Dienstag, 16. April 2024

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Solidarität in der Krise
Wenn das Miteinander unter Stress gerät

Hamsterkäufe aus Furcht vor dem Corona-Virus, die Ablehnung der Aufnahme von geflüchteten Menschen: Das Solidaritätsgefühl in unserer Gesellschaft ist selbst unter Stress geraten, sagt der Soziologe Sighard Neckel. Um für gerechte Lösungen zu sorgen, müssten Regeln angepasst werden.

Sighard Neckel im Gespräch mit Anja Reinhardt | 02.03.2020
Ein Plakat vor der Berliner Gethsemane-Kirche wirbt für Solidarität mit Flüchtlingen
Miteinander als Prinzip: Trägt die Solidarität nicht mehr, wenn Herausforderungen wachsen? (imago / Kai Horstmann)
Solidarität bedeute Zusammengehörigkeit. Der Begriff war unter anderem für die Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts wichtig, die sich damals gegen die wenigen Kapitaleigner zusammenschlossen. Sie belegten, dass es durchaus möglich ist, sich kollektiv gegen ungerechte Verhältnisse zu wehren. Solidarität gehört zum Prinzip von Demokratien, in denen gesellschaftliche Verantwortung geteilt wird. Wem es gut geht, der unterstützt denjenigen, dem es schlechter geht.
Nach Ansicht des Soziologen Sighard Neckel ist das Solidaritätsgefühl nun aber sehr unter Stress geraten. Ursache sei die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft, in der die Menschen darauf orientiert seien, "die eigenen Interessen im Blick zu haben und sich möglichst durchsetzungsstark gegenüber anderen zu behaupten." Diese Entwicklung habe, so Neckel, Folgen für die Solidaritätsbereitschaft.
Nur die eigene Gruppe
In durch Migration gekennzeichneten Gesellschaften setze sich die politische Rechte auf der ganzen Welt für eine "alte, archaische Form der Solidarität" ein, so der Wissenschaftler in "Kultur heute" - und zwar durch die Beschränkung der Solidarität auf die eigene Gruppe. Ihr gegenüber sei man so hilfsbereit, wie man gegenüber allen anderen, die außerhalb der eigenen Gruppe stehen, feindlich gesinnt sei.
Dabei gehört es nach Ansicht des Soziologen zum "normativen Inventar einer modernen Gesellschaft", im Auge zu behalten, was man sich gegenseitig an Hilfe und Unterstützung schuldig ist. Nach Beobachtung von Neckel gerät diese Regel unter Stress, wenn eine Voraussetzung der gegenseitigen Solidaritätsbereitschaft problematisch erscheint. Wer nämlich hilft, Nachteile in Kauf nimmt und damit Solidarität übt, der wolle selbst die Solidarität der anderen erfahren, wenn er in eine ähnliche Situation geraten sollte. Ist das nicht mehr gewährleistet, schwindet die Bereitschaft zum Miteinander.
Verteilungsregeln einführen
Durch die aktuellen Hamsterkäufe aus Furcht vor dem Corona-Virus sieht Soziologe Neckel das Solidaritätsgefühl in der Gesellschaft noch nicht unterminiert:
"Es kann natürlich sein, dass Menschen denken, lieber gleich zwei bis drei Mal 'Sterilium' kaufen, und es ihnen egal ist, wenn andere nichts davon bekommen."
In solchen Situationen plädiert Neckel für solidarische Verteilungsregeln für sehr begehrte Güter: Keiner dürfe so viel von einem knappen Gut bekommen, dass ein anderer leer ausgeht. Schließlich müssten gesellschaftliche Regeln den jeweiligen Situationen angepasst werden. Solidarität sei nicht als Charaktereigenschaft zu verstehen, sondern als Zustimmung zu diesen Regeln, die sich in der Wirklichkeit dann auch bewähren könnten. Wenn die Gesellschaft sich so verhält, sieht Neckel das Solidaritätsgefühl nicht in Gefahr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.