Freitag, 29. März 2024

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Sitzung der EU-Innenminister
Esken: Seehofers Angebot zur Flüchtlingsverteilung ist vergiftet

Die Zusage Deutschlands, ein Viertel der aus Seenot geretteten Migranten aufzunehmen, müsse dauerhaft gelten, fordert Saskia Esken (SPD) im Dlf. Auf das befristete Angebot von Bundesinnenminister Horst Seehofer, könnten sich die europäischen Partnerländer dagegen nicht einlassen.

Saskia Esken im Gespräch mit Silvia Engels | 09.10.2019
Saskia Esken (SPD), Mitglied des Deutschen Bundestages, spricht zu einem von der AfD-Fraktion angekündigten Antrag das Medienprivileg im Datenschutz auszuweiten im Deutschen Bundestag
Deutschland müsse auch in der Flüchtlingspolitik verlässlicher Partner in Europa sein, fordert Saskia Esken (picture alliance/dpa - Christoph Soede)
Silvia Engels: Gestern ging die Sitzung der EU-Innenminister in Luxemburg zu Ende. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte gehofft, einige Länder für seinen Vorstoß zu gewinnen, Regeln und Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen, die aus Seenot aus dem zentralen Mittelmeer gerettet werden. Er selbst hat ja angekündigt, dass Deutschland in Vorleistung geht und bei den Schiffbrüchigen künftig bereit ist, ein Viertel der Geretteten aufzunehmen.
Doch der Plan, mehr Unterstützung zu bekommen, ging bislang nicht auf. Nach wie vor sind nur Frankreich, Italien und Malta dabei. Luxemburg interessiert sich, aber eine Quotenfestlegung haben wir hier nicht gesehen. – Am Telefon ist nun Saskia Esken. Sie ist für die SPD Mitglied im Bundestags-Innenausschuss und bewirbt sich gerade gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans um den SPD-Parteivorsitz. Guten Morgen, Frau Esken.
"Seenotrettung ist oberstes humanitäres Gebot"
Saskia Esken: Guten Morgen, Frau Engels.
Engels: Ist der Vorstoß Seehofers damit gescheitert?
Esken: Das wissen wir natürlich noch nicht. Zunächst mal muss ich sagen, die Seenotrettung ist natürlich oberstes humanitäres Gebot jetzt. Es muss ja letztlich eine gemeinsame und staatliche Aufgabe werden, dass das Sterben im Mittelmeer endet. Aber die ersten Schritte wären natürlich, Häfen zu öffnen, die Arbeit der Kapitäne und Besatzungen zu entkriminalisieren, damit auch die Aufnahme ermöglicht wird. Wir haben so viele Kommunen auch in Deutschland, die gesagt haben, wir sind bereit, hier einzugreifen, wir wollen nicht mehr zusehen. Und da jetzt zu sagen, da müssen wir aber zunächst eine europäische Lösung haben, bremst die Sache natürlich ungemein wieder aus. Und es stehen wieder Schiffe vor den Häfen und können nicht einlaufen, Menschen ertrinken. Da müsste man einfach mal handeln.
Engels: Aber hat Horst Seehofer mit seinem Vorstoß, ein Viertel der aus Seenot Geretteten aufzunehmen, etwas richtig gemacht in Ihrer Sicht?
Esken: Wir müssen es tun. Wir dürfen es nicht abhängig machen von einer europäischen Einigung. Und wir dürfen vor allem nicht gleichzeitig dieses Abkommen torpedieren, weil Seehofer sagt, es ist zunächst befristet und es ist vor allem befristet bis zu dem Moment, wo er findet, die Zahlen würden wieder ansteigen. Dann würde er sofort aussteigen. Das ist eine Handlungsstrategie, die nicht dazu führen kann, dass andere Länder sagen: "Oh, darauf lasse ich mich ein."
"Das ist kein Angebot an die anderen Länder"
Engels: Was hätte er denn noch tun sollen, um mehr Zustimmung der anderen EU-Partner zu gewinnen? Denn immerhin diese Vorleistung, diese Aussage, für die er auch sehr viel Kritik aus dem rechten Unions-Flügel bekommt, die hat er gemacht.
Esken: Ja, die hat er gemacht. Aber er hat natürlich gesagt "eingeschränkt" und sofort gesagt, sollten die Zahlen ansteigen, würde er, würden wir, Deutschland, sofort aussteigen aus diesem Abkommen. Das ist kein Angebot an die anderen Länder. Das ist ein vergiftetes Angebot.
Engels: Kritiker auch aus der Union halten Horst Seehofer aber vor, schon diese Ankündigung, Deutschland werde zumindest zeitlich befristet künftig ein Viertel der aus Seenot geretteten Migranten aufnehmen, werde mehr Menschen veranlassen, in die Schlepperboote zu steigen und ihr Leben zu riskieren. Ist da nicht was dran?
Esken: Ich finde solche Behauptungen, Menschen würden sich auf eine lebensgefährliche Flucht begeben, weil Deutschland eine Ankündigung macht, ziemlich abstrus.
Zusage für Flüchtlingsaufnahme muss dauerhaft sein
Engels: Das heißt, Sie sind dafür, dass diese Ankündigung, dass ein Viertel aufgenommen wird, dauerhaft Bestand haben soll?
Esken: Die muss dauerhaft Bestand haben. Sonst können sich unsere europäischen Partnerländer nicht darauf einlassen. Wir haben ja schon lange vor, so ein gemeinsames Abkommen über Kontingente mit den Partnern zu schließen, und da muss man natürlich auch verlässlich als Partner sein und nicht schon wieder einschränken, es könne ja möglich sein, die Zahlen steigen, dann steige man sofort wieder aus.
Engels: Ist auf der anderen Seite nicht genau dies das Problem, wenn niemand in Vorleistung geht - und das sehen wir hier auch -, dass überhaupt nichts passiert, und alleine diese Ankündigung, mit der Deutschland sich ja schon auch versucht, da zu positionieren, hat ja nicht dazu geführt, dass man Unterstützung kriegt. Das heißt, Ihre Ideen in allen Ehren, aber damit gewinnt man doch auch keine europäischen Partner hinzu.
Esken: Ich kann das nachvollziehen, dass die europäischen Partner da vorsichtig sind, weil die Töne ja vor eineinhalb Jahren noch andere waren. Ich erinnere mich an diese – ich weiß gar nicht, waren es 63 oder 69 Punkte des Masterplans von Herrn Seehofer. Das klang ja noch ganz anders. Und er hat ja auch keine Bereitschaft gezeigt, sich mit den Mitgliedsstaaten in Verhandlungen zu begeben. Ich erinnere mich, dass Kanzlerin Merkel damals gesagt hatte, das sei dann seine Aufgabe. Diese Rhetorik, dieses Zusammenspiel auch mit Viktor Orbán beispielsweise, das sind doch alles Signale, dass man es nicht ernst meint, und dann muss man sich auch nicht wundern, wenn nachher keine Bereitschaft kommt. Solidarität ist an der Stelle tatsächlich keine Einbahnstraße.
EU-Partner durch Vorleistung und Vorbild überzeugen
Engels: Auf der anderen Seite gibt es ja klare Positionierungen aus Mittel- und Osteuropa, zum Teil auch aus Österreich, die sagen, Rettung ja, aber sie sehen sich auch jetzt schon noch nicht mal zeitlich temporär in der Lage oder sind willens, dauerhaft Flüchtlinge aus Seenot aufzunehmen. Wie sollte das anders sein, wenn man jetzt diesen Mechanismus noch kontinuierlich fortschreibt? Das wird die ja auch nicht überzeugen.´
Esken: Ja, das ist schon richtig. Die muss man durch entsprechende Vorleistungen und durch Vorbild überzeugen und durch eine konsistente Haltung, und diese konsistente Haltung kann ich ausgerechnet bei Herrn Seehofer nicht sehen. Möglicherweise können wir hier nicht von einer Zustimmung von allen Ländern ausgehen.
"Wir müssen Menschen mit Asylgrund unbegrenzt aufnehmen"
Engels: Und wenn nun doch die Zahl der Menschen, die künftig auf Booten über das zentrale Mittelmeer kommen, wieder stark ansteigt, was dann? Soll Deutschland dann unbegrenzt aufnehmen?
Esken: Nein. Wir müssen Menschen unbegrenzt aufnehmen, soweit sie einen Asylgrund vorzuweisen haben oder einen Grund zu kommen nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Ich halte nichts von Obergrenzen an der Stelle. Aber natürlich, weil Sie auch sagten, dauerhaft aufnehmen: Diese Menschen werden ja nicht dauerhaft aufgenommen, wenn sie keinen Grund hatten zu fliehen. Es gibt ja durchaus auch Rückführungen und Abschiebungen. Aber zunächst mal geht es doch um die Frage, dort humanitär einzugreifen und auch tatsächlich die Leute aus der Not zu retten.
Engels: Frau Esken, Sie bewerben sich gerade um den SPD-Vorsitz und Sie plädieren für den sofortigen Austritt aus der Regierungskoalition mit der Union. Aber wenn wir beim Thema Migration und Flüchtlinge mal bleiben: Zumindest in Teilen gibt es ja bei Ihnen Übereinstimmung mit der Linie von Horst Seehofer. Ist es da angemessen, diese Regierung so in Frage zu stellen?
Esken: Ich bin mir nicht sicher, dass es in unserer Partei in Teilen Zustimmung zu Herrn Seehofers Linie insbesondere gibt. Ich erinnere mich an die durchgehende Empörung gegenüber diesen 63 Punkten und ich erinnere mich an die Scham, die wir alle empfunden haben an seinem 69. Geburtstag, als er über die Abschiebung von 69 Menschen nach Afghanistan gelacht hat.
"Austritt aus der Großen Koalition ist für mich kein Selbstzweck"
Engels: Na ja. Aber er hat jetzt natürlich eingeräumt und plädiert auch für humanitäre Hilfe bei der Seenotrettung. Das lässt sich ja auch nicht vom Tisch wischen.
Esken: Nein, es lässt sich nicht vom Tisch wischen. Natürlich nicht! Aber es ist keine konsistente Haltung. Der Austritt aus der Großen Koalition ist für mich kein Selbstzweck. Da geht es mir nicht darum, die Regierung so schnell wie möglich zu beenden, sondern es geht mir darum, dass die Sozialdemokraten sehr genau hinschauen müssen: Zum einen, ist denn der Koalitionsvertrag in dem Maße, wie wir es uns vorstellen müssen in der Halbzeitbilanz, auch tatsächlich abgearbeitet worden? Sind da die Vereinbarungen befolgt worden? Aber auch natürlich: Hat die Große Koalition noch Kraft, die wirklich wichtigen Fragen der Zukunft zu lösen? Da geht es natürlich auch um den Klimawandel und um die notwendigen Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden müssen, aber auch um die soziale Ungleichheit, die uns ja regelmäßig von den Soziologen, von den Wissenschaftlern immer wieder vorgetragen wird. Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Die Union sagt, die Verteilungsfrage stellt sich nicht. Da tue ich mich schon schwer damit, mir vorzustellen, dass wir gemeinsam tatsächlich diese wichtigen Fragen angehen können.
Engels: Klimaschutz, Umverteilung, soziale Schieflagen - das sind in der Tat strittige Themen. Aber dann bleiben wir doch mal bei dem Thema, über das wir gerade sprechen: Migration. Was würde denn für die Bootsflüchtlinge besser werden, wenn Sie nun die deutsche Bundesregierung platzen lassen?
Esken: Das ist nicht eine Frage der Weiterführung der Bundesregierung, ob wir einzelnen Menschen helfen können, sondern da haben wir ja Verträge mit den Kommunen.
Engels: Aber da gerade braucht es Kontinuität. Das haben Sie ja selber angemahnt beim Thema Migration und Flüchtlinge.
Esken: Ja, das ist schon richtig. Wenn die Sozialdemokraten die Bundesregierung verlassen heißt das nicht, dass wir keine Stabilität oder keine Kontinuität in Deutschland hätten. Wir sind in der Lage, mit solchen Situationen umzugehen. Auch mit kontinuierlicher Regierungsarbeit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.