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Skizzen aus der Kindheit

Luc Bondy ist seit rund 30 Jahren vor allem als Theaterregisseur bekannt, als Erzähler trat er erstmals 1998 auf, mit kurzen Prosastücken unter dem Titel "Wo war ich". Sein neues Buch "Meine Dibbuks" knüpft an die Skizzen des Erstlings an, lässt aber die Miniaturen wachsen bis hin zu einem kleinen Entwicklungs- und Bildungsroman von 50 Seiten.

Von Gabriele Killert | 10.10.2005
    Luc Bondys erzählerische Anfänge liegen schon eine Weile zurück. Als Kind konnte er sich aus einem Haufen Knöchelchen am Strand Geschichten ausdenken, in denen überraschenderweise Prinz Charles vorkam. Erste Schreibversuche landeten aber im Papierkorb. Der Nasenvergleich mit Cyrano de Bergerac ermunterte ihn dann, kurz ins Komödienfach reinzuriechen. Das waren zu viele halbe Talente. In einem kleinen Stadttheater dann der coup de foudre namens Berufung. Luc sah den Regisseur arbeiten:

    " Er klatschte einmal in die Hände und alle blieben alle "wie erfroren" stehen, er klatschte abermals, und sie bewegten sich weiter. - Dieser Klatscher will ich sein! rief ich. Ja, unbedingt, der will ich sein! Der werde ich sein!"

    Und so ist es ja auch gekommen. Der wunderbare Regisseur, den wir seit nunmehr 30 Jahren kennen - Synonym für Leichtigkeit und schwebende Verfahren- ließ das Regiegefuchtel dann aber schnell sein, als er begriff, dass man die Form, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, nicht nach außen demonstrieren muss. Sein Ideal: ein somnambules Sprechen, wie Menschen kurz vor dem Einschlafen, wenn sie nichts Wesentliches mitzuteilen haben. Vor allem:

    " Ein Sprechen , das nicht nach schon Gesprochenem klingt ... Leise Seelenfetzen aus dem Herzen."

    Auf etwa diesen Ton sind auch die Prosaminiaturen gestimmt, mit denen uns Luc Bondy 1998 unter dem Titel "Wo war ich" überraschte, aus denen wir hier zitierten. Das waren Kindheitsreminiszenzen, wehmütige Verlustanzeigen und Schuldgeständnisse, weich hingetuschte, atmosphärische Portraits. Erinnerungsarbeit ohne jeden scharfen diskursiven Misston, nur Gesehenes, hellsichtig Erlebtes in einem Wohlklang aus Wehmut und närrischer, nachsichtiger Verliebtheit ins Leben.

    In seinem neuen zweiten Prosaband "Meine Dibbuks" knüpft Bondy dort wieder an, wo er im ersten aufgehört hat: mit einer Huldigung an seinen vor zwei Jahren verstorbenen Vater Francois Bondy. Ein Buchmensch, bedeutender Literaturkritiker- und Vermittler, Kraftwerk des Wissens wie schon die Vorväter es waren. Einer, der ganz in der Zwiesprache mit Büchern lebt und aufgeht. Und wie war er als Vater? Da fällt der schöne, französisch -Bondys erste Muttersprache- gebaute Satz:

    " Ich sehe ihn mich lange nicht wirklich wahrnehmen."

    Mit Kindern konnte der viel beschäftigte Mann nicht viel anfangen. Übermut, Sentimentalität, nackte Gefühle, überfließende Herzen verabscheute er.

    " Ein Kuß von ihm fühlte sich an wie die Umarmung eines Skeletts. Seine Backe ließ er nie länger als eine Viertelsekunde an meiner. Wie einen kleinen elektrischen Schlag spürte ich seine frischrasierte Haut."

    Als Luc einmal unterm Weihnachtsbaum aus Versehen ein Päckchen seiner Schwester öffnet und sich das silberne Armband voller Freude um den Hals hängt, zuckt der Vater zusammen. Irgendwie schien dieser weichherzige Sohn nicht ganz nach seinem Herzen zu geraten, d.h. geeignet, die Bondy'sche Denker- und Schriftsteller-Dynastie einmal produktiv weiterzuführen. Er hat es nie so ausdrücklich gesagt, aber es war zu spüren. Eine Konstellation, die Konfliktstoff für hundert deutsche Vater-Sohn-Dramen abgeben würde. Nicht so bei Luc Bondy. Wie immer das "Urteil" des Vaters über ihn gelautet haben mochte, er wäre demütig genug, ihm recht zu geben - wie Kafka am Ende seines Briefes an den Vater- und gewitzt genug, sich im Stillen dagegen zu behaupten. Jedenfalls besaß Luc mit 11 Jahren die Geistesgegenwart und den gesunden Instinkt, sich einzugestehen:

    " Jetzt ist die Zeit gekommen zu leben - fern von denen, die mich von Anfang an zu kennen und zu beurteilen glaubten."

    Und damit beginnt eine andere Geschichte, die längste des Bandes. Ein kleiner Entwicklungs- und Bildungsroman von 50 Seiten. Eines morgens schreckt das Kind die Eltern aus dem Schlaf mit dieser mannhaften Ansprache:

    " Ich muß fort von euch. Ich langweile mich von morgens bis abends ..."

    So zieht der "verlorene Sohn" im Märchen in die weite Welt hinaus. In Bondys Fall war die weite Welt vorerst ein von Quäkern jüfferlich geführtes Internat in den Pyrenäen, wo er neun Jahre verbrachte. Und gar nicht unglücklich. Er hat sich in dieser "kleinen totalitären Republik" sogar wohl gefühlt als fröhlicher Opportunist in der Rolle eines Musterschülers, der sich mit den Erziehern gut stellt. Jedem Neuankömmling sprang er wie ein junger Hund entgegen mit einem Willkommensgeschenk. Hier in Perthuis stand er wie der Vater zuhause in Paris gebannt vor den Regalen der kleinen Bibliothek, las viel und entdeckte seine Lust am Theater.

    Im Internat begegnete Bondy auch - wie jeder etwas feiner gesponnene Kopf früher oder später - seinem ersten Philister. Germain hieß er, ein dunkler, wortkarger Bursche, der an allem zweifelte und die "Schwätzer" verachtete. Bei Luc stieß er sich an dem Wort "paradox".

    "Wieso sprichst du ein Wort aus, dessen Bedeutung du gar nicht kennst?" - "Eben darum... weil ich die Bedeutung nicht kenne und mich das Wort anzieht."... "Gib mir ein Beispiel...!"- "Der Winter vergeht paradox.." Germain führte eine Hand an die Stirn und zeigte mir den Vogel. Und so wurde er einer meiner ersten Feinde. Jedesmal wenn wir uns begegneten, flüsterte er mir voller Hohn zu: "Monsieur Paradox!"

    Und, war er das etwa nicht, ein angehender Monsieur Paradox? ein heiterer Melancolicus, der sich in ständigem Rollenwechsel, in ständiger Seelenmetamorphose und Selbstaufhebung zu behaupten versucht. Einer der sein Gesicht im Spiegel fürchtet, weil es alles preisgibt, und der doch auf das Instrument dieses durchlässigen Ichs angewiesen ist als produktiver Künstler. Ein post-absurder Illusionist, der sich selbst zu erfinden hofft und doch nicht Herr im Hause ist. Beherrscht, vexiert, irregeführt von Dibbuks, "sündigen Seelen" der Ahnen, der Toten oder Lebenden. Plagegeister, die einen in die immergleichen Charakterfallen tappen lassen. Die machen, dass man das Richtige im richtigen Moment nicht tut, dass man im entscheidenden Augenblick davonrennt, dass einem die Glieder nicht gehorchen: das Messer statt ins Brot, in den Daumen fährt, das falsche Wort im Streit aus dem Mund. Die einen Dinge und Menschen verlieren lassen, die man als Schutzkordon um sich aufgebaut hat. Die nicht aufhören, einen zu erschrecken wie der Tod, dem der Autor schon mehrmals mit schweren Krankheiten auf der Schüppe gesessen hat.

    Von solchen Dingen erzählt Bondy, quasi improvisando in diesen kleinen Geschichten. Von verwünschten Augenblicken, lange entzweiten Freundschaften, bis sich wieder das erlösende Wort einstellt. Von Liebesscharmützeln zwischen ihm und ihr, die noch nach Jahrzehnten der Trennung beim Wiedersehen ihren giftigen Glanz entfalten. Vom "Morgen eines Regisseurs" und so genannten "Lebenskünstlers", dem der Bissen Brot bei solcher Anrede -

    " Ach, du bist halt ein Lebenskünstler "

    - im Halse stecken bleibt. Vom Herbst eines Choreographen, der als Chef einer Compagnie das Sagen hat, als ihm längst nichts mehr einfällt, und der sich nach Hohn und Spott sehnt,

    " um sich mit dem Bild, das er von sich hat, in Übereinstimmung zu bringen."

    Bondy inszeniert alle diese Traumspiele des vorbeifliehenden Lebens leicht, leise, intim, nahe am Ohr des Lesers, munter-elegisch, aber niemals klagend oder anklagend. Er sucht nicht nach Gründen, nach Schuldigen. Das Psychologisieren überlässt er den Ahnungslosen. Er schwadroniert nicht, verkündet nichts, hält sich nie im Allgemeinen und Sentenziösen auf. Wie die Naturschützer nach einer Ölpest die verklumpten Flügel der Seevögel liebevoll vom Schmierfilm befreien, so versucht er das ursprüngliche Empfinden des Lesers vom Pech des Informiertseins, des Fakten- und Meinungsschrotts freizulegen durch schmucklos hellsichtiges Erzählen, das seinen Doppel- und Hintersinn mit sich führt wie alles wirklich Gesehene. Bondy ist nicht geistreich, er ist im Geisterreich. Und da fallen alle Hüllen. Da hilft nur eins: sich gut stellen und unbekümmert fröhlich sein wie die "kontinuierlichen Jünglingsnaturen" bei Robert Walser, die erkannt haben:

    " Das Leben will etwas anderes von uns als Weisheiten, es will, dass wir ihm huldigen, fröhlich mit ihm übereinstimmen, es will, dass wir's lieben."


    Luc Bondy:
    "Meine Dibbuks. Erinnerungen und verbesserte Träume"
    (Zsolnay Verlag)