Freitag, 19. April 2024

Archiv

Situation der SPD
"Sigmar Gabriel hat Martin Schulz als nützlichen Idioten gebraucht"

Die SPD werde erst wieder Respekt und Anerkennung bei den Wählern bekommen, wenn sie eine langfristige programmatische Alternative anzubieten habe und über eine eigene Machtperspektive nachdenke, sagte der Politologe Gero Neugebauer im Dlf. Das sei zur Zeit nicht der Fall.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Sarah Zerback | 09.02.2019
    Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments, unterhält sich am 14.11.2013 in Leipzig (Sachsen) beim SPD-Bundesparteitag mit SPD-Bundesvorsitzende, Sigmar Gabriel (r). Der SPD-Bundesparteitag dauert vom 14. bis 16. November. Foto: Jan Woitas/dpa
    Sigmar Gabriel habe Martin Schulz vorgeschickt, um zu verbergen, dass er selbst nicht zu einer Kanzlerkandidatur bereit war, so Neugebauer (Jan Woitas/dpa)
    Sarah Zerback: In die Analyse gehen können wir jetzt mit dem Politologen und Parteienforscher Gero Neugebauer. Guten Tag, Herr Neugebauer!
    Gero Neugebauer: Guten Tag, Frau Zerback!
    Zerback: Jetzt hat die SPD ja, wie wir wissen, schon vor zwei Jahren im Wahlkampf "Zeit für mehr Gerechtigkeit" versprochen. Ist es jetzt so weit, Herr Neugebauer?
    Neugebauer: Damals hat sie vergessen zu definieren, was Gerechtigkeit bedeutet. Das heißt, Sie hat nicht auf das Alleinstellungsmerkmal, das sie vorher eigentlich immer besessen und inhaltlich auch ausgefüllt hat, zurückgreifen können. Und jetzt wird es Zeit, weil sie erst dann wieder Profil gewinnt, seitdem sie sich auf die soziale Frage konzentriert.
    Zerback: Jetzt haben wir gehört, Hartz 4 kommt im neuen Konzept eben nicht mehr vor, sondern da geht es um Sozialpartner, Tarifbindung, Arbeitslosengeld Q haben wir gehört. Sind das nur neue Namen, oder ist das nun wirklich eine Abkehr von der Agenda Schröders?
    Neugebauer: Ein Teil der Agenda 2010 ist realisiert, die kann gar nicht revidiert werden. Ein anderer Teil kann in der Tat revidiert werden, insbesondere der Hartz-4-Komplex. Und da liegt eben die Frage darauf, ob man ein bestimmtes Menschenbild weiter pflegt, nämlich sagt, Fördern statt Fordern – was ja faktisch Fordern statt Fördern gewesen ist –, und heute sagt, nein, wir müssen mehr auf die Menschen zugehen, ihnen mehr Möglichkeiten geben, auch wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukommen, und wir müssen aber auch insgesamt Armut in den anderen Teilen der Gesellschaft ins Auge nehmen. Das heißt also, es ist ein umfassenderes Konzept, aber es setzt an bei denen, wo die Bedürftigkeit zurzeit am größten ist.
    Programmdiskussion beschleunigt
    Zerback: Und dann ist es ja, das muss man immer dazusagen, es ist eine große Koalition, und das sind jetzt erst mal nur die SPD-Ideen. Da kam dann auch direkt aus der Union Kritik, unter anderem vom Fraktionsvize auch, von Carsten Linnemann. Es ist also die Frage, zieht da der Koalitionspartner mit bei diesen Plänen?
    Neugebauer: Wir haben jetzt wieder eine Situation, wo die SPD auf der einen Seite daran erinnert wird, sie ist in einer Koalition, auf der anderen Seite aber sagt, es gibt ja auch noch eine zeit nach der Koalition. In einer Ankündigung des Vorhabens Wochenende hat ja auch Frau Nahles, als sie dann den Plan vorgestellt hat, ausdrücklich gesagt, ich rede hier für die SPD, in einem Interview, und sie redet also nicht für die Fraktion, und sie redet nicht für die Rolle der Partei in der Regierung. Das heißt, sie geht auf den ursprünglichen Punkt zurück, mit dem die SPD aufgebrochen ist, nämlich die Partei zu erneuern. Der Streit darüber, wer das nun macht, scheint beendet zu sein, wenn Frau Nahles sagt, mein Schwerpunkt liegt auf der SPD. Und dann ist es auch de facto irrelevant, ob das ein gegenwärtiges Koalitionsproblem ist. Die Union wiederum fühlt sich ja auch nicht gebunden, zu sagen, nein, wir reden nur über das Heute. Der Wirtschaftsminister Altmaier stellt ein Programm vor, "Industriepolitik 2030", und wenn der gefragt werden würde, was hat das mit der gegenwärtigen Koalition zu tun, dann würde er die Schulter zucken und sagen, gar nichts, aber darauf sind wir ja nicht angewiesen.
    Zerback: Und dann haben wir aber auf der anderen Seite ja noch einen ehemaligen SPD-Chef, Sigmar Gabriel, der sich jetzt ein weiteres Mal aus dem Hintergrund einschaltet und das zuspitzt und sagt, wenn die Union nicht mitmacht, dann macht, also so sinngemäß, die GroKo auch keinen Sinn mehr. Sehen Sie diese Gefahr denn ernsthaft.
    Neugebauer: Wenn man sieht, dass die SPD ihre Programmdiskussion beschleunigt – das sollte eigentlich erst im November zu Ende gehen mit einem großen Parteitag. Das wird jetzt alles vorgezogen. Die Beschlüsse sollen früher vorliegen. Dann kriegt man in der Tat den Eindruck, dass die SPD sich darauf besonnen hat, dass das bisher auf Konsens und Unterwerfung ausgerichtete Verhalten in der Koalition, wenn ich das mal so grob formulieren darf, ihr nichts bringt, und dass möglicherweise auch die Union, vielleicht auch angeregt durch die Wochenendtagung, die Frage, was bedeutet die Flüchtlingspolitik für die Zustimmung zur Union in der Gesellschaft, bereit ist, zu sagen, möglicherweise nehmen wir diese Revisionsklausel im Koalitionsvertrag zum Anlass, am Ende des Jahres über den Fortbestand der Koalition zu reden. Und dann haben wir auf einmal 2020 Wahlen. Und die SPD hat beim letzten Mal, als Frau Merkel gesagt hat, ich kandidiere nicht mehr, ja relativ dumm aus der Wäsche geguckt. Das will sie wieder nicht passieren lassen. Und ich denke, man darf es nicht aussparen, ich halte es eigentlich im Moment, wenn man sich die Bedingungen anguckt, unter denen die Koalition agiert und wie die Parteien agieren, nicht für ausgemacht, dass sie die Koalition abbrechen wollen. Aber ich habe auch gelernt, niemals nie zu sagen.
    "Der Versuch von Alten in der SPD, wieder was zu sagen"
    Zerback: Ich hab da jetzt nur so zwischen den Zeilen gelesen, also man kann sich ja drüber streiten, ob da jetzt so Ratschläge aus dem Off von Sigmar Gabriel, ob die gut sind für die Partei oder nicht. Darüber wird sich ja auch schon auseinandergesetzt. Wie sehen Sie es? Müsste Sigmar Gabriel da in der SPD wieder eine größere Rolle spielen? Martin Schulz auch?
    Neugebauer: Sigmar Gabriel hat Martin Schulz als nützlichen Idioten gebraucht, um zu verbergen, dass er nicht zur Kanzlerkandidatur bereit war. Wenn beide sich heute verbünden – was ich nicht so sehe –, wie es manchmal behauptet wird, dann ist das der Versuch von Alten in der SPD, wieder was zu sagen. Die SPD hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht mit diesem Verfahren, und es wäre günstiger, wenn sie das vergäße. Nicht, dass ihre Ratschläge nicht gehört werden sollen. Sie sind ja zum Teil auch nicht falsch, das sei nicht gesagt worden. Aber wenn jemand sozusagen aus der fernen Tiefe, wie Herr Schröder, oder aus der Nähe immer noch als Verletzter, wie Herr Gabriel, agiert, dann wäre ich vorsichtig. Denn in der Tat, zurück in die Zukunft – nein, danke. Das geht, glaube ich, nicht mehr.
    Zerback: Dann gucken wir beide mal in die Zukunft, Sie auch als Parteienforscher. Diese Abkehr von der Agenda 2010, dieses Konzept, das da jetzt morgen und übermorgen verabschiedet werden soll, wird das die SPD aus dem Umfragetief retten?
    Neugebauer: Das ist zu viel erwartet. Die Umfragen haben sowieso ihre Eigenarten und ihre Tücken, und ich würde gar nicht so viel auf die Umfragen setzen. Aber die Politikerinnen und Politiker haben sich das so angewöhnt, das zu tun. Die SPD wird dann wieder mehr Respekt und mehr Anerkennung bei den Wählerinnen und Wählern bekommen, wenn sie in der Lage ist, eine langfristige programmatische Alternative anzubieten, wenn sie politische Alternativen hat in bestimmten Politikfeldern. Wenn sie auch personelle Alternativen hat und über eine eigene Machtperspektive nachdenkt. Und das sind Dinge, die sie zurzeit nicht macht, oder nur so kurz, dass sie auf die gegenwärtige Verbesserung ihrer Situation nicht rechnen kann.
    Ein gutes Bild in der CDU
    Zerback: Herr Neugebauer, noch ganz kurz zum Schluss, weil Sie den Schlenker zur CDU gerade auch gemacht haben. Das Werkstattgespräch morgen, das wollen wir nicht ignorieren. Da soll es ja auch um einen Blick zurück gehen. Die Migrationspolitik 2015, aber eben auch laut CDU-Chefin ganz klar der Blick nach vorn in Sachen Migrationspolitik. Besser spät als nie kann man da sagen, oder wie werten Sie dieses Gespräch, diesen Termin morgen?
    Neugebauer: Frau Kramp-Karrenbauer hat gemerkt, die Flüchtlingspolitik ist immer noch etwas, was die CDU, flapsig formuliert, am Hacken hat, was sie gern los werden möchte, um auch da keine Diskussionen zu führen. Sie muss auch die Einigung in der Partei, und zwar in der gesamten Union, herstellen, weil es immer noch ein Streitpunkt zwischen CDU und CSU ist. Und dann ist es günstiger, so eine Veranstaltung zu machen und hinterher rauszukommen und zu sagen, so, jetzt haben wir eine Meinung über die Flüchtlingspolitik gebildet, aber sie ist nicht mehr relevant für das, was geschehen ist. Wir haben ja ein Bild. Ob das, was da getan wird, reicht, ob man dann diskutiert – Frau Merkel hat ja vielleicht auch, um zu verhindern, dass dann Deutschland beispielsweise auf einmal Griechenland finanzieren muss, weil das vor der Last der Flüchtlinge zusammenbricht, oder ob das wirklich nur ein humanitärer Akt war. Das wird da nicht entschieden werden. Da wird man hinterher in der Presse versuchen, ein gutes Bild zu erzeugen und zu sagen, das Kapitel ist abgehakt, damit könnt ihr uns nicht mehr behelligen.
    Zerback: Die Einschätzungen des Politikwissenschaftlers Gero Neugebauer. Besten Dank für das Gespräch, Herr Neugebauer!
    Neugebauer: Sehr gern geschehen, Frau Zerback, und ein schönes Wochenende!
    Zerback: Das wünschen wir Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.