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Situation in Europa
"Zur Zusammenarbeit der Nationen zurückkehren"

Man dürfe in Brüssel nicht schwere Texte beschließen, welche den nationalen Parlamenten ihre Kompetenzen absprächen, sagte das Mitglied der französischen Nationalversammlung Jacques Myard im Deutschlandfunk. Die Politiker hätten ein Europa der Utopien geschaffen, müssten aber zu einem Europa der Zusammenarbeit zurückkehren.

Jacques Myard im Gespräch mit Christoph Heinemann | 27.05.2016
    Jacques Myard, Abgeordneter der UMP
    Jacques Myard, Abgeordneter der UMP (AFP PHOTO / Patrick Kovarik)
    Christoph Heinemann: Welche Bedeutung nimmt die Schlacht von Verdun im Bewusstsein der Franzosen ein?
    Jacques Myard: Die Schlacht von Verdun ist ein starkes Symbol. Sie steht für einen Zeitpunkt, in dem die französische Nation ihre Kräfte gegenüber der deutschen Nation in einem regelrechten Holocaust gebündelt hat. In Verdun und in Auschwitz verspürte ich dieselbe Gefühlsregung, zeitweise auch das gleiche Unverständnis: Wie konnten zwei so kultivierte Völker wie die Deutschen und die Franzosen in Verdun so frontal aufeinanderprallen. Und das für einige Hektar Land. Bei der Betrachtung der Landschaft von Verdun ist man erschüttert: Sie wird immer von Bombenkratern durchfurcht sein. Es waren wirklich, wie man auf Deutsch sagt, "Stahlgewitter", wie sie der große deutsche Schriftsteller Ernst Jünger beschrieben hat. Wenn man sich in Verdun aufhält, versteht man das alles nicht.
    "Man hat ein Europa der Utopien geschaffen"
    Heinemann: 30 Jahre nach dem Händedruck von Francois Mitterrand und Helmut Kohl. Ist die Zeit der Gesten im deutsch-französischen Verhältnis vorüber?
    Myard: Ich glaube, dass das deutsche Volk eine kulturelle Revolution abgeschlossen hat. Die Deutschen haben verstanden, dass sie mit ihren Nachbarn, vor allem mit den Franzosen, in Frieden leben wollen. Diese Geste bedeutete damals viel. Heute befinden sich die Beziehungen zwischen Franzosen und Deutschen in einem stabilen Rhythmus. Wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, hat das keine Folgen. Wir ziehen selbstverständlich nicht mehr gegeneinander in den Krieg. In den deutsch-französischen Beziehungen haben wir den Stand der französisch-britischen Beziehungen erreicht: Wir betrachten einander manchmal mit Ironie, wir spotten über die Roastbeef-Esser. Ohne negative Konsequenzen. Das müssen wir bewahren und das geschieht auch.
    Heinemann: 30 Jahre nach dem Handschlag von Verdun träumt kaum noch jemand von Europa. Was ist geschehen?
    Myard: Ganz einfach: Man hat ein Europa der Utopien geschaffen. Und irgendwann muss man zu einem Europa der Zusammenarbeit zurückkehren. Kein Europa der Integration um jeden Preis. Kein Europa der Richtlinien. Wir müssen zum Grundsatz der Subsidiarität und in den internationalen Beziehungen zu einem Sinn für die Wirklichkeit zurückfinden. Nehmen Sie Schengen: Es geht nicht darum, neue Grenzanlagen zu bauen. Aber wir können die Grenzen besser kontrollieren. Einst wollte man mit Europa einen Block schaffen, weil es einen sowjetischen und einen amerikanischen gab. Heute funktioniert die Welt nicht mehr so. Wir leben in einem globalen Dorf. Die Vorstellung von einem europäischen Block erscheint mir unnötig. Andererseits müssen wir eine Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationen erhalten. Aber wird dürfen nicht breiige Texte beschließen, welche den nationalen Parlamenten die Kompetenzen absprechen und ihnen die Rolle von Schattentheatern zuweisen.
    "Wir Verantwortlichen müssen für die Lösungen sorgen"
    Heinemann: Fast überall in Europa ist die populistische oder extreme Rechte auf dem Vormarsch. Befindet sich Europa nicht bereits auf dem Weg einer Renationalisierung und damit der Wiedergewinnung der Subsidiarität und Souveränität, die Sie befürworten?
    Myard: Man sollte nicht den Fehler begehen, die populistischen Bewegungen zum Kern der europäischen Krise zu erklären. Da es diese Krise gibt, existieren diese populistischen Bewegungen.
    Heinemann: Heißt das, dass die Populisten die richtigen Fragen stellen?
    Myard: Wenn diese Leute sagen, dass es regnet, und es regnet tatsächlich, dann sollte man das zugeben. Einige dieser Parteien stellen manche richtigen Fragen. Das heißt aber nicht, dass wir an ihrem Spiel teilnehmen. Wir Republikaner, wir Verantwortlichen, müssen für die Lösungen sorgen: Subsidiarität, bessere Kontrolle der inneren und der Außengrenzen, Schluss mit den entsandten Arbeitnehmern, die den Wettbewerb verzerren. Einführung einer wirklichen Industriepolitik, wo heute alles nur auf den Wettbewerb ausgerichtet ist. Schluss mit der Gleichbehandlung des vollkommen offenen europäischen Marktes mit denen in China und den Vereinigten Staaten. In diesem Punkt sind wir mit den Deutschen nicht einer Meinung. Das macht nichts, wir müssen darüber reden. Viele dieser Probleme entstammen dem Versuch, eine Utopie errichten zu wollen, während man tatsächlich zu einer Zusammenarbeit der Nationen zurückkehren muss.
    Außerdem stehen wir am Beginn der Wanderungsbewegungen. Leider stehen wir auch am Beginn von Parallelgesellschaften, die ausarten. Das ist lange Zeit abgestritten worden und damit wurde der Populismus gestärkt. Wenn wir diese Probleme lösen, die Kontrolle der Wanderungsbewegung, die Kriminalität, Terrorismus, Parallelgesellschaften, dann halten wir den Populismus auf. Es ist ganz einfach: Entweder erledigen der Staat und die der Republik verbundenen Parteien ihre Aufgaben und verstecken sich nicht vor der Wahrheit. Oder sie sorgen dafür, dass die populistischen Parteien zulegen.
    "Früher oder später wird ein Referendum kommen"
    Heinemann: Bruno Le Maire, möglicher Präsidentschaftskandidat Ihrer Partei, schlägt ein Referendum in Frankreich über Europa vor. Er sagt, es sei gefährlich, diese Frage zu stellen, aber noch gefährlicher sei es, diese Frage nicht zu stellen. Wie sehen Sie das?
    Myard: Bertold Brecht hat gesagt, das Volk hat falsch gewählt, also muss man das Volk auswechseln. Als Demokrat muss man den Weg bis zum Ende gehen. Ein Referendum verweigern? Darin besteht ja das Problem mit der Brüsseler Technokratie und derjenigen, die meinen, im Namen von Europa müsse es ein Diktat geben. Das klappt nicht. So wird Europa abgelehnt. Europa sollte sich mit den wichtigen Dingen beschäftigen und nicht mit der Größe von Hühnerställen und solchen Fragen, für die nur die nationalen Parlamente zuständig sein sollten.
    Heinemann: Heißt das, dass Sie ein Referendum befürworten?
    Myard: Das wird früher oder später kommen. Vor allem, wenn jetzt vorgeschlagen wird, die Wirtschaftsregierung soll durch einen europäischen Finanzminister ergänzt werden, der für den Euro zuständig sein soll. Ich sage Ihnen deutlich: Ich glaube, dass der Euro am Ende ist. Schauen Sie sich Griechenland, Portugal und Spanien an. Diese Währung ist nicht geeignet. Diese Währung ist ein politischer Werbespruch, eine religiöse Sache. Aber sie passt nicht zur europäischen Konstruktion.
    Heinemann: Worin unterscheidet sich Ihre Position von der des Front National?
    Myard: Es gibt einen Unterschied: Ich gehöre meiner Partei an und ich beantworte diese Fragen. Und das überlasse ich nicht anderen Extremisten. Man kann eine Vogel-Strauß-Politik betreiben. Dann sollte man sich aber anschließend nicht über so knappe Wahlergebnisse wie in Österreich und leider auch in Frankreich wundern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.