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Solitär der französischen Literatur

Julien Gracq ist einer jener großen Solitäre der französischen Literatur - die leider in Deutschland immer noch viel zu unbekannt sind. Abhilfe könnte da Gracqs jüngstes Buch "Gespräche" bieten, das sich gut zum Kennen lernen des Romanciers und Essayisten eignet: Der überaus anregende Band versammelt Gespräche mit Schriftstellern und Wissenschaftlern, die zwischen 1970 und 2001 geführt wurden. Die Übersetzung versah, in gewohnter Qualität, Dieter Hornig.

Von Krischan Schroth | 20.09.2007
    Da sich die Diskurse nicht zuletzt auch um biographische Aspekte drehen, lässt sich auf intime Weise Einblick in das Schaffen des 1910 geborenen Autors nehmen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei zunächst sein "eigentlicher" Beruf: Gracq war bis zu seiner Berentung Lehrer für Geschichte und Geographie an einem Pariser Gymnasium. In dieser Eigenschaft trug er auch den bürgerlichen Namen Louis Poirier. Seine Berufswahl, speziell die Geographie, verrät ein ausgeprägtes Interesse an der greifbaren Erscheinung. Doch noch vor dem Krieg gab es nicht einmal eine Lehramtsprüfung in diesem Fach. Julien Gracq erklärt seine Vorliebe für die Geographie, die sich bereits als Schüler bemerkbar machte, so:

    "Ich hatte einen guten Lehrer, und dann war da auch die Offenbarung der geologischen Karten. Ich habe immer Kryptogramme geliebt, Schlüssel, mit denen sich eine dunkle Botschaft entschlüsseln lässt. Die geologischen Karten wirkten auf mich wie eine Art magischer Schlüssel, der ermöglichte, die Formen des Geländes zu entziffern."

    Schon früh zeigte sich also bei Gracq eine "strukturalere Art und Weise des Sehens", die die Schichten eines Landstrichs aufzufächern suchte. Das setzte sich auch in seiner literarischen Tätigkeit fort. So konstatiert der Professor für Humangeographie Jean-Louis Tissier erstaunt, dass sich in Gracqs Romanen häufig ein bestimmter Relieftyp Frankreichs identifizieren läßt. Verständlich wird diese fast naturwissenschaftliche Vorgehensweise jedoch erst im Zusammenschluss mit Gracqs zweiter Passion, der Geschichte. Verzahnen sich doch beide - Geographie und Geschichte - für Gracq zur "Geschichtslandschaft". Die Hauptquelle seines poetischen Schaffens. Die Frage Tissiers nach dem Relieftyp wird daher von Gracq in größere Zusammenhänge eingebettet:

    "Der Ausdruck Geschichtslandschaft soll ausdrücken, dass es sich um eine Landschaft handelt, deren expressive Merkmale erst durch ein historisches Ereignis hervorgetreten sind. Fährt man durch die Vendée, so ist es sehr schwierig, die Landschaft zu sehen, ohne an diesen Aufstand zu denken, der sie geprägt hat. Genauso unmöglich ist es, an die Geschichte zu denken, ohne dabei an die Landschaft zu denken, durch die sie ermöglicht wurde."

    Der Autor, soviel macht schon der Doppelbegriff "Geschichtslandschaft" deutlich, ist kein Anhänger davon, die Wissensgebiete immer weiter aufzuspalten, wodurch der Sinn für das Ganze verloren geht. Stark gefördert oder zumindest bestätigt hat dieses allumfassende Weltgefühl ein für Gracq sehr prägender Autor: Jules Verne.

    Den Schriftsteller und Literaturkritiker Jean Carrière interessiert, ob es nicht vor allem Jules Vernes Naivität ist, die Gracq fasziniere, "und der die Zeit kaum etwas anhaben" könne:

    "Jules Verne war die Leseleidenschaft meiner ganzen Jugend, und ich habe mich nie davon gelöst. Vor allem hat man hier, wenn man sein Gesamtwerk nimmt, ein vollständiges Bild vom Antlitz der Erde!"

    Eine geschichtsphilosophische Entsprechung zu dem naiv "totalisierenden Werk" Jules Vernes entdeckte Gracq später in Oswald Spenglers universaler Kulturgeschichte "Der Untergang des Abendlandes". In der Musik fühlt sich Gracq von Wagner angezogen, von dessen "Gesamtkunst", die für "eine allgemeine Gefühlserschütterung" sorge.

    Gleichwohl ist, wer nun sogleich an eine romantische Weltflucht denkt, auf dem Holzweg. Gracqs Denken verfolgt keine Nivellierung oder Vermischung disparater Welten, wozu Gracqs Gesprächspartner Carrière neigt. Dieser fragt, ob es denn überhaupt eine Kluft zwischen Literatur und Leben gebe. Die sieht Gracq sehr wohl, aber er sieht auch Verbindungen, die sich aus einer höheren Perspektive ergeben, gleichsam aus der Draufsicht:

    "Ich stimme weitaus mehr mit der einheitlichen Konzeption überein, die, so scheint mir, Novalis vertritt: die Welt ist eins, alles ist in ihr; vom banalen Leben bis zu den Gipfeln der Kunst gibt es keinen Bruch, sondern eine magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der Aufmerksamkeit beruht."

    Ob Novalis, Wagner oder Spengler, bei Denkern und Künstlern wie diesen, spielt die Natur oder besser die Außenwelt eine wesentliche Rolle. Gleiches gilt für die Bücher von Julien Gracq. Besonders für seine glänzenden essayistischen Werke, etwa die "Witterungen": Landschaftsbeschreibungen kippen hier in Reflexionen über Literatur und Kunst. Sein Stil ähnelt dabei dem Ernst Jüngers, den er kannte. Auch Gracqs Sprache zeichnet Bildkraft und Präzision aus. Doch gerade Gracqs Hinwendung zur Außenwelt setzt ihn in Opposition zu einem Großteil seiner französischen Schriftstellerkollegen - diese blenden die Außenwelt nämlich weitgehend aus, so der Autor.

    Gracq steche damit, meint Carrière, sehr von seinen Kollegen ab. Ja, bisweilen überkomme ihn der Gedanke, er lese gar einen nichtfranzösischen, übersetzten Autor; derart ungewöhnlich seien Gracqs beinahe "desozialisierte" Romane:

    Es ist auch meine Art und Weise, mit einer klassischen Tradition zu brechen, deren engstirniger Humanismus in Verbindung mit dem Verbot, das mehr oder weniger über die Außenwelt verhängt wurde, immer sehr ausschließlich geherrscht hat. Ich war überrascht mit anzusehen, wie nach dem Krieg diese Tradition merkwürdigerweise vom existentialistischen Roman wieder aufgegriffen wurde, in dem die Sozialisierung alles überwuchert und das Café als Schauplatz der Fiktion genau die Nachfolge des klassischen Salons mitsamt seinen Kommoditäten der Konversation antritt.

    Zweifellos ist Gracq mit seinem Außenweltbezug und seiner Inklination zum Universalismus ein Einzelgänger in der Literatur Frankreichs, doch ein vielfach bewunderter. Die Bücher des Surrealismussympathisanten, davon zeugt "Auf Schloß Argol", gehören längst zum literarischen Kanon. Sie werden in der berühmten Bibliothèque de la Pléiade ediert. Vom Literaturbetrieb hält er dennoch nichts: Zurückgezogen lebt Gracq in der vormaligen Grafschaft Anjou, seiner Heimatregion; Interviews gibt er selten, Preise bedeuten für ihn Käuflichkeit. 1951 sollte er für "Das Ufer der Syrten" den Prix Goncourt erhalten, und lehnte ab. Ein Akt gegen die Medialisierung und Kommerzialisierung der Literatur. In dem Roman, der in einem fiktiven Land spielt, verarbeitete Gracq seine Erfahrungen des "drôle de guerre", des sogenannten Sitzkrieges zu Beginn des Zweiten Weltkrieges.

    Julien Gracq ist einer jener rar gewordenen Autoren, die alles, was nicht mit ihrer Arbeit zu tun hat, von sich fernhalten. Der Präsident des Internationalen Jules Verne Zentrums in Amiens, Jean-Paul Dekiss, sieht in Gracq noch den Schriftstellertypus des 19. Jh., der sich der Vermarktung verweigerte. Nur, fragt Dekiss, ist das nicht eine Haltung, die einem heute schnell den Vorwurf der Arroganz eintrage?

    "Für mich ist der Schriftsteller jemand, der schreibt. Ich bin der Ansicht, dass man so weiter machen soll, aber jetzt haben die Schriftsteller einen Großteil der Arbeit, die dem Verleger oblag, selbst übernommen. Sie machen die Werbung für ihre Bücher. Es ist einfach ein kommerzielles Kundendienstverfahren. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher ins Schaufenster zu stellen. Wenn das Arroganz ist, dann kann man da nichts machen."

    Indessen muss sich der Nestor unter den französischen Dichtern keine Sorgen um die nötige Aufmerksamkeit machen. Erst im Juni widmete ihm die Zeitschrift le magazine littéraire ein Heft, betitelt: Julien Gracq - Der letzte der Klassiker. Hier gewährt der einstige Freund von André Breton auch mal ein Interview, freilich nur schriftlich. Neben diesem Interview kommen in dem Heft verschiedene Schriftsteller zu Wort, die sich zu Gracqs Werk äußern. So auch Éric Chevillard, der dem Altmeister seine Verehrung erweist:

    "Wir lieben die Bücher von Gracq wie wir die Bilder von Cézanne lieben."

    Julien Gracq, meint in dem vorliegenden Band "Gespräche" einmal Jean Carrière, sei ein "Schriftsteller der Grenzgebiete"; ähnliche Äußerungen finden sich auch bei den anderen Gesprächspartnern: Die Bewunderung gilt hier einem auf geistige Unabhängigkeit pochenden Autor, der gerne unterschiedliche Wissensgebiete zusammenführt. Eigenwillige Schlussfolgerungen inklusive. Nicht minder ist Gracq aber auch ein genauer Beobachter und zeichnet sich durch eine gewisse Erdverbundenheit aus.

    Gracqs Oszillieren zwischen Freiheitswillen und Konservatismus wird die Leser des Buches - zum Neudenken angeregt - nicht weniger in Bann ziehen als seine Interviewpartner. Aber noch etwas anderes macht das Buch lesenswert. Es bietet, dazu tragen auch die intelligenten Fragen bei, einen sehr gewinnbringenden Einblick in die Schreib- und Denkarbeit des Schriftstellers: werden doch verschiedenste Texte Gracqs auf ihre Entstehung hin analysiert, von den ersten Überlegungen bis zum fertigen Buch.

    Info:
    Julien Gracq
    Gespräche
    Aus dem Französischen von Dieter Hornig
    Droschl Verlag, 248 Seiten, 23 Euro