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Skandalregisseur inszeniert Skandalfrau

Der spanische Regisseur Calixto Bieito versucht in Mannheim Wedekinds Lulu als knallgelbe Popfigur aufzubauen. Dabei greift er die mediale Zurichtung kindlicher Sexualität für den männlichen Blick kritisch auf – für seine Inszenierung hat das jedoch desaströse Folgen.

Von Christian Gampert | 04.10.2009
    Dass Calixto Bieito keinen Sinn für das Subtile und Dezente hat, ist in der Branche hinlänglich bekannt. Er ist der Mann fürs Grobe, und jenseits der großen Gesten und pathetischen Bilder fällt ihm nicht viel ein. In der Oper ist seine Methode der unverblümten Sexualisierung immer noch erfolgreich – sobald er aber mit Sprache arbeiten muss, und das muss man nun mal im Schauspiel, versagt Bieito auf ganzer Linie: Er behandelt Schauspieler wie Sänger, die, bitteschön, stets hochtourig daherzukommen haben, und flüchtet in Körperlichkeit und großräumige Bühnenbilder.

    Bieitos Mannheimer Wedekind-"Lulu" ist insofern eine Bankrotterklärung, als er das Stück vor einem halben Jahr in Basel schon einmal so ähnlich inszeniert hat, in der Opernversion von Alban Berg. Damals ließ er die Lulu-Darstellerin Marisol Montalvo den ganzen Abend lang fast nackt agieren, eine Art Unterwäschemannequin für ziemlich dumme Männer, das praktischerweise eine großartige Sopranstimme hatte.

    Auch in Mannheim ist die Lulu ein Nacktmodell, allerdings ohne eine Spur von Verruchtheit. Bieito hat die Rolle mit der gelernten Tänzerin Sabine Fürst besetzt, die auch gleich eilfertig ins Spagat springt und den Männern stets stutenhaft willig ihr Hinterteil entgegenstreckt, aber im Grunde immer nur das Pippi-Langstrumpf-Girlie bleibt, das sie schon in der ersten Szene war. Bieito will diese Lulu als eine Art knallgelbe Popfigur aufbauen, zwischen Kindersex und Selbstvermarktung. Allein: die echten Pop-Ikonen, die lasziv mit dem Scheinnaiven und der Vulgarität spielen, haben doch erheblich mehr professionellen Eros – man denke etwa an Courtney Love oder an Madonna.

    "Like a Virgin": der Madonna-Song wird in Mannheim von einer Nymphchen-Riege vorgetragen, fünf kleine Lolitas, die ein bisschen Karaoke machen und die Posen der echten Stars kopieren wie einst in der Mini-Playback-Show – in den 90er-Jahren war das eine ziemlich obszöne Fernsehveranstaltung mit Marijke Amado. Bieito greift diese mediale Zurichtung kindlicher Sexualität für den männlichen Blick kritisch auf – aber für seine Inszenierung hat das desaströse Folgen. Seine Lulu ist – zumindest im ersten Teil – weder Opfer noch Projektionsfläche für Männerfantasien, sondern ein hergestelltes, überkandideltes Wesen aus dem Schulmädchenreport, eine Göre, die gern ein Las-Vegas-Bunny sein möchte. Sie hat kein Geheimnis, das die Männer locken könnte, sondern sie bietet sich einfach nur an.

    Die bigotte Moral des deutschen Kaiserreichs, gegen die Wedekind anschrieb, ist heute längst ad acta gelegt; wer die Lulu heute inszeniert, muss schon erklären, woraus die sexuelle Hörigkeit entsteht. Bieito kann das nicht, er kennt nicht die Spiele von Unschuld, Verführung und Verhüllung, im Gegenteil: Er hält ständig gespreizte Schenkel für den Gipfel der Erotik. Andauernd muss er seine Schauspieler in flagranti ertappen, bei merkwürdigen Katzbalgereien – für den Zuschauer eine ermüdende Übung, und für die Akteure wahrscheinlich auch. Der Maler Schwarz ist bei Bieito ein Action Painter, der mit tropfendem Pinsel vor dem Modell Lulu steht; der Chefredakteur Dr. Schöning ein Morphinist, der sich den Stoff knapp neben dem Penis injiziert. Auch darf er Lulu seine Pistole ausdauernd in die Scham halten – Bieito macht sich mit seiner Holzhammermethode fast die beste Szene, Lulus Mord an dem hörigen Schöning, kaputt.

    Nach dieser Verzweiflungstat bekommt die Inszenierung dann ein Minimum an sozialer Tiefenschärfe, trotz diverser Veitstänze, Tampon-Würfe und Tortenschlachten. Die Showtribüne des ersten Teils wird nun zum Müllplatz, auf dem der alte Schigolch nach Essbarem sucht und die von Lulu gedemütigte lesbische Gräfin Geschwitz herumkriecht– Ragna Pitoll macht aus ihr eine wirklich Verlorene. Und in der Gosse, als Nutte, ist die Lulu nun erheblich glaubwürdiger als in den Kinderkniestrümpfen der Anfangsszene. Aber nicht Jack the Ripper, der sie meuchelt, ist der Publikums-Schocker, sondern der Gorilla Kungu Poti. Als der Lulus letzten Ehemann Alwa mit einer schäumenden Colaflasche erschlägt, macht er dabei diverse Maßanzüge in der ersten Zuschauerreihe nass. Ach, Calixto Bieito ist schon ein toller Spritzer. Aber allmählich geht ihm der Saft aus.