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Sizilien
Süße Verlockungen rund um den Ätna

Wer Süßes liebt, der kann sich in Sizilien satt sehen - und essen. In Catania, sagt man, beginnt der Tag mit süßen Dingen und endet mit ihnen. Von Pistaziengebäck über Cannoli bis hin zur sizilianischen Schokoladenkunst - in Sizilien lohnt sich eine kulinarische Reise entlang der süßen Attraktionen.

Von Manfred E. Schuchmann | 29.05.2016
    Lava fließt am 13. August 2014 vom Vulkan Ätna auf der Insel Sizilien nahe der Stadt Catania. Der Vulkan ist einer der weltweit aktivsten.
    Heiße Schokolade - statt glühende Lava - bei einer Reise um den Ätna lassen sich zahlreiche süße Spezialitäten entdecken (AFP / TIZIANA FABI)
    Catanias Domplatz dröhnt vom Geläut der Glocken und schwirrt vom Gewirr der Stimmen. Es ist Samstag vormittag, die Caffès sind dicht besetzt, Menschen mit prallen Einkaufstüten eilen umher, der Fischmarkt und die Gemüsestände liegen gleich um die Ecke. Aber heute haben vor allem die Kerzenverkäufer ihren großen Tag.
    Wer aus deutschen Kirchen Teelichter und blasse Wachskerzlein kennt, wird vor Catanias Kathedrale seinen Augen nicht trauen. Hier verkaufen die fliegenden Händler fast armdicke und fast mannshohe bienenwachsgelbe Riesenkerzen. Jedenfalls heute, denn dieser Tag gehört der Heiligen Ágata, der Schutzpatronin der Stadt. Wer eine solche Kerze kauft, muss sich der Heiligen besonders verbunden fühlen, denke ich. Oder hat er ihre Fürsprache besonders nötig?
    Am Domplatz beginnt Catanias großer Corso, die Via Etnea, drei Kilometer lang und schnurgerade. Sie führt vorbei an prächtigen Palästen und anderen, deren Patina nachgedunkelt ist. An ihrem entfernten Ende steigt die Via Etnea an, dahinter zeigt sich für Augenblicke der schneebedeckte Ätna. Ein kräftiger Wind spielt mit den Wolken, schiebt sie vor den Berg und bläst sie wieder weg. Was für ein Schauspiel - Vorhang auf, Vorhang zu!
    Orte der weltlichen Verlockung
    Ich schlendere gemächlich die Via Etnea hinauf. Schwer zu schätzen, ob Catania mehr Kirchen, Klöster und Konvente - zählt und es sind sehr, sehr viele - oder doch mehr Orte der weltlichen Verlockung: Pasticcerie, Gelaterie, Graniti-Verkäufer und Mandelbrenner, süße Verführer allesamt. Entlang der Via Etnea reihen sich Bars, Cafés und Konditoreien, Mandelbrenner, Eis- und Bonbonverkäufer - dolci wohin man schaut. In Catania, heißt es, beginne der Tag mit süßen Dingen und ende mit ihnen. Doch auch die Stunden dazwischen wollen vernascht sein.
    Das klassische Frühstück in Catania ist die Granita mit einer Brioche, sommers wie winters, sagt Claudio Savia, der Padrone der berühmten Pasticceria Savia, Via Etnea Ecke Via Umberto, genau gegenüber der Villa Bellini, Catanias Stadtpark, benannt zu Ehren des Komponisten Vincenzo Bellini. Seit 1897 gibt es die Pasticceria Savia. Das klassiche Frühstück also besteht aus einer süßen Brioche und einem Glas Granita.
    "Die Granita mit Mandel-, Kaffee- oder Pistaziengeschmack, im Sommer auch Erdbeere. Unsere Brioche sind leicht süß und haben ein Häubchen. Man tunkt sie in das halbgefrorene Eis der Granita und isst sie - der Frühstücks-Klassiker in Catania wie überhaupt in Sizilien!"
    Süße Brüste zu Ehren der heiligen Agata
    Die Vitrinen der Pasticceria Savia sind in drei Etagen bestückt. Meine Augen wandern über Bleche mit Mandelplätzchen, Haselnussgebäck und Pistazienkeksen, über Teigkörbchen aus Mandeln und Pistazien, über ungezählte Torroncini - kleine, krachelige Riegel aus Mandeln, Zucker und Honig. Dann sehe ich mich voller Bewunderung an Marzipanfrüchten fest, von Hand bemalt wie kostbares Porzellan, einzeln oder in kleinen Steigen verpackt - Orangen, Granatäpfel, Kaktusfeigen, Aprikosen, Khaki oder auch Tomaten, dazu ganze Schalen voller Birnen oder Mandarinen. Kleine Kunstwerke, allesamt! Schließlich wird mein Blick wie magisch von der Abteilung der Sahne- und Ricotta-Törtchen angezogen: Cannoli, Cassate, Beignets in jeder Größe und jedem Aroma und einer Spezialität in Form einer kleinen, wohlgerundeten Halbkugel, schneeweiß und mit einer kandierten Kirsche obenauf - ohne Zweifel die süße Verkörperung einer weiblichen Brust.
    "Wir machen diese Törtchen zu Ehren der Heilige Agata, unserer Märtyrerin, der man einst die Brüste abgeschnitten hat. Dieser Tage feiern wir gerade das Fest der Heiligen Ágata - und mit der Kirsche sieht eine Cassatella doch wirklich aus wie eine weibliche Brust"
    Kann tiefe Frömmigkeit süßer sein? Als ich die Cassatella, das Törtchen der Heiligen Agata, auf dem Teller und der Gabel habe, stellt sich sofort heraus, dass sie mindestens so süß ist wie die barocken Malereien in Catanias Kirchen, auf denen die heiligen Märtyrer verzückt gen Himmel schauen.
    Das echte sizilianische Cannolo
    Eine ganz ähnliche Verzückung malt übrigens auch der sizilianische Schriftsteller Andrea Cammileri auf das Gesicht seines Commissario Montalbano, wenn der in seiner Lieblings-Trattoria Cannoli verspeist. Schillerlocke hatte ich Zuhause in meinem Diktionär als Übersetzung für Cannolo gefunden. Von wegen Schillerlocke. Völlig daneben!
    "Ein Cannolo ist eine sehr mürbe, sehr duftige Waffel, frisch gebacken, und ausschließlich mit Ricotta gefüllt, und zwar Ricotta aus Schafsmilch. Dazu Zucker und kleine Würfel von kandiertem Kürbis. Das ist das echte, sizilianische Cannolo, wie wir es seit Generation machen"
    Was Signor Savia bescheiden unterschlägt: die Cannoli seines Hauses haben in etwa den Durchmesser eines Zwei-Zoll-Wasserrohres und sind eine gute Handspanne lang. Wie Commissario Montalbano nach einem solchen Dessert noch in der Lage ist, seine verzwickten Fälle im fiktiven sizilianischen Küstenstädtchen Vigata zu ermitteln, das bleibt das Geheimnis seines Autors Andrea Camilleri.
    Mit dem Zug um den Ätna
    Am nächsten Tag besteige ich einen der malerisch-altmodischen Triebwagen der FCE - der Ferrovia Circumetnea, Siziliens letzter Schmalspurbahn, die von Catania-Borgo aus den halben Ätna umrundet. Claudio Savia von der gleichnamigen Pasticceria hatte mir gestern noch mit auf den Weg gegeben, das Abendessen auf jeden Fall mit einem süßen sizilianischen Likör zu beschließen - einem Rosolio, vielleicht mit starkem Kaffeegeschmack, einem Orangenlikör oder einem aus Mandarinen. Es wurden mehrere Liköre.
    Catania zerfranst in seinen Vororten. Der Triebwagen dieselt an Siedlungen, Gewerbegebieten und Brachland vorbei. Dann erste Orangenhaine, dunkelgrün mit leuchtenden Früchten. Silbergraue Oliven, Rebzeilen mit Wein, Ginster und Mimosen tuschen Gelb in die frischgrünen Gärten. Plötzlich ein graues Kraterfeld aus erstarrter Lava und wenig später dichte Kakteenhecken mit roten Früchten neben den Schienen. Wie viele Zutaten, Geschmäcker, Aromen, Gewürze für all die raffinierten Rezepturen der dolci, der unglaublich vielfältigen Süßspeisen Siziliens, gedeihen allein an den Hängen des Ätna?!
    Ich sitze in der Ferrovia Circumetnea nicht gerade komfortabel, Generationen von Pendlern und Schülern haben die Plastikpolster platt gedrückt. Die Luft im Abteil ist dieselgeschwängert, die Gedanken schweifen ab.
    Wer in Sizilien reist, ist schon immer auf den Spuren anderer Reisender unterwegs. Große Namen der Vergangenheit, Goethe, Seume, Richard Wagner, Ernst Jünger. Hanns-Joseph Ortheil hat die Insel der Dolci erst vor wenigen Jahren umrundet und durchquert, auf der Suche nach den süßen Paradiesen. Ortheil ist ein Mann von nie versagendem Appetit und bewundernswerter Kondition, und seine wundervollen kulturhistorischen Abschweifungen dosiert er so klug und verdaulich, dass die Lektüre kein Völlegefühl hinterlässt. Wer das Süße sucht in Sizilien, muss Hanns-Joseph Ortheil in der Tasche haben.
    Das Zischen der Hydraulik reißt mich aus dem Halbschlaf, ich schaue aus dem Fenster: zwischen Trockenmauern aus Vulkangestein ragen hellgrau die bizarren Figuren von Pistazienbäumen empor, nächster Halt Bronte - am Westhang des Vulkans stauen sich dunkler und dunkler die Wolken.
    Das ist kein freundlicher Empfang im Ätna-Städtchen Bronte: grau, sehr kühl, sehr nass. Natürlich habe ich keinen Schirm dabei, wozu auch - in Catania schien gerade noch die Sonne.
    Ein Glück, dass die nächste Pasticceria in Sizilien niemals weit ist, und die Pasticceria Crystal Bar in Bronte bietet Zuflucht. Erstmal einen ganz heißen Cappuccino, und dann vielleicht etwas Süßes. Die Karte verheißt Specialità al pistacchio - alles grün, alles mit Pistazien.
    "Die Pistazien gedeihen gut an den Hängen des Ätna, und unsere Pistazien sind weithin berühmt", sagt Daniele Castiglione, der Meister-Pasticciere der Crystal Bar. Bronte ist so etwas wie die sizilianische Welthauptstadt der Pistazie.
    "Aus Pistazien lässt sich alles mögliche machen, unsere Pistazien sind berühmt. Wir verwenden sie in der Pasticceria genauso wie in der Küche. Also ganz traditionell sind natürlich die Pistazientorte und Pistaziengebäck, dann unsere "Zyklopenküsse" und die "Mini-Roll", eine Waffelröhre mit weicher Pistaziencrème gefüllt. Alles ist grün, ganz Bronte ist grün.
    Ich bestelle eine kleine, eine ganz kleine Garnitur der grünen Meisterwerke aus der Hand von Daniele Castiglione, dazu noch einen Cappuccino - kein Italiener und schon gar kein Sizilianer trinkt am frühen Nachmittag noch Cappuccino - und ich weiß nach wenigen Bissen, dass sich vor dem späten Abend bei mir keinerlei Hungergefühl mehr melden wird.
    Von den Pistazien in Richtung Schokolade
    Es regnet immer noch in Bronte, es regnet heftig. Und so weit der Blick hinausreicht in das Hügelland unterhalb des Ätna - alles tiefgrau, schiefergrau, dunkelgrau. Der Regen bewirkt aber auch einen Zauber: innerhalb der wenigen Stunden zwischen Hin- und Rückfahrt sind die Mandelknospen aufgeblüht - ein weißrosa Gewölk begleitet mich zum Gerüttel des Triebwagens. Bronte war das pistaziengrüne Ausflugsziel auf dieser Erkundungsreise durch das süße Leben in Sizilien, morgen will ich das schokoladenbraune Kapitel aufschlagen, morgen geht es nach Módica.
    Über Modica strahlt die Sonne aus einem unverschämt blauen Himmel. Módica ist in die Schluchten und Täler der Monti Iblei hineingebaut und auf ihre Bergsporne und Plateaus. Eigentlich kaum Platz für ausladende Barock-Architektur. Die Baumeister haben Kirchen und Paläste dennoch in diese verwegene Topographie gesetzt - beim Wiederaufbau der Stadt, die 1693 wie der gesamte Südosten Siziliens von einem gewaltigen Erdbeben völlig zerstört worden war. Der Corso Umberto I ist die Schlagader von Modica und die Herzkammer der sizilianischen Schokoladenkunst.
    Das Caffè dell'Arte liegt am Corso Umberto I, genau auf Höhe des Schokoladenmuseums von Modica. Und: das Caffè liegt auf der Sonnenseite des Corso. Die Tischchen im Freien sind gut belegt, man trinkt einen Caffè oder eine heiße Schokolade, isst eine Brioche oder süßes Gebäck - alles aus eigener Herstellung. Neben dem jungen Kellner bedient ein älterer Herr mit dunkler Brille, schwarzer Hose, schwarzem Hemd, darüber die kurzärmlige, blütenweiße Jacke des Meister-Chocolatiers. Als er die Arme zu einer weit ausholenden Geste breitet, macht es in meinem Gedächtnis klick! Das ist der Mann, der den Umschlag von Hanns-Josef Ortheils sizilianischem Dolci-Buch ziert - kein Zweifel. Er heißt Ignazio Iacono und erinnert sich an den Besucher:
    "Er hat sich nicht als Schriftsteller vorgestellt. Sehr freundlich, ein netter Mensch, hat nach den klassischen Dolci von Módica gefragt, nach unserer Schokolade - und wir haben alles beantwortet. Er machte sich Notizen, ein paar Fotos, aber dass er Schriftsteller ist: wir hatten keine Ahnung."
    Die Ahnung bekam Ignazio Iacono ein Jahr später, als deutsche Gäste auftauchten und ihm ganz aufgeregt das Buch von Hanns-Josef Ortheil zeigten. Er war vom Donner gerührt - er, Ignazio Iacono, als Titelbild! Und nichts davon gewusst! Die Deutschen schenkten ihm das Buch. Heute steht es in einem kleinen Schaufenster des Caffè dell'Arte.
    Ortheil kam natürlich wegen der berühmten Schokolade von Módica zu Meister Iacono. Die Schokolade von Módica hat in Europa nämlich nicht ihresgleichen, sie kam sozusagen auf direktem Umweg von den Azteken nach Sizilien - die Konquistadoren hatten Kakao und Rezept aus Mexiko nach Spanien mitgebracht. Um 16 Uhr herum herrschten die Spanier über Sizilien, und am Hof der bedeutenden Grafen von Modica trank man spanische Schokolade.
    "Ich zeige Ihnen gleich die Werkstatt, in der das Foto von mir gemacht wurde, eine Museums-Werkstatt."
    Die Bottega, die Werkstatt, ist ein höhlenartiger, karger Raum in einer Hintergasse. Auf einem großen Holztisch liegt ein großer Brocken grauer Rohschokolade, dann ein Steinblock mit einer seltsam geschwungenen Form darauf (die aussieht wie eine Ski-Schanze in klein), an der kahlen Wand ein Christus als vergilbter Stahlstich.
    "Was machen wir also? Wir lösen die Rohschokolade bei vierig, zweiundvierzig Grad auf, fügen den Zucker zu und arbeiten die Schokolade durch."
    So ungefähr muss die Schokolade schon zu Zeiten der Azteken, der Spanier und der Grafen von Modica verarbeitet worden sein: Maestro Iacono hat eine Pfanne mit Holzkohle unter die kleine Ski-Schanze gestellt (die in Wirklichkeit aus poliertem, schwarzem Lavastein besteht), er legt Rohschokolade auf die Lava, erwärmt sie und walzt sie mit einer Art Nudelholz aus, das ebenfalls aus schwerem Stein ist. Die Zuckerkristalle schmelzen nicht bei niedriger Temperatur, sie bleiben in der Schokoladenmasse erhalten. Die Schokolade von Modica ist dunkel, pur, ohne irgendwelche Zusätze von Milch oder Sahne oder Lecithin oder Fetten, körnig und krümelig in der Konsistenz, keine flache Tafel, sondern ein kleiner, massiver Barren mit hohem Kakao-Anteil. Vanille oder Zimt sind traditionelle Aromen, Chili, Ingwer oder Orangeat neuere Varianten. Die Schokolade von Módica schmeckt, als hätte man überhaupt zum ersten Mal im Leben ein Stück Schokolade auf der Zunge.
    Zurück an meinem Tischchen vor dem Caffè dell'Arte von Maestro Iacono . Wo der Corso Umberto in einer Kurve aus meinem Blickfeld verschwindet, leuchtet die Sonne die steile Häuserkulisse von Modica an, eine Fassade über die andere gestaffelt - in Ocker, Gelb und Apricot. Oder in Zimt, Vanille und Kakao? Ich kann schon nicht mehr anders denken als in den süßen Aromen Siziliens.
    Eigentlich würde zur Sonne jetzt ein Gelato passen oder eine Zitronen-Granita?! Nein - Sonne hin, Sonne her - kein Eis, keine Granita. Zum Abschluß trinke ich eine Tasse heiße Schokolade, Schokolade aus Modica, aus der Bottega von Meister Iacono. Und mit den ersten kleinen Schlucken weiß ich, diese Tasse ist mein neues Eichmaß für heiße Schokolade, ihr Goldstandard. Und ich vermute, auf meinem
    Gesicht steht jetzt ein Ausdruck heiligenmäßiger Verzückung. Ach, wer den süßen Verlockungen leicht erliegt, der ist in Sizilien verloren.