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Siri Hustvedt: "Die Illusion der Gewissheit"
Im Zweifel für den Zweifel

Was ist der Mensch? Was ist Denken? Fragen sind die treibenden rhetorischen Figuren im neuen Buch der amerikanischen Schriftstellerin Siri Hustvedt. Elegant bewegt sie sich darin zwischen Neurowissenschaft und Philosophiegeschichte und liefert Impulse in der Debatte um Künstliche Intelligenz und unser Menschenbild.

Von Angela Gutzeit | 06.08.2018
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    Es habe sich ein Denken durchgesetzt, das den Geist, das Gehirn als informationsgespickte Rechenmaschine betrachte, schreibt Siri Hustvedt in "Die Illusion der Gewissheit" (Buchcover Rowohlt Verlag / picture alliance / dpa / Alejandro Garcia)
    Wer schon einmal Gespräche mit Siri Hustvedt verfolgt hat, bemerkt, dass sie ihre Beiträge häufig so einleitet: "Well, it’s more complicated!" Das ist nicht nur eine Redewendung der amerikanischen Schriftstellerin. Dahinter steckt eine grundsätzliche Denkhaltung, wie auch der Titel ihres neuen Buches andeutet: "Die Illusion der Gewissheit". Diese Haltung kennzeichnet Hustvedts gesamtes essayistisches und literarisches Werk - eine philosophisch geschulte Skepsis gegenüber Gewissheiten, formelhaften Zuschreibungen und angeblich unverbrüchlichen Wahrheiten. Und so ist dieser Langessay "Die Illusion der Gewissheit" auch nicht unbedingt ein Buch mit neuen Themen und Einsichten dieser 1955 ins Wisconsin geborenen Autorin, sondern eher eine Fortschreibung und Umkreisung von Fragen, die sie seit Jahrzehnten beschäftigen und die sie als Schauplätze uralter wie aktueller politischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen markiert.
    Was ist der Mensch? Was ist Denken? In welchem Verhältnis stehen Körper und Geist? Und immer wieder diese Frage, die Hustvedts feministischen Ansatz anklingen lässt: Welche Bedeutung hat die Tatsache für den Geist, dass der Mensch in einem anderen Körper, in einem weiblichen Körper heranwächst?
    Das Verhält vom Denken zur Welt
    In ihrem Buch geht Hustvedt zunächst zurück ins 17. Jahrhundert, um mit Denkern wie René Descartes und Thomas Hobbes die Ursprünge unseres westlichen Weltverhältnisses und Körper-Seele-Verständnisses zu verorten, die bis heute, wie sie schreibt, als Vermächtnis in bedenklicher Weise fortwirken – um gleichzeitig mit den weniger bekannten Gestalten wie Margaret Cavendish und Giambattista Vico Ansätze einer konträren Denkhaltung zu kennzeichnen.
    "Warum habe ich mir Descartes, Hobbes, Cavendish und Vico ausgesucht, wo es doch so viele weitere spannende Philosophen und Philosophinnen gibt, die sich mit diesen Fragen beschäftigen und zahlreiche interessante Lösungsvorschläge erdacht haben? Die vier dienen mir lediglich als Richtgrößen. Jeder von ihnen steht für eine bestimmte Auffassung vom denkenden Menschen in seinem Verhältnis zur Welt. Zwei von ihnen, Descartes und Hobbes, übten einen großen und nachhaltigen Einfluss auf Philosophie, Naturwissenschaft und viele andere Disziplinen aus. Die beiden anderen, Cavendish und Vico, spielen in der vorherrschenden Tradition nur am Rand eine Rolle, doch auch sie hatten einen Einfluss, den man als subversiv bezeichnen kann."
    Im Kern geht es um die Trennung von Psyche und Soma, um die kartesianische Vorstellung, Körper und Seele seien aus unterschiedlichem Stoff, Logik und Metaphysik universell und körperlos, der Geist oder die Seele von angeborenen Vorstellungen geprägt. Dazu gesellt sich das Modell von Descartes‘ Zeitgenossen, dem englischen Philosophen und Mathematiker Thomas Hobbes, vom rein atomistischen, materialistischen und mechanistischen Modell des Menschen und der Natur. Der menschliche Körper sei also nichts weiter als ein Automat und alle Gedanken und Empfindungen, so interpretiert Hustvedt unter anderem Hobbes‘ Hauptwerk "Leviathan", letztendlich nur maschinenartige Bewegungen des Gehirns. Den italienischen Gelehrten Vico mit seinem energischen Pochen auf die immense Bedeutung von körperlich-sinnlicher Erfahrung, von Sprache und entwicklungsgeschichtlichem Wandel führt Hustvedt genauso wie die englische Naturphilosophin und Dichterin Margaret Cavendish in Gegenrede zu diesem eher statischen Vorstellungsmodell von der Beschaffenheit vom Menschen. Die Herzogin von Newcastle vertrat in ihren Büchern die Ansicht, belebte und unbelebte Materie seien nicht voneinander zu trennen. Und Denis Diderot führte schließlich 80 Jahre nach Cavendish in "D’Alemberts Traum" von 1769 ihren Ansatz weiter. Es gebe keine scharfe Trennung in der Natur und auch im Menschen wirkten alle Organe zusammen, so der französische Aufklärer. Nur misstraute er Cavendishs wie Vicos kluger Einsicht, zum Denken gehörten neben der Vernunft auch Metaphern, Gefühle und Phantasie, die zusammen mit dem Körper als verschiedene Arten des Verstehens zu begreifen seien.
    Die Zitteranfälle als Ausgangsphänomen
    Warum diese Exkurse und was treibt diese Schriftstellerin eigentlich an und um? Zum einen, so muss man vorausschicken, spielt bei Hustvedt immer die eigene Biografie eine Rolle. Aber genau dieser individualistische Ansatz ist bei Hustvedt ja immer schon Teil ihrer Weltsicht. Sie beschreibt in ihrem Buch beispielsweise zum wiederholten Mal ihre Kindheitserfahrung, ihrer eigenen Identität nicht trauen zu können. "Was, wenn ich nicht Siri bin?", habe sie sich gefragt. "Wenn ich nur ein Traum in einer anderen Person bin und die Welt in einer Welt einer anderen Welt existiert?" Im Buch "Die zitternde Frau" beschrieb Hustvedt zudem ihre späteren Zitteranfälle und das Gefühl eines – wie es in einem Gedicht von Emily Dickens heißt - "zerteilten Hirns". Erfahrungen, die sie schließlich dazu führten, nach ihrem Literaturstudium sich mit Neurologie und dem Körper-Seele- Verhältnis zu beschäftigen. Heute lehrt sie an der psychiatrischen Abteilung eines medizinischen Colleges in Cornell.
    Hinzu kommt der eben schon erwähnte feministische Standpunkt, der eine männlich dominierte, von Rationalität, Spezialisierung, Segmentierung und statistischer Verallgemeinerung geprägte Wissenschaft einfach satt hat und einem ganzheitlichen Wissenschaftsverständnis den Vorzug gibt, wie diesen Zeilen von Hustvedt zu entnehmen ist.
    "Ich will nicht verhehlen, dass ich auch in der Mission unterwegs bin, mit bestimmten Allgemeinplätzen aufzuräumen, die mich seit Jahren von allen Seiten anspringen, Allgemeinplätze die Nature/Nurture-Debatte betreffend, Gene, Zwillingstudien und "vorprogrammierte Strukturen im Gehirn". Ich bin die selbstgefälligen Annahmen über hormonell oder psychologisch bedingte Geschlechterunterschiede leid, die schlicht unausgegorenen Behauptungen der Evolutionspsychologie, und so manche Phantastereien, die in der Künstliche – Intelligenz-Forschung großgeschrieben werden. Andererseits greife ich Themen wie den Placebo-Effekt, Scheinschwangerschaft, Hysterie und dissoziative Identitätsstörung auf, weil diese Erkrankungen und körperlichen Zustände auf Wissenslücken in den aktuellen Debatten über den Geist-Gehirn-Komplex verweisen."
    Bewusstseinszustände vom Ich aus gesehen
    Hustvedt bezieht gerade in Zusammenhang mit letztgenannten psychosomatischen Erscheinungen, die sie interessanterweise mit künstlerischen verknüpft, die phänomenologische Forschung mit ein, die "Bewusstseinszustände aus der Erlebnisperspektive der ersten Person analysiert", wie sie schreibt. Dissoziative Identitätsstörungen als Folge von Kindheitstraumata entwickelten in der Regel mehrere Persönlichkeiten, die durchaus jeweils physiologische Unterschiede aufwiesen. Statt diese Ausprägungen als Krankheitsbilder scharf von der sogenannten Normalität abzugrenzen, lässt Hustvedt diese Grenzen durchlässig werden. Das hat nichts mit Verschwommenheit zu tun, sondern mit der Öffnung von Denkräumen für Prozesse, die den Blick einerseits auf individuelle Erfahrungen, andererseits auf dynamische Prozesse im Körper-Geist-Weltverhältnis richten.
    "Jeder Mensch hat unterschiedliche Seinsformen – ein soziales Ich, ein Familien-Ich, ein privates Ich -, und doch klammern wir uns im Westen an die Vorstellung einer einzigen, einheitlichen Persönlichkeit. Ich frage mich, ob ein Schauspieler, der sich in eine fremde Figur hineinversetzt, ähnliche physiologische Veränderungen erfährt? Und was ist mit der Schriftstellerin, die fünf Jahre lang an einem Roman in der ersten Person über eine Figur schreibt, die vollkommen anders ist als sie selbst? Hat das imaginäre Hineinschlüpfen in eine Rolle oder Romanfigur messbare Auswirkungen auf ihre Physiologie?"
    Siri Hustvedt bestreitet in diesem Buch, deren treibende rhetorische Figuren Fragen und immer wieder Fragen sind, keineswegs, dass etliche Wissenschaftler in der Regel heute nicht mehr von einem starren Körper-Geist-Umwelt-Verhältnis ausgehen, sondern Bewegung, Erfahrung, Sprache, Mitmenschlichkeit als wichtige Komponenten miteinbeziehen. Vorläufer sind da für sie beispielsweise die Philosophen Edith Stein, Edward Husserl, Sören Kierkegaard sowie der Physiker Nils Bohr - und übrigens immer wieder Goethe, der unter andrem mit seinen naturwissenschaftlichen, "antimechanistischen" Studien zur Morphologie durch das gesamte Buch geistert. Als Nachfolger sind aus Hustvedts Sicht die Philosophen Elisabeth Grosz und Thomas Nagel sowie der Informatiker David Gelernter zu nennen. Zusammenfassen könnte man sie, grob gesagt, in einem Denken, das Objektivität als Selbstzweck ablehnt und subjektiver Betrachtungsweise bzw. Intersubjektivität Raum gibt, die im Körper-Geist-Verhältnis Einfühlung notwendig miteinschließt.
    Die Kongnitionswissenschaften als Lieblingsfeind
    Die aktuellen Entwicklungen jedoch zeigen in eine andere Richtung. Und darauf aufmerksam zu machen, ist das Anliegen von Hustvedt in ihrem neuen Buch. Es habe sich ein Denken durchgesetzt, schreibt sie, das im Grunde genommen den Geist, das Gehirn als informationsgespickte Rechenmaschine betrachtet und damit Erfahrung und Empathie zurückdrängt und letztendlich Alan Turings Traum von der Nachbildung einer Maschine, die sich mit dem Menschen messen kann bzw. mit ihm verschmilzt, weiterträumt. Ihr aktueller Lieblingsfeind ist dabei der Kognitionswissenschaftler und Erfolgsautor Steven Pinker und seine Ansicht vom Geist als ein neuronaler Computer, der schon bald eine Entsprechung finden könnte in menschenähnlichen Robotern. Oder vielleicht auch roboterähnlichen Menschen? Wie ja gerade zu lesen war, denkt Google offenbar darüber nach, Verhaltensweisen von Menschen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz zu verändern, was laut Berichten Menschen in eine "ferngesteuerte Drohne" verwandeln würde. Dieses mechanistische Denken und Träumen von einer Zukunft, die den Menschen in Daten und Informationen auflöst, bewertet Hustvedt so:
    "Steckt hinter solchen Thesen nicht der Wunsch nach einer hübsch trockenen Denkmaschine, einer neuen Rasse, die nicht im organischen Körper einer Mutter heranwächst oder aus diesem geboren wird, die keine organische Materie braucht (…), keine Gebärmutter und keinen Geburtsvorgang, bei dem ein Mensch aus einem anderen herausgepresst wird, sondern eine neue Menschenart aus Zahnrädern und Getrieben oder aus digitalen Einsen und Nullen? (…) Was geschieht hier? Warum wird die Komplexität von echten biologischen Nervenzellen als derart unbedeutend eingestuft? (…) Wird hier dem sterblichen Körper eine Abfuhr erteilt zugunsten eines optimierten Modells."
    Der Geist als Modul, der Körper als lästiges, feuchtes, unvollkommenes Gebilde, dessen man sich zu entledigen trachtet. Für Hustvedt vorrangig eine Männerphantasie. Für die Autorin findet hier das kartesianische Menschenbild seine Fortsetzung, das verkennt, dass Körper und Geist nicht zu trennen sind und vor allen Dingen ohne Gefühle, Empathie und dem Mitmenschen keine Erfahrungen zu machen sind und damit Entwicklungsfähigkeit ausgeschlossen ist.
    Was in Hustvedts lesenswertem und gelehrtem Buch "Die Illusion der Gewissheit" ein wenig zu kurz kommt, dass ist der Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und eine auf Effizienz und Gewinnmaximierung fixierte Wirtschaftsordnung. Diese dominiert ja mittlerweile die Welt. Und es ist naheliegend, dass sich ein auf Nützlichkeit und Funktionalität reduziertes Menschenbild bis zur Wegrationalisierung des Menschen selbst, glänzend in diesen offensichtlich unaufhaltsamen Prozess einfügt.
    Siri Hustvedt: "Die Illusion der Gewissheit". Aus dem Englischen von Bettina Seifried. Rowohlt Verlag, Reinbek. 416 Seiten. 24.- Euro.