Freitag, 19. April 2024

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Sokolov spielt Beethoven, Brahms und mehr
"Alles um sich herum vergessend"

Die neue CD von Grigory Sokolov, der Aufnahmen lange ablehnte, führt durch ein Programm wie bei seinen berühmten Konzerten: mit vielen Zugaben, penibler Klangtüftelei und undogmatischem Umgang mit dem Notentext. Dabei bewegt er sich in den engen Grenzen des Standardrepertoires.

Am Mikrofon: Mascha Drost | 26.07.2020
    Ein Mann in dunklem Frack und weißen Haaren sitzt am Klavier und spielt, sein Kopf leicht geneigt.
    Ein penibler Klangtüftler: Grigory Sokolov (picture alliance / dpa)
    Grigory Sokolov wird wahlweise als Klavierguru, Säulenheiliger, lebende Legende oder schlicht und einfach als der größte Pianist unserer Zeit beschrieben wird. Seine Konzerte gleichen kultischen Veranstaltungen, und lange Zeit konnte man ihn überhaupt nur live erleben – Aufnahmestudios lehnt er bis heute kategorisch ab.
    Seit ein paar Jahren jedoch gestattet er Konzertmitschnitte, und so ist kürzlich eine Doppel-CD mit DVD und Werken von Beethoven, Brahms und anderen erschienen. Viel und oft gespieltes Repertoire – aber von niemandem so wie von Sokolov.
    Musik: Brahms - Nr. 3 Intermezzo aus: Klavierstücke op. 119
    Das 3-D-Klangbild
    Grazioso e giocoso – anmutig und verspielt, so gab sich Johannes Brahms selten; aber vielleicht lag es daran, dass er dieses Intermezzo aus den späten Klavierstücken op. 119 an einem besonders sonnigen Tag in Bad Ischl schrieb, dem Rückzugsort des alternden Komponisten. In mehreren Sommern entstanden dort seine letzten Klavier- und Kammermusikwerke; vor ausgewählten Freunden setzte sich Brahms hin und wieder auch selbst ans Klavier, und spielte dabei "als würde er improvisieren, mit Herz und Seele, manchmal vor sich hin summend, alles um sich herum vergessend."
    Haargenau passt diese Beschreibung auch auf das Spiel von Grigory Sokolov – die Musik fließt hier so frei und selbstverständlich, als entstünde sie aus dem Moment heraus. Improvisiert ja, aber nicht beliebig – denn die Freiheiten, die sich Sokolov nimmt, kann er, und viele meinen: Nur er, sich leisten. Denn jede Extravaganz fügt sich organisch in das jeweilige Werk hinein, seine Herangehensweise ist völlig uneitel und nur dem Komponisten verpflichtet.
    Virtuosität geht bei ihm weit über bloße technische Fingerfertigkeit hinaus. Virtuosität manifestiert sich bei ihm im Klang, man könnte sagen: in einer Art 3-D-Klangbild. Man blickt durch sein Spiel auf das Werk als Ganzes, erkennt seine Strukturen bis auf den Grund. Und das Besondere dabei – die Musik wird dadurch nicht etwa entzaubert, sondern erscheint in ihrer Vielstimmigkeit umso reicher.
    Musik: Brahms - Nr. 2 Intermezzo aus: Klavierstücke op. 118
    Die Legende des Klangtüftlers
    Ein Programm pro Saison, dasselbe in 70 bis 80 Konzertabenden, gespielt wird nur in Europa, das sind die Bedingungen. Sokolov tritt dabei nicht nur in den großen Sälen der Metropolen auf, sondern auch an kleinen Orten wie dem italienischen Rabbi. Dort entstand im letzten Jahr auch diese Aufnahme von Brahms Klavierstücken op. 118 und 119 – Brahms und Beethoven bildeten das Programm der Saison 2019.
    Über Sokolov gibt es die Legende, er merke sich jeden Flügel plus Seriennummer, auf dem er je gespielt habe. Sicher ist, dass er ein penibler Klangtüftler ist, und eine enorme Herausforderung für jeden Klavierstimmer – dabei geht es ihm nicht um den gepushten Edel-Klang neuer Instrumente, er wählt lieber Flügel mit Charakter. Bei Beethovens Bagatellen etwa meint man sogar ein wenig das näselnde Rappeln eines Hammerflügels zu hören.
    Musik: Beethoven - Bagatellen op. 119 Nr. 2
    Der König der Zugaben
    Wie unter einem Brennglas konzentriert spielt Sokolov hier Beethovens Bagatellen - eine Aufnahme, die in der Historischen Stadthalle in Wuppertal entstanden ist. Das akustische Gegenstück dazu ist der Mitschnitt der 3. Klaviersonate Beethovens. Die Akustik des Auditoriums in Saragossa ist wärmer und mit hörbar mehr Nachhall, das Instrument klanglich runder – geblieben aber ist Sokolovs undogmatischer Umgang mit dem Notentext. Puristen mögen an einigen Stellen die Stirn runzeln und mit dem Urtext herumfuchteln, etwa bei deutlich zu hörenden aber nicht notierten Akzenten, – aber was andere von ihm denken könnten, hat Sokolov zum Glück noch nie interessiert.
    Musik: Beethoven - Sonate op. 2/3: 1. Satz
    Dass Grigory Sokolov heute als einer der bedeutendsten Pianisten unserer Zeit gefeiert wird, dass er mühelos die größten Säle füllt, mit einem Programm das zwar breit gefächert ist, aber sich in engen Grenzen des Standardrepertoires bewegt – das alles scheint in heutigen Zeiten wie ein Wunder. Einmal mehr, weil er sich wie kein anderer dem Klassik-Geschäft konsequent verweigert – fast keine Interviews, Aufnahmen seit ein paar Jahren erst und nur live, und wenn er die Bühne betritt, eilig und in sich gekehrt, gibt es ein kurzes Nicken ins Publikum und dann ab ans Klavier.
    Dass in diesem introvertierten, linkisch auftretenden Menschen eine Jahrhundertbegabung schlummert, wollte auch das Publikum beim Tschaikowski-Wettbewerb 1966 nicht wahrhaben. Es protestierte energisch, als Sokolov der erste Preis zugesprochen wurde. Emil Gilels aber setzte sich gegen Widerstand auch in der Jury durch – und sollte rechtbehalten. Das Publikum heute will Sokolov gar nicht von der Bühne lassen – und so hat sich eine Art "Konzert im Konzert" eingebürgert. Nach dem regulären Programm spielt Sokolov noch sechs bis sieben Zugaben, und eine Miniatur, die bei fast jedem seiner Konzerte zu hören ist, stammt von Jean-Philipp Rameau.
    Musik: Rameau - "Les Sauvages"
    Immer 24 Stunden lang am Klavier
    Es ist mittlerweile eine gut geölte Choreographie – Grigory Sokolov spielt, das Publikum jubelt, er geht von der Bühne und kommt – ohne sich groß bitten zu lassen - für eine Zugabe nach der anderen heraus. Dabei setzt er auf Bewährtes, von diesem Rameau-Stück "Les Sauvages", gibt es mittlerweile sogar mehrere Aufnahmen – es gehört seit Jahren zum festen Kanon seiner Zugaben. Und obwohl Sokolov es unzählige Male gespielt haben muss, ist vom Zauber, von der eleganten Leichtigkeit und Prägnanz dieses 2minüters nichts verloren gegangen. Routine gibt es für einen wie Sokolov nicht; auf die Frage, wieviel Zeit er denn am Klavier verbringe, antwortete er: 24 Stunden. Entscheidend sei nicht das Üben, sondern ob es im Kopf klingt.
    Und welchem Komponisten er sich auf der vorliegenden Aufnahme auch widmet – es klingt. Einzigartig. Als dürfte es nie anders klingen. Man gerät in eine Art Trance, egal ob bei Beethoven, Brahms, Rachmaninov oder Chopin. Zwei seiner Nocturnes gehören zum Schönsten dieser neuen Aufnahme: Wie Sokolov jeden Ton, jede Melodie einspinnt in einen Kokon aus Empfindung und zartestem Ausdruck ist zauberhaft und hat nichts zu tun mit jener Rührseligkeit, mit der Chopins Musik so oft übergossen wird. Hier trieft nichts, hier ist alles so rein und nobel gespielt, wie man es in dieser Vollendung selten hört.
    Musik: Chopin - Nocturne Nr. 1
    Ein zutiefst persönlicher Zugang und der kompromisslose Fokus auf das Wesentliche, die Musik – das zeichnet die Interpretationen von Grigory Sokolov aus.
    Beethoven - Brahms - Mozart

    Grigory Sokolov, Klavier
    Label: Deutsche Grammophon