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Sinologe: Flucht des blinden Dissidenten ist peinlich für China

Der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng konnte trotz Bewachung aus seinem Hausarrest in die Pekinger US-Botschaft fliehen: Für den zuständigen Obersten Sicherheitschef sei das peinlich, sagt der Chinakenner Tilmann Spengler - und der Fall für das amerikanisch-chinesische Verhältnis "ärgerlich".

Das Gespräch führte Gerd Breker | 03.05.2012
    Tobias Armbrüster: Es waren dramatische Momente in den vergangenen Tagen für den blinden chinesischen Bürgerrechtler Chen Guangcheng. Erst entkam er aus einem streng bewachten Hausarrest und er konnte ausgerechnet in die amerikanische Botschaft in Peking flüchten. Nach tagelangem diplomatischen Tauziehen hat er das Gebäude dann gestern wieder verlassen – freiwillig, wie er zunächst gesagt hat. In anschließenden Interviews hat sich das etwas anders angehört. Die chinesische Führung hat allerdings zugesichert, dass sie ihn schützen will, aber niemand weiß genau, ob das etwas Gutes heißt. Unklar ist auch, ob die Familie des Bürgerrechtlers bedroht wurde, um Chen aus der Botschaft zu bewegen. – Mein Kollege Gerd Breker hat über diesen Fall gestern Abend mit dem Schriftsteller und China-Kenner Tilman Spengler gesprochen und er hat ihn gefragt, ob Erpressung Teil der Strategie ist im kommunistischen China.

    Tilman Spengler: Na gut, das ist eine der vielen Möglichkeiten, die ein repressiver Staat nutzt. Das gehört sicherlich dazu. Aber es gibt ja nun andere Fälle, wo man sich dann irgendwo auch daran gehalten hat. Der Dissident Fang Lizhi, der 1989 auch in die amerikanische Botschaft geflohen ist, musste dort, glaube ich, 13 Monate verbringen, ist aber dann auch herausgekommen. Also es ist kein erfreulicher Fall, aber man sollte sich eigentlich mehr darüber freuen, wenn die Botschaft sich bewahrheitet, dass der tapfere blinde Rechtsanwalt tatsächlich mit seiner Familie sich in dem Chaoyang-Krankenhaus, wie wir es hören, vereinigen kann und dass Frau Clinton darüber ein Auge hält, wenn ihm schon nicht ein Haar gekrümmt wird, dass es ihm aber weiter physisch so viel besser geht, als ihm das in den letzten vier, fünf Jahren passiert ist.

    Gerd Breker: Ist es möglich, Herr Spengler, dass lokale Behörden der Zentrale in Peking hier ins Handwerk gepfuscht haben?

    Spengler: Das war eine Vermutung, die man sehr stark gehabt hat, aber es ist ein bisschen merkwürdig, weil dieser Fall ist relativ früh, also schon, wenn ich mich recht erinnere, vor fünf, sechs Jahren, zu Ohren oder zu Augen von einem gewissen Herrn Zhou Yongkang – das ist der oberste Chef Chinas für Sicherheitsfragen – gekommen und die haben da versucht, immer wieder offenbar ein wenig nachzufragen, aber nachfragen bedeutet nicht, die Sache irgendwie zu lösen. Man hat es ja bis in diese gespenstischen Details gemacht, dass alles praktisch nicht nur überwacht, sondern doppelt überwacht wurde. Leute, die ihn besuchen wollten, wie berühmte amerikanische Filmschauspieler, wurden irgendwo mit dem Auto abgedrängt und so weiter. Das stimmt schon offenbar oder das ist auch ein Anteil dieser Geschichte, dass da eine Lokalbehörde Amok gelaufen ist, und deswegen ist es natürlich jetzt für eben diesen obersten Sicherheitsrepräsentanten der Volksrepublik China ein bisschen peinlich, dass seine Schlapphüte den offenbar nicht haben an irgendeiner Bewegung hindern können.

    Breker: ... , denn für die ist es ja der zweite Zwischenfall binnen weniger Monate. Im Februar hat sich ja der frühere Polizeichef von Chongqing in ein US-Konsulat geflüchtet. Seine Flucht war damals mit Grund zur Entmachtung des Spitzenfunktionärs Bo Xilai. Versagen die da?

    Spengler: Ja gut, ich meine, das sind nun wirklich zwei weiß Gott ganz anders gestrickte Fälle. Das, was in Chongqing passiert ist oder was unter Bo Xilai passiert ist und was mit dem Polizeichef der Stadt passiert ist, der halt sich in das amerikanische Generalkonsulat von Chengdu geflüchtet hat, ist nicht zu vergleichen mit dem, was halt unserem tapferen Anwalt da widerfahren ist, und die Tatsache, dass die Amerikaner in beiden Fällen das auszubaden hatten, erregt fast ein wenig das Mitleid für die Amerikaner, und man muss nun in diesem Falle sagen, hier im Falle, wenn das gut ausgeht, dann haben die Amerikaner das richtig vorzüglich gemacht, weil eine andere Karte haben die nicht in der Hand. Sie müssen sich überlegen, dass die Amerikaner auf die Kooperation der chinesischen Regierung außerordentlich angewiesen sind in diesem Moment, und Sie müssen sich überlegen, dass die Chinesen der größte Schuldherr Amerikas sind.

    Breker: Sie haben es angesprochen: Ab morgen beginnen die jährlichen strategischen Gespräche zwischen den USA und China und da gibt es eigentlich bedeutsame Themen. Da ist das Handelsungleichgewicht zwischen den beiden Ländern, da ist das nordkoreanische Atomprogramm, das iranische Atomprogramm, der drohende Bürgerkrieg in Syrien. Und nun nach dem Fall Chen, muss man sagen, drängen sich auch die Menschenrechte in China auf die Agenda.

    Spengler: Gut, also die stehen ja immer so als eine der Karten, die man nicht notwendigerweise im Ärmel halten muss, weil die Chinesen wissen da normalerweise schon, was da kommt in diesem Punkt. Aber es ist in diesem Fall natürlich besonders ärgerlich, weil zu dem, was Sie völlig zurecht angemerkt haben, kommt ja auch noch, dass die Amerikaner irgendwie rechtfertigen müssen, dass sie eine Reihe von Kampfflugzeugen nach Taiwan verkaufen, was sozusagen die außenpolitische Lage in dieser Region vielleicht stabiler, vielleicht aber auch prekärer macht.

    Breker: Wir haben schon angesprochen, Herr Spengler, dass China vor einem Generationswechsel steht, und dieser Generationenwechsel, der ansteht, der wird überschattet von der Affäre um den geschassten Spitzenpolitiker Bo Xilai. Der Fall Chen, hat der mit diesem Machtkampf überhaupt nichts zu tun?

    Spengler: Es ist natürlich so, dass Bo Xilai, wenn das stimmt, was wir hören – und es stimmt ja nun nicht immer alles, was wir hören -, also wenn es stimmt, was wir hören, dann hat der in Ungnade gefallene Bo Xilai große Unterstützung gehabt von dem Sicherheitschef, dem vorhin von uns im Gespräch schon erwähnten Herrn Zhou Yongkang. Und wenn es jetzt Herrn Zhou Yongkang ein bisschen an den Kragen geht, weil seine Behörde nicht mal einen kranken Blinden davon abhalten kann, aus einem gottverlassenen Dorf in Shandong zu flüchten – das ist mehr Kilometer von Peking entfernt, als die Landkarte zeigt -, also wenn dem das angekreidet werden kann, dann sitzt dessen Stuhl, oder dann würde man sagen, sein Stuhl könnte ein klein wenig in Unebenheit geraten.

    Breker: Was weiß man eigentlich, Herr Spengler, über diesen Machtkampf? Wer kämpft da eigentlich gegen wen? Für was stehen die Kämpfer?

    Spengler: Herr Breker, es ist gut, dass wir jetzt eine halbe Stunde Zeit haben, um dieses Problem in jeglichem Detail zu erörtern. Aber es ist kurz gesagt, oder wenn man es wirklich kriminell verkürzen kann, natürlich ein ganz stinknormaler Machtkampf um die Nachfolge der beiden Herren, Hu Jintao und Wen Jiabao, also dem Parteichef und dem Ministerpräsidenten, die jetzt abtreten werden im Herbst, und da sammeln sich natürlich die Truppen und es gibt Truppen, die sind eher konservativer Natur, es gibt Truppen, die sind eher marktorientierter Natur, und es gibt Truppen, die sind sozusagen etwas drittes und dieses dritte war wohl das, was der Herr Bo Xilai, also der frühere Bürgermeister von Chongqing, repräsentiert hat. Das war so eine Art ideologischer Rückgriff auf den Maoismus, also sozusagen die Macht der Straße als politisches Element.

    Armbrüster: So weit der China-Kenner Tilman Spengler gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Gerd Breker.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.