Freitag, 29. März 2024

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Situation im Iran
"Wir erleben Misswirtschaft, Veruntreuungen und Korruption"

Das Atomabkommen hat den Menschen im Iran Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation gegeben, sagte die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Dlf - bis US-Präsident Trump es einseitig aufgekündigte. Nun verschlechtere sich die Lage von Tag zu Tag. Ebadi rechnet mit einer Ausweitung der Proteste.

Shirin Ebadi im Gespräch mit Stephanie Rohde | 25.08.2018
    Das Bild zeigt einen Laden für Kopftücher in Teheran im Februar 2016.
    "Was man vorhersagen kann ist eine Ausweitung der Proteste im Iran." (AFP / Behrouz Mehri)
    Stephanie Rohde: Abkommen ja oder nein? Diese Frage spaltet den Iran. Soll die islamische Republik am Atomabkommen festhalten, obwohl die USA es gebrochen und Sanktionen gegen das Land in Kraft gesetzt haben? Die EU jedenfalls setzt alles daran, das Abkommen zu retten. Dafür haben die Europäer diese Woche 50 Millionen Euro an Hilfen für den Iran auf den Weg gebracht. Unterdessen ziehen sich aber immer mehr Unternehmen aus dem Iran zurück und Fluggesellschaften stellen ihre Flüge nach Teheran ein. Was kann, was muss der angeschlagene iranische Präsident Hassan Rohani in dieser Krise tun? Und wie bedrohlich sind die Proteste auf den Straßen für seine Regierung? Darüber habe ich mit Shirin Ebadi gesprochen. Sie ist iranische Anwältin, die für ihren Einsatz für Menschenrechte mit dem Friedennobelpreis ausgezeichnet worden ist. Nachdem sie im Iran jahrelang Repressionen ausgesetzt war, lebt sie inzwischen in England. Ich wollte anfangs von ihr wissen: Donald Trump ist aus dem Iran-Deal ausgestiegen. Er hat Sanktionen wieder in Kraft gesetzt. Sie sind ständig im Kontakt mit vielen Menschen im Iran, wie sehr hat sich deren Situation in den vergangenen Monaten verschlechtert?
    Shirin Ebadi: Leider verschlechtert sich die Lage der Menschen im Iran von Tag zu Tag. Die Preise sind stark nach oben gegangen, gleichzeitig erleben wir Misswirtschaft, Veruntreuungen und Korruption seitens derjenigen, die Teil des Regimes sind, auch wenn es um die Vergabe von Stellen geht. Alles hängt mit allem zusammen, was dazu führt, dass die Menschen sehr unzufrieden sind und wir fast jede Woche Zeuge von Protesten auf den Straßen werden.
    Ausweitung der Proteste im Iran
    Rohde: Wir haben ja in verschiedenen Städten sehr unterschiedliche Proteste erlebt. Besteht Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, dass daraus eine große Bewegung wird, die am Ende zum Sturz des Regimes führen könnte?
    Ebadi: Wenn sich die Lage so weiterentwickelt, dass die Menschen Tag für Tag unzufriedener werden und die Regierung nichts dafür tut, dass sich die Lage der Menschen verbessert und dass sie den Dieben innerhalb des Regimes nichts entgegensetzt, werden die Menschen selbstverständlich ihrer Unzufriedenheit noch mehr Ausdruck verleihen. Es ist möglich, dass wir sehr große Proteste erleben werden, aber ob diese dazu führen könnten, dass das Regime gestürzt wird oder sich verändert, das kann man zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersagen. Was man vorhersagen kann ist eine Ausweitung der Proteste im Iran.
    Rohde: Was muss die Regierung von Präsident Rohani jetzt konkret tun, damit sich die Situation verbessert?
    Ebadi: Rohani müsste als erstes Gespräche mit der Regierung Trump aufnehmen, um weitere Sanktionen zu verhindern. Zweitens müsste er richtige Programme für die Wirtschaft voranbringen. Denn Rohanis Devisenpolitik war falsch, also seine Entscheidung, einen einheitlichen Wechselkurs zum Dollar festzulegen. Viele Wirtschaftsexperten haben das scharf kritisiert, aber Rohani hat keinem von ihnen Gehör geschenkt. Drittens sollte Rohani diejenigen, die bei den Protesten festgenommen worden sind, frei lassen.
    Eingefrorene Millionen Dollar
    Rohde: Europa hat soeben ein Hilfspaket von 50 Millionen Euro für Iran auf den Weg gebracht, um das Iranabkommen zu stützen und Unternehmen zu unterstützen. Wie sehr hilft das den Menschen im Iran und wie sehr hilft es der angeschlagenen Regierung von Rohani?
    Ebadi: Bis jetzt wurde leider alles an Geld, das Iran bekommen hat, nicht im Iran ausgegeben, es ist nicht bei den Menschen angekommen. Das gilt auch für die mehreren eingefrorenen Millionen Dollar, die die USA an Iran zurückgegeben haben, wofür im Gegenzug einige iranisch-amerikanische Staatsbürger aus iranischer Haft entlassen wurden. Und aus diesem Grund hat sich auch die Lage der Menschen im Iran auch nach der Unterzeichnung des Atomabkommens nicht verändert. Vergessen Sie eines nicht: Das Atomabkommen war zwei Jahre lang in Kraft, bevor Donald Trump es aufgekündigt hat. In diesen zwei Jahren hatten die Menschen die Hoffnung, dass ihre Situation besser wird, dass der Wert der iranischen Währung steigt, aber wir haben in diesen zwei Jahren keinerlei Verbesserungen dieser Art gesehen und die Währung hat jeden Tag an Wert verloren. Das bedeutet: Vor der Unterzeichnung des Atomabkommens stand der iranische Rial besser als jetzt. Und laut den Vorhersagen von Wirtschaftsexperten erleben wir gerade eine große Krise, die eine ernsthafte Inflation zur Folge hat.
    Rohde: Sie sind Menschenrechtsaktivistin, Ihnen liegen die Menschenrechte sehr am Herzen. Ist es den Iranerinnen und Iranern aber vielleicht gerade wichtiger, dass die Regierung einen Ausweg aus dieser Wirtschaftskrise findet, als dass über Menschenrechte diskutiert wird?
    Ebadi: Vergessen Sie nicht: Wohlstand und ein angemessener Lebensstandard sind auch Teil der Menschenrechte. Menschenrechte haben vier Pfeiler: Politische, wirtschaftliche, soziale Rechte sowie Bürgerrechte. Die Bedeutung von wirtschaftlichen Rechten ist nicht geringer als die der Bürgerrechte oder der politischen Rechte. Deshalb müssen alle diese Rechte oberste Priorität haben. Allerdings befinden wir uns gerade in einer Situation, in der die Menschen im Iran hungern. Zuerst müssen natürlich die Hungrigen satt werden, aber darüber dürfen wir nicht die politischen Gefangenen vergessen oder beispielsweise die Umweltproblematik aus den Augen verlieren. Alle diese Probleme zusammen sind wichtig!
    Wir sind sehr weit zurückgefallen
    Rohde: Der ehemalige Staatspräsident Khatami hat vor wenigen Wochen gesagt, dass die Demokratie und Gerechtigkeit im Iran um 100 Jahre zurückgefallen seien – hat er Recht?
    Ebadi: Ja, leider ist es so. Wir sind sehr weit zurückgefallen. Laut unserem Grundgesetz liegt alle Gewalt in der Hand des obersten Revolutionsführers, und diese Person wird auf Lebenszeit als Staatsoberhaupt gewählt – und zwar nicht von den Bürgern, sondern von einem kleinen Kreis von hochrangigen Geistlichen. Diese Wahl des Staatsoberhaupts im Iran ähnelt der Papstwahl, mit dem Unterschied, dass der Papst keine politische Macht ausübt in den katholischen Ländern. Aber der Revolutionsführer im Iran verfügt über absolute Macht. Er kann jedes Gesetz nach Belieben verabschieden oder streichen lassen. Unser Gesetz ist Verfassung einer religiösen Tyrannei. Die Grundbedingung für ein besseres Leben im Iran wäre also, dass das Grundgesetz geändert wird.
    Rohde: Ich würde gerne noch kurz auf Ihre persönliche Situation schauen. Können Sie sich selbst vorstellen, jemals in dieses Land zurückzukehren?
    Ebadi: Natürlich, auf diesen Tag arbeite ich hin. Ich weiß, dass ich definitiv in den Iran zurückkehren werde, weil Iran das Potenzial hat, ein demokratisches und freies Land zu werden.
    Rohde: Und wann werden Sie zurückkehren?
    Ebadi: Die Lösung gesellschaftlicher Fragen kann nicht datiert werden. Aber ich weiß, dass ich zurückkehren kann, weil Iran eine Demokratie sein wird.