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Solve et coagula

Der Aufenthalt ist der kleine Tod des Alltags. In unserem bis auf den Sekundentakt durchökonomisierten Zeithaushalt ist daher nichts verstörender als der unfreiwillige Stopp und die "tote Zeit" des Wartens. Höchstens vielleicht: Botho Strauß' neues Buch "Vom Aufenthalt" zu lesen. Es beginnt wie ein Drehbuch.

Von Michaela Schmitz | 20.12.2009
    Ein Mann, der nach vielen Jahren in der Fremde endlich seine Heimreise antritt, muss drei oder vier Stationen vor dem Ziel den Zug verlassen, da sein Land nach einem Putsch über Nacht sämtliche Grenzen schloss und jedermann die Einreise verweigert. Er überlässt sich einem unfreiwilligen Aufenthalt im Bahnhof einer kleinen Grenzstadt, die er nicht besuchen wollte. Die Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Diese verbringt er im Wartesaal zusammen mit einigen ( ... ) Mitreisenden ( ... ).
    Das ist dann der Aufenthalt, er könnte länger dauern.


    So die nüchterne Bühnenanweisung für ein Bewusstseinsdrama. Die Situation veranlasst zu beunruhigenden Fragen und Spekulationen. Doch was kann der Aufgehaltene tun? Nichts. So scheint es jedenfalls, wenn man weiter liest. Der Szenenbeschreibung folgen kleine philosophische Reflexionen, abstrakte Gedankenspiele über das Bewusstseinsvakuum des Aufgehaltenen und die im Aufenthalt zerfallende Zeit. Argumentativ knüpft der nächste Abschnitt zwar hier an; doch durchbricht er die Gedankenführung durch ein skurriles Bild mit Verweis auf eine Figur aus der griechischen Mythologie:

    Doch wäre es ein Fehler, in der Zwischenzeit nicht Zeitnehmer zu sein und Zeit zu nehmen bei den schnellen Hindernisläufen. Die Frauen in Shorts und engem Trikot haben ihre Hürden geschultert und stellen sie auf in blühenden Parks, auf mondbeschienenen Uferpromenaden. Ja, überall siehst du sie rennen, schnell wie Atalante, mit gestrecktem Oberkörper und hochgerissenem Knie nehmen sie Hürde für Hürde, und keine fällt.
    Statt freier Strecke gab es nur noch den Parcours – die Zeit zerfiel zu Aufenthalt und gebar tausend Regeln, Prüfungen, Hürden, Gräben, Zwischenfälle.
    Ach, es hüpfen die Männer nur auf der Stelle, wie man beim Seilspringen hüpft.


    Von einer Bärin gesäugt, wächst Atalante, die amazonenhafte Läuferin bei Jägern selbst zur allzeit bewaffneten Jägerin heran und schwört immerwährende Jungfräulichkeit.
    Das also ist der Anfang von Botho Strauß' neuem Buch "Vom Aufenthalt". Und genau so geht es auch weiter. Keine geschlossenen Geschichten, kein Hauptthema. Dies "lasterhafte Schreiben", so der Erzähler selbst, entwerfe seine "Bilder und Bewandtnisse, Erinnerungen, Träume, Reflexionen, Idiosynkrasien und Sentimentalitäten" in bizarrer Streuung wie Eisenspäne um ein Magnetfeld. Die Formen und Figuren sind bekannt. Botho Strauß ist umstritten für seine radikale Kritik der Medien- und Informationsgesellschaft. Viele Intellektuelle konnten und wollten Strauß' anti-aufklärerischen Einspruch gegen den unerschütterlichen Glauben an die Allmacht der Vernunft und den unaufhörlichen Fortschritt des Wissens nicht teilen. Genauso wenig wie seine neoromantische Sehnsucht nach einer ästhetischen Zeitenwende. All diese oft wiederholten Gedanken und Glaubenssätze sind auch in diesem Buch zu finden.
    Jedoch präsentieren sich die Selbstzitate hier eher wie auseinandergebrochene Sedimente. Vereinzelt und verstreut, wirken sie jetzt wie Andenken an unwiederbringlich zersprengte Denkfragmente. Der Erzähler selbst fordert immer
    wieder dazu auf: Isolieren, unzusammenhängend machen, zerstreuen:

    Auflösen, auflösen! Das Geronnene im Urteil, das Gerinnsel im Begriff auflösen, verfestigte Auffassungen in ungeordnete Bestandteile zerlegen, ihre innerste Instabilität entdecken, die Makros aller Art zersetzen, trennen, isolieren. ( ... ) Löse alles Gerinnsel in deinen Gedanken. Schemata, Dispositive, Pattern, Topoi. Typen, Grundfiguren, Verfestigtes, Belag auf den Wellen der Anschauung – wer ihn beseitigt, wird wieder fündig.

    Im Widerspruch dazu steht: Das Buch ist voller Meinungen und Urteile. Abgestraft werden die Jasager mit der "Zeitgeistzipfelmütze" und der "Aufklärkehricht" ihres Kritizismus. Denn die "Methode des Verstehens" habe uns vom Unbegreiflichen entfernt. Gefordert wird dagegen die "Restauration menschlicher Unwissenheit" und eine komplementäre "Mystifikation des Wissens". Die Erlösung des Menschen liege jenseits der Vernunft in der "Realpräsenz" – gefeiert in der Eucharistie einer Dichtung, durch die das Göttliche im "Leib der Sprache" zur Erscheinung kommt.
    Wie passt dieser apodiktische Gestus mit der Aufforderung zum Zerlegen und Auflösen zusammen? "totum simul" ist das Zauberwort. Thomas von Aquins Begriff für die Ewigkeit als Abwesenheit von Zeit im von Gott gegebenen "Alles auf einmal". Hier soll das Zerstreute zusammengeführt werden.

    Das Allzugleich entfaltete sich. Nichts fand statt, alles stand und wiegte sich in seiner Gegebenheit. So auch meine Immediatbücher, in denen nichts verlief von Anfang bis Ende, sondern sich ordnete in der Totale des einmaligen Würfelwurfs. Der unablösbaren Eröffnung eines Spiels, bei dem ich als Spieler ausschied, keine zweite Chance hatte.
    Mag auch niemand Gestalt erkennen in meiner Zerstreuung. Geschroten und gemahlen, bleibt nur ein vager Umriss in Körnern, das Ende von Max und Moritz.
    Die Natur würfelt nicht ( ... ). Das Gedächtnis jedenfalls tut es in einem fort.


    Die Suche nach dem "Einfürallemal" im "Drunterunddrüber" des Disparaten also? Der Wille zur Niederschrift ohne zeitliche Abfolge? Die Ausformung einer Totale im zufälligen Wurf? Es ist überdeutlich: Hier beinhaltet jeder Satz seinen Gegen-Satz. Hier spielt das Pathos mit der Ironie und die Ironie mit dem Pathos. Sein eigenes Wappen, bekennt der Erzähler schon recht früh im Buch, trüge die Umrisse des gekörnten Max und Moritz in ihrem "Letzten Streich". "Rickeracke! Rickeracke!" hört man die Text-Mühle und sieht den Schreiber am Ende genauso "fein geschroten und in Stücken", brauchbar nur noch als Futter für "Meister Müllers Federvieh." Gibt es also doch nur noch zu sagen, dass es nichts zu sagen gibt? Die letzten Worte zu Ende sprechen und so an seinem eigenen Vergehen mit Methode zu arbeiten? Gerade noch genug Stimme, um sich im Selbst-Widerspruch zu üben?

    Jedes Traditionsgeheische ist unlauter. Tradition ist Zufall, impact, Erleuchtung, Treffer. Man kann nichts fortschreiben. Ich habe mich geirrt. Man ist nicht angebunden, man wird unversehens von Vergangenem erschüttert mitten auf dem freien Feld genauso wie im Taxi zum Flughafen.
    Es schwebt zu viel Gutes im Orbit, und es kann einen täglich aus jeder Richtung treffen. Dennoch gibt es Zweifelsfälle zwischen der Treue zum Zimmer und dem jähen Türaufstoßen, zwischen Reminiszenz und Fortsprung. Und dann auch die tausend kleinen Fassungslosigkeiten.
    Der ganze Mensch ist eine Pusteblume, die der geringste Windstoß kahlt. Es ist der Mann restlos verstummt um das eine Wort herum, das er leise sagt und abermals sagt ... ich bitte um Hilfe. I want protection.


    Sollte Botho Strauß seinen Glauben an den Dichter als wissender, schaffender Bewahrer der Tradition tatsächlich verloren haben, wie er ihn im Text "Distanz ertragen" zu Rudolf Borchardt formuliert hat? Wird der große Zeitkritiker und Propagandist eines umstrittenen geistigen ästhetischen Fundamentalismus, wie er ihn in Aufsätzen wie "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" vertritt, im Alter tatsächlich von Selbst-Zweifeln geplagt?
    Oh heilige Verwirrung! Oh göttliche Zerstreuung! Wie passt das nur alles zusammen? Gar nicht, hören wir den Erzähler aus dem Hintergrund. Vielleicht wird er dabei wortlos auf einen Baum zeigen. Dieser entscheide sich, sinnt der Erzähler nach, bei seinen Verzweigungen scheinbar immer für beide Richtungen. Dieses Bild wird häufig variiert: es ist die Rede vom Gedanken-Dickicht, vom Dornengestrüpp der Sprache, vom wilden, aber dennoch nicht formlosen Wuchern des undurchdringlichen Geästs. Es wird zum Symbol für das geordnete Chaos im gleichberechtigten Nebeneinander unterschiedlicher Ausformungen, für die mögliche Gleichzeitigkeit verschiedener Wege.

    Meine Ordnung beginnt mit der Übertragung von Chronologie auf Simultan-Tafeln.
    Gestern heute morgen: wir bauen Tafeln auf mit zeitlichen combines (à la Rauschenberg).
    Weil doch das totum simul die höchste Lust und Liebe ist: die noch unerschaffene Gegenwelt zu Fortschritt und Vergehen und auch zur Schrift, ihrem grausamen Zwangsverlauf, ihrer bösen und engstirnigen Linearität. ( ... )
    Nach Augustin (Bekenntnisse XI, 7) wurde das Schöpfungswort nicht im Nacheinander gesprochen, "das dem Gesprochenen ein Ende setzt", sondern zugleich und immerwährend – simul et sempiterne.
    Die mystische Sprache bewegt sich von der Vielheit, dem zeitlichen Nacheinander der menschlichen Sprache hin zum simul et semel, dem Allzugleich und Einfürallemal, worin Gott sich offenbart. Von ihm, dem "Alten der Tage" (Dan 7,22), heißt es, dass er über Zeit und Ewigkeit steht.


    Der Erzähler fordert das Unmögliche: die Aufhebung der Zeitlichkeit in der und durch die Kunst. Die Malerei, verrät der Bezug auf den amerikanischen Objektkünstler Robert Rauschenberg, scheint diesem Ziel der Simultaneität näher zu sein als die an schriftliche Chronologie gebundene Dichtung. Aber vielleicht ist es möglich, die Methode der Malerei teilweise auf die Dichtung zu übertragen. Genau das strebt Strauß in seinem Buch "Vom Aufenthalt" an: Simultaneität herzustellen, indem es so weit wie möglich jeden großen narrativen Zusammenhang, jede komplexe logische Argumentationslinie vermeidet. Quellen der Inspiration sind die chinesischen Dichter-Maler – wie T'ang Xin, dessen Bild "Traum von der Unsterblichkeit" auf dem Buchumschlag zu sehen ist. Es sind Einzelgänger wie Rauschenberg. In seinen "Combines" finden wir Kombinationen von Objekten und Wirklichkeitsfragmenten. Die Zwischenräume füllen ungegenständliche malerische Passagen in der heftigen, spontanen Art des Action Painting. Genau dieses Verfahren ist es, was Botho Strauß für sein Schreiben fruchtbar machen will.

    In den Anwandlungen des Ruhlosen bereitet sich ein neuer Stil, eine High-Definition-Literatur, Impressionen von hoher Auflösung, Berührbares sinnlich überdeutlich, bis es ins Unberührbare, Ungegenständliche übergeht. Aus scharfumrissenen Einzelheiten, Stimmungspartikeln, Tupfern entsteht das Vage, der Nebel, der Schleier. Venus circumdata nimbo. Von der Liebe nur die Nebelhülle. Sein Fühlen und Sehen erfasst – noch einmal – alle Gegebenheiten in ihren feinsten Elementen.

    Vorbild mögen auch die übermalten Fotografien von Gerhard Richter gewesen sein. Botho Strauß selbst hat einen Katalog-Beitrag zu einer Ausstellung von Richters übermalten Fotos im Jahr 2008 geschrieben. Zu sehen waren kleinformatige Privatfotos von Richters Familie, vom Künstler mit bunten jähen Farbaufträgen übermalt. Jedes Foto, so Strauß in seinem Kommentar, sei ein getöteter Augenblick, ein Insekt der Zeit. Die Übermalung könne ein magischer Akt sein, um jenen gefangenen Zeitpunkt zu befreien. Es gehe darum, die Abbilder durch die heftigen, meist zufällig entstandenen Farb-Überwehungen zu erlösen. Die Bildvorlage werde also beschädigt und fragmentarisiert, um ihre Seele zu bewahren: im Nebeneinander von Figürlichem und Abstraktem. In "Der Maler löst den Bann" fragt Botho Strauß:

    Aber sind es Übermalungen? Sind es nicht vielmehr Einbrüche von Ölfarbe, die das Stillgestellte des Fotos, seinen Bann aufheben? Einbrüche des Unfigürlichen, von Wehungen, Bränden, Wogen, die das tote Reale, das figürliche Abbild, scheinbar wiederbeleben, ( ... ) von jähen Farbschüben ( ... ), die eher Interventionen des Himmels oder der Elementargewalten gleichen als den Launen eines dekorierenden oder verzierenden Maler-Kommentars. ( ... )

    Im chaotischen Farbauftrag dem Zufall Raum zu geben, hieße also, die Vision des Göttlichen zu ermöglichen. Richters eigentliche Kunst wäre demnach, das Hereinbrechen des Himmlischen zuzulassen. Wie der Ikonenmaler, über dessen Bedeutung Strauß schon im Essay über den "Aufstand gegen die sekundäre Welt" nachdachte. Botho Strauß zumindest scheint sich in dieser Tradition zu sehen. Denn seine Analyse klingt wie ein Selbstkommentar zur angestrebten Methode.
    Erinnern wir uns an den Anfang des Buchs: die seltsam leblose Bühnenanweisung eines unfreiwilligen Bahnhof-Aufenthalts. Wie erstarrt kam das eingefrorene Gedankenbild trotz der dramatischen Ausgangssituation daher. Ein Bewusstseins-Polaroid ohne Leben. Es folgten philosophische Reflexionen über das Verhalten von Zeit und Raum im Aufenthalt. Und danach: der jähe Einbruch eines märchenhaft anmutenden mythologischen Bildes. Auch hier scheint es so, als löse diese Übertragung den Bann des toten Szenarios.
    Im Rückblick legen sich die Sequenzen tatsächlich wie Bildschichten neben- und übereinander. Aus dieser Staffelung entsteht eine neue, multiperspektivische Überblendung. Die Methode der mehrdimensionalen Überlagerung zieht sich durch das ganze Buch. Schicht um Schicht werden bekannte Themen und Motive übermalt oder vielmehr "übertragen".

    Übertragen, übertragen. Konkretes nie stehen lassen. Denn mit allem hat es so seine Bewandtnis. Deshalb muss es unermüdlich übertragen werden in Fabel, Anekdote, Gleichnis und Märchen. Wider das Explizite! Vermeide ausgesprochen Ausgesprochenes, das nichts zu bedeuten gibt und nicht in sich hineinlockt. Die Schlupfbilder hingegen, die Dort-will-ich-hinein-Bilder, der Kreis oder die Mandel, sie machen Verstehen erst schön! Metonymie das Ganze, sodass man am Ende hoffentlich immer mehrsprachig und nur im übertragenem Sinn gesprochen haben wird.

    Irreale Traumbilder, Mythisches und Visionen stehen im Kontrast zu rationalen Denkfiguren. Mystisches, Utopien oder Surreales brechen unwetterartig über die narrative Chronologie herein wie unberechenbare und unbeherrschbare Bildwellen. Diese Spannung bringt vieles in Bewegung. Die verschiedenen Bildebenen treten in eine lebendige Kommunikation miteinander. Hinzu kommen interne Querverweise, Selbstzitate auf andere Bücher und externe literarische, philosophische oder historische Bezüge ohne Zahl. All diese Überblendungen kommentieren sich gegenseitig, und erstarrte Denkmuster geraten in Schwingung, beginnen zu vibrieren. Wie in Richters übermalten Fotos wird das "tote Reale" zum Leben erweckt.
    Lässt man sich als Leser auf diesen Dialog zwischen den Bildebenen ein, wird man immer wieder die Leserichtung verändern, zurückspringen und mehrfach lesen müssen. Dabei verwandeln sich auch die Bildwelten mit ihren Tiefenräumen, Korrespondenzen und Formbezügen von Lesart zu Lesart. Dieses kreisende, motorische, multiperspektivische Lesen birgt immer wieder neue überraschende Entdeckungen, nach denen man gar nicht gesucht hat.
    Das ist Absicht. Denn es gehe darum, so Gerhard Richter,

    "das Unterschiedlichste und Widersprüchlichste in möglichster Freiheit lebendig und lebensfähig zusammenzubringen. Keine Paradiese."

    Genau das ist es, worauf Botho Strauß hinaus will: Gedanken und irreale Bilder so übereinanderzuschichten, dass sie miteinander und mit dem Leser in Interaktion treten und so ein Eigenleben entwickeln. In der dichtesten Gedankenbildweberei wird das Konkrete im Abstrakten wie im folgenden Bild geradezu aufgehoben.

    Tag und Nacht kämm ich am alten Teppich die wirren Fransen, die nur Zierde sind, Gedanken eben. Der Teppich selbst ist herrliche Verwobenheit, Inbild eines festen, unzerreißbaren Werks. Doch an seinem Rande tue ich, was meine Mutter tat am schweren Perser mit dem groben Aluminiumkamm. Und diese Schrift, die immer vorwärts zieht, trägt mich nun im Gegensinn zurück zum ersten Schultag mit dem erstgemalten Wort.

    Das also bleibt in "Vom Aufenthalt". Gestundete Zeit im Pendeltakt zwischen Nicht mehr und Noch nicht. Nichts zu tun, als Gedanken-Fransen zu kämmen und die Tage mit Worten zu verlängern. Der Aufgehaltene wird selbst zum Aufhalter, zum Katechon. Der Dichter wird selbst zum Verzögerer, Zauderer und "Weilestrecker" mit seinem "Hochleistungsbleiben im Wort", Gedanken-Polaroids übertragend ins mythologische Bild. Das Metaphysische gelöst in Materie: hunderte kleiner Andachtsbilder über Altern, Liebe, Sehnsucht, Angst, Erinnern und Vergessen für das große Andenken-Buch "Vom Aufenthalt".
    Ironie der Weisheit: Der Dichter hat für die Weile des Aufenthalts die Zeit besiegt, doch es hört ihm keiner mehr zu. Ausgesetzt in der Eiswüste der Erkenntnis, sieht er sich als "Handzettelverteiler in der Antarktis". Selbstironisch inszeniert er den Poeten als einsamen Rufer auf den Hügeln der Uckermark, ein romantischer Schwärmer, der vergeblich auf sein ausbleibendes Publikum wartet. Und so verschickt der Erzähler sich am Ende selbst an die einsamen Ufer der fiktiven Insel Xiphos – so heißt ein zweischneidiges Schwert aus dem antiken Griechenland:

    Ich, ein Schiffbrüchiger auf dem weiten Menschenmeer, hatte mich ans Gestade einer weitgehend unfruchtbaren Geistes-Insel, Xiphos hieß sie, gerettet. ( ... ) Der Ort ( ... ) sollte mir Gelegenheit zu einer längeren Niederschrift geben. Doch so lange auch mein Aufenthalt währte, am Ende waren sämtliche Blätter, an die tausend, mit Abertausenden von Schlussstrichen übersät. ( ... ) kein Strich ließ sich mehr zügeln und zu einem Buchstaben biegen. Beim ersten Ansatz raste er schlussbesessen quer über das Papier.

    Man wird nicht so schnell ans Ende kommen mit diesem Buch "Vom Aufenthalt". Schon allein deshalb nicht, weil es sich nicht einfach von vorne nach hinten lesen lässt. Aber auch, weil es zu jeder Frage immer mehrere Antworten gibt. Es ist leicht, sich im Gestrüpp der Möglichkeiten zu verstricken. Es ist nicht schwer, das ohnehin Zerstreute komplett zu zerpflücken. "Solve et coagula", "Löse und verbinde", ruft der Erzähler sich und dem Leser Mut zu. Er verwendet die alchemistische Schlüsselformel sicher nicht ohne Ironie, denn das Verfahren blieb über Jahrhunderte hinweg ebenso mühsam wie erfolglos. So wird Botho Strauß "Vom Aufenthalt" wohl ein Buch für die wenigen Literatur-Alchemisten bleiben, die trotzdem nicht aufhören können, weiter nach dem "Stein der Weisen" zu suchen.

    Botho Strauß: "Vom Aufenthalt". Hanser 2009. 296 Seiten,
    19,90 EUR