem 31. Lebensjahr verbrachte der 1717 als Schusterssohn im protestantischen Stendhal geborene Winckelmann sein Leben in engen, ärmlichen Verhältnissen als Haus- und Lateinschullehrer in der altmärkischen Provinz, bevor er in der Kunststadt Dresden Bibliothekar wurde. Dort erhielt der einsame Autodidakt die Kontakte und Anregungen, die ihn im Jahr 1755 zum Umzug in die Ewige Stadt bewogen. Was folgte, war die Geschichte einer persönlichen Befeiung und einer Karriere, die nach dreizehn römischen Jahren jäh endete, als er seine einzige Reise nach Deutschland frühzeitig abbrach und auf dem Rückweg in Triest ermordet wurde. Im Hotel, wo er auf die Überfahrt nach Ancona wartete, schloss er Bekanntschaft mit seinem Zimmernachbarn, der ihn am Vormittag seiner Weiterreise aufsuchte und mit Schlinge und Messer so verletzte, dass er am selben Tag starb. Da war Winckelmann fünfzig und hatte es vom geschätzten Antikenexperten und begehrten Führer adliger Bildungsreisender zum Präsidenten aller Altertümer von Rom gebracht. Wangenheim deutet dieses erstaunliche Leben und Wirken, indem er Winckelmanns Exzerpte, Schriften, Briefe und Lektüren mit philologischem Spürsinn auf die Verbindung von Eros und Schönheit, verborgener Passion und sublimierter Kunstauffassung abklopft:

    Aus den Bleiwüsten der gedruckten Bücher war Winckelmann lesend über die Dichter und Historiker zu den antiken Kunstschriftstellern gelangt und über diese sehend vor eine Kunst, die genau dasjenige würdigte, was in der Gotik seiner Kindheit und dem Barock seiner Jugend nur als verborgen und verflattert und vor allem meist verhüllt wahrzunehmen war ... Das Wesentliche der Kunst hat für ihn einen erotischen Kern, der beim Anblick des "schönen Nackenden" empfunden wird.

    Dem Biographen geht es weniger um den Nachweis von Winckelmanns kaum ausgelebter, zur damaligen Zeit als Sodomie verfemter Homosexualität als um ihre indirekte Manifestation in seinen schwärmerischen Freundschaften, literarischen Deutungen und nicht zuletzt in seiner epochalen Kunsttheorie selbst. Griechische Kunst und griechische Liebe stimmten für ihn zusammen.

    " Es ist von vielen schon präzise benannt worden und belegt worden. Also, ich habe da überhaupt nichts entdeckt. Ich habe nur dieses noch einmal bezogen auf die Kunst, mit der er umging, die Literatur, mit der er umging, und wie beide ihn inspiriert haben, und jetzt komme ich selber hinein: Ich habe als Schüler und Student ja ähnlich mir die Ästhetik des menschlichen Körpers erschlossen, und ich habe auch die alten Sprachen gelernt in der Schule, ich habe also zur antiken Literatur einen analogen Zugang gehabt, und ich habe daher eine Person aufgebaut in dem Buch, die ja in viel großartigerer Weise dem entspricht, wie ich geworden bin, wie ich mich selber gefunden habe und woran ich mich erkannt habe. Es geht auch gar nicht um eine Einseitigkeit, sondern um jene Offenheit. Auch Winckelmann hat immer wieder gesagt, er ist da also nicht für eine Schwulokratie, sondern er ist schlicht für eine Relativierung."

    Allerdings führt diese Relativierung der herrschenden Geschlechterfixierung immer wieder zur Verabsolutierung der homoerotischen Perspektive. Zwar ist unübersehbar, dass Winckelmann die männliche der weiblichen Schönheit vorzog. Wangenheims Lesart wirkt aber oft allzu suggestiv und vereinnahmend, ja stellenweise misogyn. Das grundlegende Geschlechterverhältnis erfährt allerdings keine Erklärung:

    " Es müsste noch beschrieben werden, aber ich halte es nicht für relevant, denn es handelt sich jetzt nicht um ein Konkurrenzverhältnis, vor allem nicht um ein politisches oder hegemoniales, kein Verhältnis von der Stärke der Geschlechter, dem Auftreten etwa ... Die Griechen waren entschieden männlich dominiert, patriarchalisch strukturiert, und übrigens - ich habe soeben bei dem Rechtshistoriker Uwe Wesel gelesen, dass es ein richtiges Matriarchat nie gegeben habe, niemals, niemals."

    Wenn das Skulpturenideal männlicher Nacktheit der Verhüllung der meisten weiblichen Figuren gegenübergestellt wird, scheint Wangenheim mit Winckelmann in den alten patriarchalischen Zuschreibungen überein zu stimmen: Scham und Zucht für die Frauen, freie Unverschämtheit für die Männer. Die Schilderung der römischen Künstlerkolonie erweckt den Anschein, als handle es sich um eine Versammlung vorwiegend gleichgeschlechtlich orientierter Männer. Und unter den zeitgenössischen Winckelmannporträts wird ausgerechnet das der jungen Malerin Angelica Kaufmann, das den Buchumschlag ziert, recht stiefväterlich behandelt - ebenso wie die Schöpferin selbst:

    Angelica Kaufmann kam durch ihr Winckelmann-Porträt zu erstem Ruhm ... Winckelmann freute sich über ‚mein schönes Porträt von der Mademoiselle Kaufmannin.' Seine dritte Reise nach Neapel machte er zusammen mit ihr und dem Bruder Volkmann aus Hamburg; ihn erwähnt er mehrmals, sie mit keinem Wort. Sie zählte nicht.

    So kehren die Kinderkrankheiten des Feminismus - Vereinnahmung des eigenen und Abwertung des anderen Geschlechts - in der Rehabilitation von Winckelmanns Homoerotik wieder. Dennoch beeindruckt der Spürsinn, mit dem Wangenheim vorgeht, der natürlich auch eine entsprechende Interpretation der obskuren Ermordung Winckelmanns bereithält. Wer darüber hinwegsehen kann, dass die erhellenden Ableitungen des Autors zuweilen missionarische Züge annehmen, der wird an der plastischen Erzählweise und intellektuellen Präzision dieser sorgfältig edierten und illustrierten Biographie großen Gewinn haben.

    "Der verworfene Stein. Winckelmanns Leben."
    Eine Biografie des Kunsthistorikers Wolfgang von Wangenheim
    (Verlag Matthes & Seitz)