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Sirenengesang statt Kanon

Auf über 1200 Seiten hat der ehemalige Kulturradioredakteur Hanjo Kesting Grundschriften der europäischen Kulturgeschichte zusammengetragen. Ihm ist ein betörendes Kompendium gelungen.

Von Florian Felix Weyh | 15.06.2012
    Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen

    "Der alte Goethe wurde besucht von einer Dame und man kam ins Gespräch, und dann sagte die Dame – das muss um das Jahr 1825 gewesen sein –, sie müsse nun Kant endlich lesen. Kant, "Die Kritik der reinen Vernunft" und die anderen beiden Kritiken. Und Goethe sagte ihr: "Das brauchen Sie gar nicht zu lesen, das haben Sie jetzt schon in sich!" Es gibt die direkte Aufnahme durch Lektüre und geistige Ver-arbeitung, und die indirekte, wenn es sozusagen in den kulturellen Humus ein-gegangen ist, wo dann andere Pflanzen erblühen, die aber den Saft oder den Dünger der anderen Schriften in sich erhalten."

    Vita brevis, ars longa – das Leben eines Lesers ist einfach zu kurz, um all die geistigen Schätze zu bergen, die sich in der europäischen Kulturgeschichte an-gesammelt haben. Tröstlich, aus dem Munde Goethes via Hanjo Kesting zu hören, dass es nicht zwingend der Originallektüre bedarf, um von den Altvorderen etwas mitzunehmen, und seit dessen Zeiten hat sich die Lage noch verschärft: Was sollte man zur kulturellen Selbstvergewisserung in voller Länge kennen, und was darf man als Exzerpt zur Kenntnis nehmen? Was bereitet noch heute ästhetischen Genuss, obwohl es ein archaischer Urtext ist, und was ist zum Quell unendlicher Variationen, Nach- und Umschriften über die Jahrhunderte geworden? Die Bibel, sicher, und die Odyssee. Doch mancher Topos liegt noch weiter zurück in der Menschheitsgeschichte:

    "Er, der den abgrund sah, die grundfeste unseres landes,
    der das meer kannte und wusste, was zu wissen ist,
    Gilgamesh ... der den umkreis der erde sah, land um land,
    er, dem sich der tiefste grund aller dinge offenbarte,
    er, der die geheimnisse entdeckte und die mysterien erfuhr,
    er brachte eine legende zurück aus der zeit vor der Sintflut." (Bd. 1, S. 14-15)


    "Gilgamesch ist ja insofern outstanding, weil es so spät entdeckt worden ist. Also erst in den 1870er-Jahren. Bis dahin hat es ja in der europäischen Kulturgeschichte keine Rolle spielen können und hat sich erst spät entfaltet. Allerdings hat man dann entdeckt, dass Elemente des Gilgamesch-Epos nicht nur in die Bibel, wie die Sintflut-Episode, eingegangen sind, sondern dass auch Homer offensichtlich von Gilgamesch inspiriert gewesen ist. Und wenn man diesen Gedanken fasst, wie der alte Orient mit zu den Grundlagen der europäischen Kultur gehört, und dass das sogenannte griechische Wunder keine Schöpfung aus dem Nichts, keine creatio ex nihilo gewesen ist, sondern doch stark gespeist wurde von kulturellen Anregungen, die aus dem Osten kamen, dann sieht man auch die europäische Kulturgeschichte in einem weiteren, größeren Zusammenhang, und nicht allein auf Europa fokussiert."

    "Erfahren, woher wir kommen", lautet im Untertitel das dreibändige, mehr als 1200 Seiten umfassende Kompendium aus europäischen "Grundschriften", das Hanjo Kesting zusammengestellt hat. So etwas kann man einfach oder gut machen. Einfach, indem man rechtefreien alten Texte zusammenklaubt und unkommentiert zwischen Buchdeckel presst. Oder gut, indem man sich mit ihnen intensiv aus-einandersetzt, eine zeitgenössische Vermittlungsform findet und Begründungen für ihren inneren Zusammenhang liefert, ohne dabei allzu akademisch zu werden. Und Kesting, das sei schon hier verraten, ist ein betörendes Werk gelungen, dessen Sogwirkung jeden ergreift, der sich auch nur zwanzig, dreißig Seiten darauf einlässt – und zwar unabhängig davon, ob er eine spezielle Affinität für Kant oder Sokrates, für Rousseau oder Voltaire, für die griechische Mythologie oder den germanischen Nibelungenstoff besitzt. Bei Letzterem muss sogar der Autor ein wenig Abbitte leisten:

    "Dieser latente Affekt, den man dagegen in sich trägt, das geht mir natürlich genauso! Ich glaube auch sogar, bei sorgsamer Lektüre wird man das spüren, dass ich gewisse, sagen wir Vorbehalte gegen das Nibelungenlied habe, die vor allen Dingen aus der Rezeptions-geschichte dieses Liedes gespeist sind, aber das Lied selber ist daran nicht ganz un-schuldig."

    Indem es reichlich Stoff für politisch missbräuchlichen Heldenkult lieferte:

    "Als man das Nibelungenlied sechshundert Jahre nach seiner Niederschrift in der Epoche der Romantik stürmisch wiederentdeckte, vollzog sich eine doppelte Aneignung: auf der einen Seite durch eine kritische Philologie, die gerade an den mittelalterlichen Texten ihr Rüstzeug ausbildete, auf der anderen Seite durch das damals aufkommende Nationalgefühl, das sich mit Verspätung seine eigenen Traditionen zu schaffen suchte. Goethe widerstrebte das, er sah im Nibelungen-lied vor allem ein bedeutendes Literaturwerk. (...) 'Die Kenntnis dieses Gedichts gehört zu einer Bildungsstufe der Nation.' Das war nicht politisch, noch weniger nationalistisch gemeint. Zum Sprecher solcher Tendenzen machte sich August Wilhelm Schlegel, als er in seinen Berliner Vorlesungen ausrief: 'Wenn man das Nibelungenlied, das eine glorreiche Welt darstellt, große Menschen mit einer vaterländischen Gesinnung, wenn man ein solches Werk zum Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend macht, dann wird es auch gelingen, kraftvolle Männer zu erziehen und die Einheit des Reiches wieder herzustellen.'" (Bd. 2, S. 37-38)

    Auch Affekte gegen die Bibel, das Kommunistische Manifest oder Nietzsche sind nicht ungewöhnlich; doch ließ sich Hanjo Kesting davon nicht beirren. Was wirksam ist, muss ja nicht hundertprozentig gefallen, und dass sich ein Text über Generationen hinweg als Faszinosum erweist, impliziert keineswegs ein ein-deutiges ästhetisches, moralisches oder gar politisches Urteil. Deswegen ist bei den Grundschriften auch nirgendwo von einem Kanon die Rede, einer Lesepflicht, die sich in Zeiten überquellender Bücherregale ohnehin kaum aufrecht erhalten ließe. Stattdessen setzt Kesting auf Verführung, auf die wohlgefällige Rede, den Sirenengesang:

    "Es ist ja eine Vortragsreihe, aus der diese dreibändige Edition hervorgegangen ist, als wir's begannen, wussten wir natürlich noch nicht, wie umfangreich es wird. Vor allem wussten wir noch nicht, wie gut es beim zuhörenden Publikum ankommt, und so war das ein work in progress, das Jahr für Jahr fortgeschrieben wurde. Erst neun, dann 18, dann 27 Ver-anstaltungen, dann basta! Und diese 27 bilden natürlich keinen Kanon, sondern es geht darin um Schriften, die in der europäischen Kulturgeschichte in gewisser Weise Knotenpunkte darstellen, irgendwelche Strudel, in denen sich die europäische Kultur immer wieder weiter transferiert hat. Also es sind Schriften, die nicht Meisterwerke bezeichnen sollen, sondern die in der europäischen Kulturgeschichte fortwährend gegenwärtig geblieben sind."

    "Bürger unsrer Heimat Theben, sehet, das ist Ödipus,
    Löser der berühmten Rätsel, unser allergrößter Mann!
    Wer von uns Thebanern sah wohl nicht voll Neid auf all sein Glück!
    Und in welche Unglückssturmflut ist er nun hinabgestürzt!
    Also heißt es prüfend schauen auf den allerletzten Tag!"


    An dem sich durchaus erweisen mag, dass "König Ödipus" von Sophokles durchaus zu den immerwährenden Werken der Menschheit zählt. Denn:

    "Alles in diesem Drama ist meisterhaft gefügt, konsequent entwickelt, ungeheuer komprimiert. Es gibt keinen überflüssigen Vers, keinen Überschuss an Rhetorik. Die Wucht, mit der das Stück auf uns wirkt, ist Resultat der Einfachheit, ja Nüch-ternheit, mit der es vorgetragen und gesteigert wird. Man glaubt es gut zu kennen, aber bei neuerlicher Lektüre ist man wieder verblüfft, ja überwältigt von der Dichte der Dialoge und der unwiderstehlichen Sogkraft der Szenenfolge. Alles stürzt kataraktartig dahin wie ein reißender Strom, unterbrochen, gehemmt, verzögert nur von den Liedern des Chores." (Bd. 1, S. 225)
    Beschriebe Hanjo Kesting hier nicht das Sophokles-Drama, könnte man meinen, er schildere augenzwinkernd das eigene Opus, denn zwar stürzt dessen Erzählstrom nicht reißend dahin, wohl aber wälzt er sich mit einer ebenfalls unwidersteh-lichen Kraft von der Quelle zur Mündung, "unterbrochen, gehemmt, verzögert" nur von exemplarischen Textstellen der vorgestellten und erläuterten Grundschriften. Dabei halten die versammelten 27 mündlichen Vorträge der schriftlichen Form mühelos stand. Es sind vor Belesenheit funkelnde Essays, die sich aber jede be-lehrende Attitüde verkneifen. Wem das erste Kapitel des ersten Bandes über den Gilgamesh-Epos noch fremd erscheint, der hat spätestens beim zweiten, dem Buch Genesis aus dem Alten Testament, das Gefühl, einen vertrauten Raum zu betreten, eine geistige Heimat, und dieses Gefühl lässt ihn über 1.200 Seiten hinweg dann nicht mehr los. Auch wenn Platons "Apologie des Sokrates", Vergils "Aeneis" oder Hartmann von Aues "Gregorius" nicht mal mehr zum Small-Talk-Bestand gebildeter Abendgesellschaften gehören, hat das Haus der kulturellen Überlieferung genügend Ritzen, durch das die alten Stoffe einsickern: Irgendwie tragen wir sie schon alle in uns, und Hanjo Kesting muss nur einen Ton an-schlagen, um bei seinem Publikum die entsprechende Resonanz zu erzeugen. In einem Fall lässt der tradierte Geschichtenfundus sogar bis heute die Kassen von Verlagen und Hollywoodstudios klingeln.

    "Der einzige Stoff, der nicht sozusagen in mir gewachsen ist, wo man mir gesagt hat, 'Kannst du nicht darüber auch einen Abend machen?', das war der Artus-Stoff! Und ich habe dann dieses Gebirge von Texten vor mir gesehen und in der Tat sind ja die größten Artus-Romane des Mittelalters oft 6.000, 7.000 Seiten lang. Die habe ich nicht alle gelesen! Sondern hier gab es ohnehin keinen anderen Weg, als die Stoffmasse zu ordnen und mit dem Buschmesser einen Weg durch diesen Dschungel zu bahnen."

    "Einige Stunden nach Sonnenaufgang begann es heiß zu werden, und das war deutlich zu spüren. Auch in der Rüstung wurde es immer heißer. Die Sonne stach herab und erwärmte das Eisen immer stärker. Nun, wenn es einem so heiß ist, stört jede Kleinigkeit! Wenn ich trabte, klapperte ich wie eine Kiste mit Geschirr. Und das störte mich."

    Das ist nicht "Don Quijotte", sondern Mark Twain Artus-Parodie "Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof" aus dem Jahre 1889 – und ein doppelter Beleg für die Vitalität des Grundschriftenkonzepts. Zum einen zeigt die Stelle, dass es bei den oft erhabenen Stoffen durchaus etwas zu lachen gibt; zum anderen, dass selbst die satirische Bearbeitung des Mythos seiner Weiternutzung keineswegs im Wege steht. Fantasy-Autoren wie Marion Zimmer Bradley oder Wolfgang Hohlbein konnten die Artussage ungebrochen im 20. Jahrhundert fortschreiben. Hanjo Kesting unterschlägt auch diese Verästelungen nicht, und dass er in seinen Vor-trägen wie mit dem Twain-Text dem Affen zuweilen Zucker gibt, mag seiner beruflichen Herkunft vom Radio geschuldet sein. Dessen Akteure wissen ja, wie der Vortragende in diesem Moment auch, nie um die Vorbildung ihrer Zuhörer.

    "Ich habe ja lange im Rundfunk gearbeitet, aber ich bin im wesentlichen ein Papier-mensch, und lieben kann ein Autor nur Papier! Sag ich mal, einen anderen Rundfunkautor, nämlich Ernst Schnabel zitierend: "Lieben kann der Autor nur Papier!" Was allerdings erforderlich ist, und das gilt auch für jede Form des Schreibens, dass man auch die heimliche Mündlichkeit des geschriebenen Textes entfaltet und ihr Genüge tut. Denn wenn man das nicht tut, ist ein Text auch als Text meistens eher schwach oder schwer zu lesen."

    Natürlich hat Hanjo Kesting auch einen Lieblingsautor, der sein eigenes epochales Werk, das bald eine ganze Gattung bezeichnen sollte, selbst ziemlich brüsk herabwürdigte:

    "Dies hier sind nun, wenn auch etwas dezenter dargeboten, die Exkremente eines vergreisten Geistes: mal hart, mal weich, und stets unverdaut."(Bd. 2, S. 313)
    Es handelt sich um die "Essais" von Michel de Montaigne.

    "Sie sind das ideale Buch für die einsame Insel: gehaltvoll, tiefsinnig, keck, unterhaltsam, ohne System, verführerisch durch ihr Gleichmaß, reich an über-raschenden Wendungen, weitschweifig und konzentriert, freimütig und erhaben, schlicht und kraftvoll, lebensklug, wahrhaftig, hoch wie der Himmel, weit wie das Meer, kraftvoll wie die Erde, unerschöpflich, unauslesbar, geschrieben in einer lebendigen Sprache voll natürlicher Schönheit. (...) Montaigne ist, ganz so wie Flaubert es gesagt hat, "mein Pflegevater", und in all der Zeit bin ich nie müde geworden, in seinen Essais zu lesen." (Bd. 2, S. 315)

    Womit sich die für viele Grundschriften unausweichliche Frage stellt: In welcher Sprache? Im Original oder in der Übersetzung. Wenn ja, in welcher?

    "Also es gibt natürlich diese fabelhafte Übersetzung von Hans Stilett, die vor einigen Jahren in der Anderen Bibliothek erschienen ist, an die hab ich mich überwiegend gehalten, um dann gezielt auch von ihr auch mal abzuweichen. Und in einigen Fällen hab ich auch eine eigene Übersetzung gemacht. In manchen Fällen auch eine Kompilation aus ver-schiedenen Übersetzungen, die mir genauer und befriedigender erschien. Also das ist eine sehr vielschichtige Frage, die man von Grundschrift zu Grundschrift untersuchen müsste, und die man mit wenigen Sätzen kaum erschöpfen kann."

    "Es ist schwer, Montaigne adäquat zu übersetzen. (...) Schon über dem ersten Satz des Buches kann man ins Grübeln geraten. Im Original lautet er: 'C'est icy un livre de bonne foy, lecteur', wörtlich also 'Dies ist ein Buch des guten Glaubens, Leser'. Man versteht, was gemeint ist, würde es im Deutschen aber nicht so ausdrücken. Hanno Helbling, Übersetzer der Gideschen Auswahl, beginnt: 'Dies ist ein aufrichtiges Buch.' Das verkehrt die Perspektive: der Autor erklärt sich für aufrichtig, während im Original der Leser um guten Glauben ge-beten wird. Stilett übersetzt: 'Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft.' Das kommt dem Sinn ziemlich nahe, ohne deckungsgleich zu sein. Eine völlig adäquate Übersetzung gibt die deutsche Sprache nicht her." (Bd. 2, S. 336)

    Dabei schreibt Michel de Montaigne noch vergleichsweise übersetzerfreundliche Prosa. Schwierig wird es bei den lyrischen Epen der Vergangenheit, deren Sinn und Inhalt sich schwerlich vom Klang und Rhythmus trennen lassen. Das Nibelungenlied etwa hat schon viele Nacherzähler verzweifeln lassen:

    "Diese mittelhochdeutschen Texte kann man so gut wie gar nicht mit Vers und Reim ins Neuhochdeutsche transferieren. Das ist nirgendwo gelungen, Uwe Johnson hat eine einiger-maßen befriedigende Übersetzung des Nibelungenliedes gemacht, die aber auch auf den Vers verzichtet, ist Prosaübersetzung."

    Weil das Übertragungsproblem als Babylons Fluch den europäischen Grund-schriften eingebrannt ist, stellt sich ihm Hanjo Kesting stets aufs Neue – und durchaus zum Nutzen des Lesers. Dantes Göttliche Komödie erschließt sich bei-spielsweise in Kurt Flaschs modernen Prosafassung besser als in Zwangsversen, ohne dabei an rhythmischer Komplexität – also Schönheit – einzubüßen. Hier der Beginn des 26. Gesangs, es spricht Odysseus:

    "Nachdem ich mich getrennt hatte von Kirke, die länger als ein Jahr mich an sich zog dort bei Gaeta, bevor Aeneas der Stadt diesen Namen gab, da konnten weder die Süßigkeit meines kleinen Sohns noch die Pietät für den alten Vater noch die Liebe, die ich, sie heiter zu machen, Penelope schuldete, die Glut besiegen, die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert. Sondern ich segelte hinaus aufs hohe offene Meer mit einem einzigen Boot und mit der kleinen Schar, die mich nie im Stich ließ." (Bd. 2, S. 169)

    Kann so etwas auch Menschen unter 50, 60 Jahren ansprechen? Ist das Konzept der Grundschriften kompatibel mit unserer aktualitätshörigen, jugendverliebten Welt?

    "Wenn das vielleicht die Gretchenfrage sein soll ... Ich habe keinen Weg gefunden, diese Stoffe besonders jugendlich machen zu können. Ich habe aber die Entdeckung gemacht, dass gelegentlich – nicht ganz selten – Jüngere dabei waren, manchmal auch von ihren Eltern mitgebracht. Die aber sehr begeistert drauf reagiert haben! Ich bin sicher: Wenn man mal die Tür zu solchen Schriften einen Spalt geöffnet hat, dann treten auch Jüngere sehr begierig dadurch ein. Und verblüffend war vor vier Wochen, als ich in der Stadtbibliothek in Bremen, die "Aeneis" von Vergil behandelt habe, da waren auch ziemlich viel Junge dabei, dass es am Ende in ein rhythmischen Fußstampfen mündete. Ich war wirklich verblüfft, das hatte ich noch nicht erlebt."

    Nun trampelt der Leser am Ende der drei Bände sicher nicht mit den Füßen, doch applaudiert er durch eine stille Hoffnung: Vielleicht gibt es ja irgendwann noch mehr große Autoren auf Kestingsche Art geistreich präsentiert: Ob Darwin oder Montesquieu, Diderot oder Machiavelli – an geeigneten Kandidaten mangelte es kaum. Klar ist allerdings auch, dass unsere Zeit noch sehr lange warten muss.

    "Es wäre auch schwierig wahrscheinlich, im 20. Jahrhundert, irgendeine Schrift zu finden, die man diesen im dem Buch versammelten Grundschriften der europäischen Kultur an die Seite stellen könnte. Ich glaube, dass mit dem 20. Jahrhundert die Epoche begonnen hat, die sozusagen 'grundschriftenunmöglich' geworden ist. Ein Grundschriftenverhinderungs-jahrhundert!"

    Hanjo Kesting: "Grundschriften der europäischen Kultur"
    Wallstein Verlag, 3 Bände, zusammen ca. 1.200 Seiten, 34,90 Euro