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Smith: Abzocken hat nichts mit dem freien Markt zu tun

Greg Smith hat in seinem Buch "Die Unersättlichen" mit seinem ehemaligen Arbeitgeber der Investmentbank Goldman Sachs abgerechnet. Er sieht unmoralische Zustände, die gefährlich für die Gesellschaft sind, fordert mehr Transparenz und gesetzliche Verbote für ethisch anstößige Praktiken.

Das Gespräch führte Christoph Heinemann | 02.11.2012
    Heinemann: Viel Lärm um nichts ist es für die einen, eine Veröffentlichung, die überhaupt nichts Neues enthält. Andere lesen das Buch als längst überfälligen Einblick in ein Reich des Bösen. Heute erscheint im deutschen Buchhandel Greg Smith’s Abrechnung mit seinem ehemaligen Arbeitgeber. Zwölf Jahre lang arbeitete Smith bei dem Investment- und Wertpapierhandelsunternehmen Goldman Sachs. Smith – er ist 33 Jahre jung, hat den Job an den Nagel gehängt, geradezu öffentlich gekündigt mit einem Artikel in der "New York Times", in dem er die Werte von Goldman Sachs anklagte. Nun auch in seinem Buch mit dem Titel "Die Unersättlichen", Rowohlt erschienen. Die einzige akzeptierte Sättigungsbeilage ist im Finanzdistrikt der Profit. Im Nachwort erklärt der Wutbanker, warum die Wall Street immer gewinnt.

    "Die Zauberformel lautet: asymmetrische Information. Die Bedingungen sind nämlich nicht für alle Akteure gleich. Eine Bank weiß genau, was jeder Kunde auf dem Markt tut. Sie hat also einen Informationsvorsprung. Wenn Ihnen im Casino die Bank immer in die Karten schauen oder gar festlegen dürfte, welche Karten Sie bekommen, wie könnte die Bank da je verlieren?"

    Heinemann: Goldman Sachs hat die Vorwürfe des ehemaligen Mitarbeiters zurückgewiesen. – Wir haben Greg Smith vor dieser Sendung erreicht. Ich habe ihn zunächst gefragt, warum er dieses Buch geschrieben hat.

    Greg Smith: Ich habe das Buch nicht für Leute geschrieben, die in der Wall Street arbeiten, sondern für diejenigen, die dies nicht tun. Damit sie tatsächlich verstehen, wie in der Wall Street Geld verdient wird. Ich möchte den Vorhang heben, denn die Wall Street und Goldman Sachs stecken voller Geheimnisse. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass vieles von dem, was dort stattfindet, heute legal, aber sehr unmoralisch ist. Ich setze mich für mehr Transparenz ein und dafür, dass die ethisch anstößigen Dinge gesetzlich verboten werden.

    Heinemann: Sie waren Teil dieses Systems. Wie kam es zum Umdenken?

    Smith: Ich war absolut Teil des Systems. Ich habe zwölf Jahre lang für Goldman Sachs gearbeitet. Goldman hat öffentlich immer wieder gesagt: die Interessen der Kunden stehen an oberster Stelle. Aber die Praktiken und das Verhalten in meiner Umgebung hatten sich so sehr von meinen Werten entfernt, dass es Zeit war zu gehen. Und ich dachte, ich könnte vielleicht einen Dienst leisten und von einem moralischen Standpunkt aus das System verbessern.

    Heinemann: Sie beschreiben das unethische Verhalten. Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie harmlose Kunden übervorteilt wurden?

    Smith: Das Geheimnis, das die Wall Street der Öffentlichkeit gern vorenthalten möchte, lautet: viele der Kunden, mit denen richtig Geld verdient wird, sind solche, welche die Interessen ganz normaler Bürger vertreten: der Rentenfonds für Lehrer, Pensions- oder Anlagefonds von Polizisten oder Feuerwehrleuten. Es ist traurig, aber die schnellste Art, in der Wall Street Geld zu verdienen, besteht darin, einen solchen Fonds-Investor mit viele Millionen Dollar an Vermögenswerten zu finden und ihm ein sehr komplexes Finanzprodukt zu verkaufen. Der Kunde merkt gar nicht, dass er der Bank erst einmal fünf Millionen Dollar zahlen muss, weil das Produkt nicht zu durchschauen ist. Die Chefs der Wall Street-Investmenthäuser wollen, dass die Leute glauben, alle Investoren seien gleich und gleichermaßen erfahren. In Wahrheit gilt das nur für Hedgefonds und Banken. Viele Manager von Pensionsfonds hingegen verfügen nicht über das nötige Wissen, um zu merken, dass sie abgezockt werden.

    Heinemann: Wann entstand in der Firma das, was Sie eine vergiftete Kultur des Umgangs mit den Kunden nennen?

    Smith: In der Zeit zwischen 2002 und 2007 rechneten sich Goldman Sachs und andere Wall-Street-Banken aus, wie Sie fünfmal so viel Geld in ihrem Handel verdienen könnten. Vieles hatte mit der umfangreichen Deregulierung in der ersten Hälfte des Jahrzehnts zu tun. Ab 2007 ging es im Handel nur noch darum, wie die Bank Geld machen konnte.

    Heinemann: Hat einer Ihrer Vorgesetzten Sie jemals aufgefordert, Kunden abzuzocken?

    Smith: Das ergab sich mit der Zeit. Natürlich haben sie nicht gesagt, Du musste Deine Kunden abzocken. Im Buch habe ich die Geschichte aus meiner ersten Woche in London erzählt: ich habe mit einem 24 oder 25 Jahre alten Kollegen gesprochen. Er gab damit an, dass er – wie er sich ausdrückte - einem trotteligen Kunden zu viel berechnet hatte, weil der keine Vergleichsangebote anderer Banken eingeholt hatte. Nun könnte man meinen, es handelte sich bei dem Jungen um ein schwarzes Schaf. Aber sein Boss saß neben ihm und nickte das lächelnd ab. Abzocken, indem man dem Kunden zu viel abknöpft - für mich hat es nichts mehr mit freiem Markt zu tun, wenn das Geschäft einer Bank darauf beruht, Kunden zu betrügen.

    Heinemann: Gelten Ihre Erfahrungen von Goldman Sachs für die gesamte Finanzdienstleistungsbranche?

    Smith: Absolut. Ich habe das Buch über Goldman Sachs geschrieben, weil ich dort gearbeitet habe. Mein Buch ist als Nachdenken über die Praktiken dieser Branche angelegt.

    Heinemann: Würden Sie sagen, Gordon Gecko aus dem Film "Wall Street" lebt?

    Smith: Absolut. Das System muss sich im eigenen Interesse der Wall Street ändern. Eine Organisation, die seit 140 Jahren besteht, muss die Kunden pflegen. Wenn man seinen Ruf Monat für Monat ruiniert, wird man nicht lange durchhalten. Leider gibt es diese Mentalität, "nimm das Geld und renne weg" und schlage so viele Boni aus dem Unternehmen, wie du kannst, weil keiner weiß, wie lange es gut gehen wird. Die Wall Street ist so nicht zukunftsfähig. Und für die Gesellschaft ist diese Geisteshaltung sehr gefährlich: Wetten so viel wie möglich, weil das System jederzeit zum Ende kommen könnte.

    Heinemann: Ehemalige Kollegen haben über Sie gesagt, Ihre Unzufriedenheit bezöge sich nicht auf die Werte der Firma, sondern auf Ihr Gehalt …

    Smith: Leider versucht Goldman Sachs, mich charakterlich fertigzumachen, nach dem Grundsatz: der Überbringer der Nachricht wird umgelegt. Meine Karriere ist sehr gut verlaufen: von den 75 Leuten, mit denen ich angefangen haben, gehörte ich zu den sieben, die übrig geblieben sind. Die Firma hat mich nach Europa geschickt, um ein neues Geschäft zu beginnen. Goldman Sachs hat sich leider nie zu den wirklichen Themen geäußert: zum Abzocken der Kunden, dazu, dass gegen die Interessen der Kunden gewettet wird, oder dass ihnen hoch komplexe Produkte verkauft werden. Anstatt über mich herzufallen, sollte Goldman Sachs diese Dinge aufgreifen, die ich mir ja nicht ausgedacht habe. Es gibt auch Belege: ein Mitglied des Goldman-Sachs-Vorstands ist in der vergangenen Woche wegen Insider-Handels ins Gefängnis gegangen. Wenn es mir darum gegangen wäre, weiterzukommen, dann wäre ich bei Goldman Sachs geblieben, oder wäre still ausgeschieden und zu J.P Morgan oder Morgan Stanley gewechselt. Die einzige Chance für einen Wechsel besteht darin, dass Insider das System verbessern, anstatt dass von außen darüber spekuliert wird, was da eigentlich vor sich geht. Hoffentlich bin ich eine Stimme für den Wandel.

    Heinemann: Was haben Sie langfristig vor?

    Smith: Langfristig weiß ich noch nicht. Kurz- und mittelfristig kommen wir an einen kritischen Punkt: wenn wir das System nicht verändern, geraten wir möglicherweise in einen Kreislauf mit diesen Spekulationsblasen, die alle fünf Jahre platzen. Ich möchte gern Mitglied einer Gruppe von Insidern sein, die laut rufen: hier herrschen systemische Zustände, die unmoralisch sind und die Gesellschaft in Gefahr bringen. Lasst uns das System jetzt in Ordnung bringen.

    Heinemann: Greg Smith – sein Buch "Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab" erscheint heute in Deutschland.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.