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"Sitzenbleiben wird als Strafinstrument genutzt"

Das Sitzenbleiben in der Schule ist für die meisten Schüler nicht hilfreich, sagt der Bildungsforscher Hans Brügelmann. Dass Kinder unterschiedliche Leistungsniveaus hätten, sei völlig natürlich. Der Unterricht müsse modularisiert werden und dürfe nicht von einem gemeinsamen Klassenziel bestimmt sein.

Hans Brügelmann im Gespräch mit Manfred Götzke | 18.02.2013
    Manfred Götzke: Die Ehrenrunde ist für die meisten Reformpädagogen ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Verschwendete Lern- und Lebenszeit für die Schüler und dazu auch noch teuer für das Schulsystem. Ganz ähnlich sehen das auch die rot-grün geführten Bundesländer und schaffen das Sitzenbleiben peu à peu ab. So werden es Grüne und Sozialdemokraten auch in Niedersachsen machen, die treten ja morgen die neue Regierung an. Ich möchte über das Sitzenbleiben mit dem Bildungsforscher Hans Brügelmann sprechen. Herr Brügelmann, Niedersachsen will das Sitzenbleiben ja nicht von heute auf morgen abschaffen, sondern überflüssig machen durch individuelle Förderung. Kann das gelingen?

    Hans Brügelmann: Na ja, wir wissen, dass alle Reformen Zeit brauchen. Insofern ist es klug, dass Niedersachsen nicht sagt, wir machen einfach einen Federstrich und verbieten etwas, sondern wir suchen nach konstruktiven Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen, dass die Schüler sehr unterschiedlich sind. Die sind schon sehr unterschiedlich, wenn sie in die Schule kommen, bleiben das aber auch über die ganze Schulzeit hinweg trotz gleichen Alters, auch trotz aller Versuche, dass man mit Sitzenbleiben, mit Sonderschulüberweisung, mit Aufteilung auf verschiedene Schularten immer wieder versucht, homogene Gruppen zu schaffen. Die Schüler sind einfach unterschiedlich, und da müssen die Pädagogen sich anders drauf einstellen, als man das Jahrhunderte gemacht hat, indem man versucht hat, auf den Durchschnitt hin zu unterrichten. Und das ist etwas, das klappt nicht von heute auf morgen.

    Götzke: Die Frage ist ja, ob das überhaupt klappt mit den derzeitigen Mitteln. Individuelle Förderung, das ist ja immer so ein schönes Schlagwort, aber funktioniert das in der Praxis überhaupt? Ist da überhaupt das Geld für da?

    Brügelmann: Also ich denke, das ist zunächst mal etwas, was sich in den Köpfen ändern muss. Solange ich in eine Klasse hineingehe mit der Vorstellung, eigentlich sind die alle ungefähr auf dem gleichen Stand, der eine ist so ein bisschen besser, der andere ein bisschen schwächer – solange wird das nicht klappen. Und wir haben halt genug Schulen, in Grundschulen häufiger als in der Sekundarstufe, aber auch, wenn Sie an Gesamtschulen denken, Gemeinschaftsschulen, zum Teil auch an Gymnasien, die sich darauf einstellen, dass trotz gleichen Alters und trotz einer gewissen Auslese, die stattgefunden hat, diese Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen und deshalb den Gleichschritt des Unterrichts auflösen, zum Beispiel in eine Freiarbeit, in der sich die Schüler aus vorbereiteten Karteien die für sie nächste Aufgabe nehmen. Und so sammeln sie im Grunde Zertifikate, die sich nachher dann addieren zu einem Leistungsausweis, den man auch als Schulabschluss mitnehmen kann.

    Götzke: Trotzdem muss ja am Ende eines Schuljahrs oder vielleicht auch nach zwei Schuljahren irgendwie das gemeinsame Klassenziel erreicht werden. Sonst kann es ja irgendwie nicht gemeinsam weitergehen, sonst funktioniert das ja alles nicht.

    Brügelmann: Na ja, diese Idee des gemeinsamen Klassenziels ist letztlich eine Fiktion. Wir haben ja auch jetzt schon in den Zeugnissen sehr unterschiedliche Bewertungen dessen, was ein Schüler aus einem Schuljahr mitnimmt. Wir tun nur so, als ob sie zumindest den gleichen Sockel hätten. Aber wenn Sie daran denken, dass diese Noten am Ende des Schuljahres ja entstanden sind aus Klassenarbeiten, für die man punktuell gelernt hat und dann vielleicht schon zwei Monate später nicht mehr genau weiß, worum es da ging, dann wird sehr deutlich, dass das alles ein ganz dünnes Eis ist, auf dem wir diese Vorstellung aufbauen. Die Schüler marschieren da in einer gemeinsamen Kohorte mit gleichem Lernerfolg durch die Schule hindurch und wie bauen sozusagen Stein auf Stein das Fundament.

    Götzke: Jetzt meinen aber viele Eltern, Lehrer, zum Teil auch Schüler selbst, dass sie eine neue Chance erhalten, wenn sie wiederholen. Wo ist da der Denkfehler?

    Brügelmann: Der Denkfehler ist darin, dass man das Sitzenbleiben als ein Strafinstrument nutzt. Es ist ja völlig richtig, dass ein Schüler merkt, dass er in einem Bereich, vielleicht auch durch Krankheit oder weil er irgendwelche Probleme zu Hause hatte oder weil er auch schlicht mal faul war, durchgehangen hat, dass er da einen Rückstand hat. Das Problem ist nur, wieso dann ein ganzes Schuljahr wiederholen, wenn sich zum Beispiel dieser Rückstand auf ein Fach beschränkt oder auf einen bestimmten Teil in einem Fach. Also wenn wir den Lehrplan modularisieren, ihn also aufteilen in kleinere Module, die man nach und nach bearbeitet, dann ist es sehr viel eher möglich, dass man solche Teilrückstände aufholt, als wenn man hingeht und sagt: Der muss jetzt das ganze Schuljahr wiederholen, wo wir dann auch sehen, dass die Schüler, die wiederholen, in relativ kurzer Zeit wieder am Ende der Klasse sind. Also anscheinend hat das Ganze nicht nur damit zu tun, ob man einen bestimmten Inhalt kann, sondern es hat viel zu tun mit Arbeitstechnik, mit Arbeitshaltung, mit Lernverhalten. Und diese Dinge, die sind nicht einfach durch eine Prüfung zu klären, durch eine Note in einer Klassenarbeit, sondern da braucht es eben Absprachen, Unterstützung, und das ist etwas, was bei uns immer noch etwas zu kurz kommt.

    Götzke: Nun hat das Sitzenbleiben und das verordnete Sitzenbleiben ja vielleicht auch eine sanktionierende Wirkung. Also schafft man es ab, würde man ja auch die warnende Wirkung von blauen Briefen abschaffen.

    Brügelmann: In der Tat. Aber was die Schüler ja dann sehen in einer Klasse, die nach solchen Modulen arbeitet, ist schon, dass andere weiter sind, und es wird ja Beratungsgespräche geben, wo man sagt, du kannst ruhig so weitermachen in deinem Tempo, dann ist dir aber klar, dass du bis zur neunten, zehnten Klasse die und die Ziele nicht erreichst. Also du musst dir das überlegen, ist dir das wichtig? Und solche Gespräche, die dann zwischen Eltern, Lehrer und Schüler stattfinden, haben ja durchaus auch eine erhebliche soziale Wirkung, also einen Druck auf die Beteiligten, dass sie sich gemeinsam überlegen, was sind unsere Ziele und können wir die in einer bestimmten Zeit erreichen, und was müssen wir dann dafür tun, dass wir sie erreichen können.

    Götzke: Sie fordern den Schülern aber auch sehr viel ab. Also ich stelle mir vor, einen Zwölfjährigen oder einen Zehnjährigen, der sich selbst sein Lernpensum einteilen muss, der Verantwortung zeigen muss – kann das denn jeder leisten? Auch jeder Schüler in der Pubertät?

    Brügelmann: Das Stichwort Pubertät ist ganz interessant. Meine erste Antwort wäre gewesen, wenn das Grundschulkinder können, dann sollten das ja Zwölfjährige auch können. Und in Grundschulen sehen wir ja, dass viele das hinkriegen. Wobei der Zeithorizont wichtig ist. Also wir fangen in der Grundschule ja an mit Tagesplänen, dann gehen wir zu Wochenplänen. Und später wird man den Zeithorizont erweitern. Aber Sie haben völlig recht, das Ganze funktioniert nicht im luftleeren Raum. Es bedarf der Absprachen, und da haben die Lehrer in der Tat eine ganz wichtige Funktion, dass sie solche – ja, in der Wirtschaft würden wir sagen, Mitarbeitergespräche führen, wo die gemeinsamen Zielvereinbarungen stattfinden und wo überprüft wird, ist das in der Zeit erreicht worden, was ist nicht erreicht worden und was können wir tun, damit es dann doch wieder besser weitergeht.

    Götzke: Sitzenbleiben ist nicht mehr zeitgemäß, sagt der Bildungsforscher Hans Brügelmann. Rot-grün in Niedersachsen will das Sitzenbleiben peu à peu abschaffen. Vielen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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