Freitag, 29. März 2024

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"So sind die Nazis auch groß geworden"

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse wendet sich gegen die Erklärung der NPD-Wahlerfolge als Protest gegen die etablierten Parteien. "Ich glaube, das ist eine Veredelung, eine Verharmlosung von politisch fatalem Verhalten. Nicht etwa die demokratischen Parteien sind schuld daran, sondern Verantwortung haben die braunen Wähler selber", sagte der SPD-Politiker.

Moderation: Friedbert Meurer | 18.09.2006
    Friedbert Meurer: Die SPD wird in beiden Ländern, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, weiter den Ministerpräsidenten stellen. Das ist eines der Ergebnisse von den gestrigen beiden Landtagswahlen. Aber so richtig zufrieden sein und so richtig feiern lassen konnte sich gestern nur Klaus Wowereit in Berlin.

    Wowereit: "Ohne die SPD kommt keine Regierung zu Stande, und das ist auch gut so!"

    Etwas anders der Wahlausgang in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hat Harald Ringstorff (SPD) nur ganz knapp seinen Herausforderer Jürgen Seidel (CDU) in die Schranken weisen können. Und Ringstorff muss bedauern,

    "dass wir leider nicht verhindern konnten den Einzug der Neonazis in den Landtag. Wir müssen uns mit den braunen Brüdern auf demokratische Art und Weise auseinandersetzen und müssen der Bevölkerung klar machen, dass sie keine Alternativen für Mecklenburg-Vorpommern bieten können. Das wird unsere wichtigste Aufgabe in der nächsten Legislaturperiode sein."

    Harald Ringstorff über den Wahlerfolg der NPD.

    In Berlin begrüße ich Wolfgang Thierse, stellvertretender Bundestagspräsident und Mitglied im SPD-Vorstand. Guten Morgen. Herr Thierse!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Man hat damit gerechnet, dass die NPD den Sprung in den Landtag schafft. Nach Sachsen ist es jetzt der zweite in Ostdeutschland. Wie bedenklich, wie dramatisch ist das?

    Thierse: Es ist natürlich, obwohl die Prognosen das ja vorhergesagt hatten, eine unangenehme Tatsache, dass im dritten Landtag in Ostdeutschland jetzt gegenwärtig eine rechtsextremistische, eine braune Partei sitzt, nachdem es vorher ja schon in Sachsen-Anhalt zweimal der Fall war, dass dort die DVU Mitglied war, und nach zwei Legislaturperioden ist sie sang- und klanglos verschwunden, weil - und daran muss man die Menschen immer wieder erinnern - diese rechtsextremen Parteien am Schluss vollkommen zerstritten sind, sich mit sich selber befassen, sich ums Geld balgen und niemals irgendeinen konstruktiven Beitrag zur Lösung der wirklich großen Probleme bringen können. Aber es ist eine Tatsache, und da gibt es nichts zu beschönigen.

    Meurer: Warum wird gerade im Osten das Tabu verletzt, die NPD zu wählen?

    Thierse: Da gibt es sicher verschiedene Gründe. Die Demokratieerfahrung in Ostdeutschland ist erstens jünger, zweitens widersprüchlicher. Das Ja zur Demokratie mit ihren Mühseligkeiten muss gesagt werden in einer Situation, wo die wirtschaftlichen und sozialen Probleme immer noch riesig sind, wo die Angst vor Arbeitslosigkeit oder die Erfahrung von Arbeitslosigkeit groß ist. Aber ich habe auch zugleich etwas dagegen, dass man die Rechtswähler sozusagen immer mit sozialen Gründen entschuldigt. Man muss wissen, dass die NPD, die rechtsextremen Parteien sich Ostdeutschland geradezu generalstabsmäßig ausgesucht haben, dort ihre Aktivisten, ihre Ideologen hingeschickt haben in der wohl berechtigten Erwartung, dass da in Ostdeutschland eine tief verunsicherte Bevölkerung ansprechbar ist für diese einfachen Losungen. Je unsicherer Menschen sind, umso größer ist ihr Bedürfnis nach einfachen Antworten. Das befriedigen die rechtsextremen Parteien eben mit den Slogans "Die Ausländer sind Schuld, sie müssen raus", "Die Arbeit den Deutschen zuerst" und so weiter und so fort.

    Meurer: Wie schlimm ist die Ausländerfeindlichkeit in den neuen Ländern?

    Thierse: Das Verrückte ist ja, dass sie da größer ist, wo es besonders wenige Ausländer gibt. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es zwei bis drei Prozent Bürger ausländischer Herkunft. Wir müssen uns erinnern, dass in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt ja dasselbe der Fall ist. Also es kann ja gar nicht die Erfahrung der Schwierigkeiten im Umgang mit Ausländern sein, die dazu führt, sondern es ist eine einfache Antwort auf eine schwierige Situation, in der Menschen sich befinden. Wir kennen das aus der deutschen Geschichte. So sind die Nazis auch groß geworden. Deswegen habe ich etwas dagegen und das ärgert mich furchtbar, wenn man die Rechtswähler, die Rechtsextremistenwähler veredelt, indem man sie zu Protestwählern macht. Ich glaube, das ist eine Veredelung, eine Verharmlosung von politisch fatalem Verhalten. Nicht etwa die demokratischen Parteien sind schuld daran, sondern Verantwortung haben die braunen Wähler selber.

    Meurer: Sie haben vermutlich auch die Zahlen von letzter Woche gelesen, Herr Thierse. Nur noch 38 Prozent laut Datenreport 2006 Statistisches Bundesamt, nur noch 38 Prozent in den neuen Ländern sagen, die Demokratie ist die beste Staatsform. Was wollen denn die anderen 62 Prozent?

    Thierse: Das ist ja genau das, was ich meine: Man muss wissen, mit der Erfahrung der DDR im Hinterkopf, mit der Autorität und Fixierung darauf, was Staat und Politik alles leisten müssen, riesige Erwartungen, die aus DDR-Zeiten kommen, die natürlich auch immer noch gepflegt worden sind mit dem Blick auf den Westen, diese riesigen Erwartungen an Staat und Politik, sie werden regelmäßig enttäuscht. Politik kann keine Wunder vollbringen. Die Probleme der Arbeitslosigkeit, der sozialen Ungerechtigkeit, die sind nur mühselig Schritt für Schritt zu lösen. Das erzeugt eine heftige Ungeduld, Unzufriedenheit mit der Demokratie, eine Ungeduld, die auch medial immerfort erstärkt wird. Man versteht nicht, worüber die debattieren in der Politik, egal ob in Berlin, Schwerin oder sonst wo. All das erzeugt eine Fremdheit gegenüber der Demokratie bis hin zur Verachtung des politischen Personals, Und wir müssen schon Sorge haben, dass da sich etwas festsetzt, wenn man nämlich auch noch sieht, dass die Wähler der NPD in Mecklenburg-Vorpommern vor allem junge Leute gewesen sind. Dann merkt man, welche riesige Aufgabe an politischer Bildung wir haben, welche riesige Aufgabe wir haben bei Sozialarbeit, bei Kulturarbeit gerade mit jungen Leuten, auch bei Demokratiearbeit. Und ich appelliere leidenschaftlich an Frau Ministerin von der Leyen, endlich, endlich all die Mittel auch freizugeben, die wir brauchen, damit diese Arbeit, die in den vergangenen Jahren begonnen worden ist, der mobilen Einsatzteams, der Aktivisten vor Ort, die gegen rechst die Arbeit unterstützen, damit das fortgesetzt werden kann.

    Meurer: Das wird natürlich auch eine Aufgabe für die Landesregierung sein. Lassen Sie uns gerade noch über Ihre Partei, die SPD reden, Herr Thierse. War das gestern ein Misstrauensvotum oder fast ein Misstrauensvotum gegen Rot-Rot?

    Thierse: Es ist nicht ganz so zu sehen. Jedenfalls hat die PDS in Berlin drastisch verloren. Das ist sichtbar. Die SPD hat ja hinzugewonnen. In Mecklenburg-Vorpommern war die Situation noch einmal anders. Die Wahl vor fünf Jahren war wohl eine Ausnahme für die SPD. Also ich glaube nicht, dass es eine generelle Absage war, aber die Ernüchterung darüber, dass auch Rot-Rot nicht das große Alternativmodell ist, das ist sichtbar geworden. Das haben die Wähler uns mitgeteilt.

    Meurer: Wäre Ihnen in Berlin Rot-Grün lieber jetzt?

    Thierse: Ach wissen Sie, so wie ich die Stimmung in meiner eigenen Partei kenne, schlägt das Herz deutlich für Rot-Grün. Die Frage ist . und das wird Gegenstand der Koalitionsverhandlungen sein müssen -, wie verlässlich die Grünen als Koalitionspartner sein können, denn das ist ja das Vorurteil. Mit der PDS regiert sich es irgendwie leichter, weil sie disziplinierter ist. Mit den Grünen hat man mehr den alltäglichen Ärger, aber das kann man ja überwinden, indem man ganz klare, präzise Koalitionsvereinbarungen trifft.

    Meurer: Das kann ich schon fast als Empfehlung Ihrerseits verstanden wissen für Rot-Grün?

    Thierse: Ja, wie Sie wollen.

    Meurer: Gut, dann nehmen wir das so. Herr Thierse, danke für das Gespräch. Das war der stellvertretende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei uns im Deutschlandfunk. Er ist auch Mitglied im SPD-Vorstand. Besten Dank Herr Thierse und auf Wiederhören.

    Thierse: Auf Wiederhören.