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Solidaritätszuschlag ohne Solidarität

Politik vereinnahmt den Begriff Solidarität vor allem als finanzielle Umverteilung. Das greift zu kurz: Aber auch so muss Solidarität in einer individualisierten Gesellschaft als Wert neu definiert werden, fordern Sozialwissenschaftler.

Von Peter Kolakowski | 08.07.2010
    Solidarität bezeichnet gemeinhin eine Haltung der Verbundenheit, des Zusammenhalts und gegenseitiger Unterstützung und Verpflichtungen zwischen Individuen oder Gruppen, die gemeinsam für bestimmte Werte und Ideen eintreten. Als wissenschaftliche Disziplin befasst sich gerade die Gruppen- und Organisationsdynamik intensiv mit dem Prinzip gesellschaftlicher Solidarität. Richtet die Gruppen- und Organisationsdynamik doch ihr Augenmerk besonders auf die Bildung gesellschaftlicher Werte, Normen und Regeln und deren Umsetzung im Interaktionsprozessen.
    Gemeinsinn, Empathie und das Eintreten Füreinander sind dabei im menschlichen Wesen zwar fest verankert, können und müssen aber auch erlernt werden, betont Professor Dr. Hella Gephart von der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik und Sozialpsychologin an der Fachhochschule Köln.

    "Solidarität ist zum Teil angeboren. Wir alle bringen ein Stück Einfühlung mit in andere Menschen. Das entwickelt sich im Laufe des Lebens und kann natürlich gefördert werden. Das ist durchaus erlernbar. Also man weiß, dass Kleinkinder in sehr kleinem Alter weinen, wenn andere Kleinkinder weinen. Das sind so die ersten Vorstufen von Mitgefühl und Solidarität. Und wenn die Bezugsperson, also die Eltern und später andere Bezugspersonen dafür sorgen, in der Schule, dass es als Regel, als Wert als Norm vermittelt wird und vor allen Dingen das auch vorgelebt wird, dann sind das die besten Voraussetzungen dafür, dass Kinder solidarisches Verhalten entwickeln."

    Gerade in letzter Zeit wird im Zuge sozialer Einengungen und Kürzungen der Solidaritätsgedanke wieder häufiger angemahnt. Allerdings bezieht sich Solidarität dabei nicht selten auf die Umverteilung finanzieller Lasten, beobachtet Ingrid Stahmer, ehemalige Bürgermeisterin und Sozialsenatorin in Berlin und heute unter anderem als Honorarprofessorin an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik tätig. Beispiel: der sogenannte Solidaritätszuschlag. Für Stahmer eine Art Zwangssolidarität, die ein wirkliches Gefühl von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit nicht entstehen ließ.

    "Der Solidaritätszuschlag wurde ja nicht etwa nur von den Westdeutschen bezahlt, sondern auch von den Ostdeutschen. Aber es ist eigentlich der ganzen Bevölkerung nie bewusst geworden, was das eigentlich sollte. Die Solidarität dadrin, in dieser zusätzlichen Steuer, die es ja eigentlich war, hat sich nicht vermittelt und deshalb hat es dazu tatsächlich Entsolidarisierung gegeben und die Leute im Westen haben gesagt: Was macht ihr da oben in Berlin mit eurer Wiedervereinigung?"

    Gerade in Zukunft wird es, so ergänzt die Psychologin Dr. Monika Stützle-Hebel, in der gruppendynamischen Arbeit deshalb nicht nur in kleinen Arbeitskreisen und sozialen Nischen, sondern im gesamtgesellschaftlichen Kontext darum gehen, durch kommunikative Prozesse Kohäsion und Integration zu fördern. Soziologen und Psychologen machen nämlich die Tendenz aus, dass der Begriff der Solidarität im öffentlichen Diskurs zunehmend instrumentalisiert wird, um egoistische Ziele und Klientelpolitik zu verfolgen. Auch Begriffe wie die Ich-AG weisen nach Ansicht von Psychologin Stützle-Hebel auf die fortschreitende Individualisierung und selektive Wahrnehmung eigener rein egoistischer Interessen hin, in der andere Menschen und andere Lebensverhältnisse ausgeblendet werden.

    "Also ich erkläre mir das dadurch, dass wir so eine starke Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft haben, in der es so stark drauf ankommt, ja vorne zu sein, dass wir bei uns selber auch unsere Schattenseiten, unsere Schwachheiten leugnen und damit können wir uns auch nicht identifizieren mit jemanden, also gedanklich identifizieren, mit jemanden, der diese Schwachheiten in seinem Leben stärker leben musste. Dann würde ich ja in den Augen des anderen meine eigene Schwachheit sehen."

    Bereits vor 36 Jahren hatte der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in seinem Buch "Lernziel Solidarität" auf die neuen Bedürfnisse und Leitbilder hingewiesen, die sich am Ende der Epoche der Expansion materieller, wirtschaftlicher und politischer Macht zu Wort melden. Wenn, so Richter, der expansionistische Drang nach außen nicht mehr weiterkommt, sei ein "Umschlag" nach innen eine automatische Konsequenz. Eine Einschätzung, die Sozialpsychologin Hella Gephart von der Fachhochschule Köln bestätigt. Unsolidarisches Verhalten, resümiert Gephart, hat dabei heute nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen und Bereiche durchdrungen. Die Schule, das Arbeitsleben oder auch die Lehre an den Universitäten.

    "Es gibt Tendenzen, da geht's darum, ob die neuen Studienstrukturen unter dem Begriff Bologna-Prozess, ob die dazu führen, dass Entsolidarisierungsprozesse in Gang setzen. Und das kann ich selbst bestätigen als Hochschullehrerin. Weil der Notendruck so stark ist und die Auslese vom Bachelor-Studiengang zum Master-Studiengang durch Noten so stark bestimmt wird, dass Teamarbeit und Gruppenarbeit von Studierenden abgelehnt wird mit der Begründung: Wir versauen uns sonst unsere Note."

    Vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ausgrenzungen bei gleichzeitig steigendem Konkurrenzdruck sei es also an der Zeit, eine breite öffentliche Diskussion über das mitunter antiquierte Wertemuster soldarischen Handeln in Gang zu setzen, fordert die Deutsche Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik. Das Bedürfnis, sich solidarisch zu verhalten, sei ungebrochen. Die Kultur des Mit- und Füreinanders werde aber heute überwiegend nur in kleinen gesellschaftlichen Nischen erlebt und praktiziert. Wie zum Beispiel im Rahmen bürgerschaftlicher Aktivitäten. Während dagegen das Engagement bei den Gewerkschaften oder in der Politik weiter abnimmt. Dr. Monika Stützle-Hebel:

    " Ich glaube, dass es wirklich darum geht, dass was da ist, das zu unterstützen. Tatsächlich auch in der Politik, dass sie stärker, die Gedanken, die dahinterstehen bei politischen Entscheidungen, die transparent zu kriegen. Es geht im Moment auch darum, die, die wir brauchen, damit den Schwächeren geholfen wird, die wieder auch ins Boot zu holen. Die fühlen sich, glaub' ich, ausgenützt und ziehen sich eher zurück. Und da hat die Politik ein Legitimationsproblem."

    Um Solidarität im Kleinen wie im Großen als soziales Handlungsmuster erfolgreich und nachhaltig als Prinzip zu etablieren, bedarf es einer "Lehr- und Lern-Plattform". Für Sozialpsychologen wäre dies zuerst die Familie. Aber auch andere soziale Gruppen wie die Belegschaft eines Unternehmens könnten den Gedanken der Solidarität stärken, ein Modell, dass sich in südasiatischen Gesellschaften längst etabliert hat. War Solidarität in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eher eine vorwiegend ethisch-moralische Kategorie, so gilt es jetzt, sie im 21. Jahrhundert pragmatischer zu verstehen und anzuwenden. Also gesund-egoistische Interessen für individuelles Handeln zu respektieren und als Teil des Zusammenlebens zu akzeptieren. Sozialpsychologin Hella Gephart:

    "Dass Solidarität in solchen Einheiten gilt, die gemeinsame Identität haben, zum Beispiel über Firmen, oder sonstige Zusammenschlüsse. Aber nicht generell als menschliche Solidarität gedacht wird. Was die empirische Forschung hergibt: Solidarität entsteht dann, wenn gemeinsame Interessen und Identitäten tangiert sind. Also innerhalb der In-Group, zu der ich gehöre, wird Solidarität ausgeübt und da fällt es leicht. Und trotzdem geht die Frage weiter: Gibt es grundlegende menschliche Werte, die die Menschheit miteinander verbindet und Solidarität schafft."