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Sommerreihe "Die Faszination des Bösen"
Von Tätern, Opfern und Endorphin-Junkies

Mord, Totschlag, Gewaltexzesse: Das Böse ängstigt und fasziniert Menschen gleichermaßen. Krimis sind beliebt wie nie zuvor, Millionen Fans schauen sonntags den "Tatort" in der ARD. Eine klare Definition, was genau das Böse ist, ist jedoch schwierig. Klar hingegen ist: Jeder kann zum Mörder werden.

Von Mirko Smiljanic | 01.08.2019
US-Schauspieler Anthony Hopkins als Dr. Hannibal Lecter trägt im Film eine Gesichtsmaske mit Beißschutz (undatiertes Szenenfoto). Der Kannibale Hannibal Lecter führt die Liste der Film-Bösewichte an. Insgesamt 100 «Heroes» (Helden) und «Villains» (Bösewichte) Hollywoods sind am 3.6.2003 im US-Fernsehen vorgestellt worden. Das American Film Institute präsentierte das Ergebnis einer Umfrage unter 1500 Schauspielern, Regisseuren und Kritikern, die aus einer Liste von 400 Filmcharakteren ihre Wahl treffen konnten.
Inbegriff des hochintelligenten Psychopathen: Hannibal Lecter (Anthony Hopkins). (picture alliance/dpa/dpa-film Uip)
Sonntags 20.15 Uhr in deutschen Wohnzimmern. Bis zu 14 Millionen Menschen sitzen Woche für Woche um eines der letzten medialen Lagerfeuer und schauen Fernsehkommissaren bei der Arbeit zu. Thiel und Boerne jagen Mörder in Münster, Berg und Tobler ermitteln im Schwarzwald, Dorn und Lessing zerren in Weimar Bösewichte ins grelle Licht der Verhörzimmer, Eisner und Fellner verfolgen in Wien Verbrecher. Dass die Kommissarinnen und Kommissare mittlerweile selbst Macken haben, gehört zum TV-Geschäft – geschenkt. Weit wichtiger für Krimijunkies ist die Gewissheit, dabei zu sein: Manchmal schon beim Mord, auf jeden Fall bei den Ermittlungen, Verhören und schließlich natürlich bei der Verhaftung des Bösen. Das Gute siegt immer!
Krimis erzeugen Angst, Endorphine entlasten
Das war schon beim "Stahlnetz" in den 1950er-Jahren des letzten Jahrhunderts so, und es wird mit Sicherheit so sein, nachdem der letzte "Tatort" ausgestrahlt worden ist. Krimis faszinieren, genauer: das Böse fasziniert! Warum das so ist? Weil die Fernsehzuschauer Ängste entwickeln, sagt Professor Borwin Bandelow, Psychiater an der Universität Göttingen. Sie sehen einen Mord – der muss es schon deshalb sein, weil Straftaten wie Betrug oder Raub kaum Angst auslösen – und spüren plötzlich, dass selbst diese virtuellen Verbrechen reale Ängste erzeugen – inklusive Schwitzen, Herzrasen und beschleunigtem Atem.
Symbolbild zum Thema häusliche Gewalt: Schatten sollen symbolisieren, wie eine Frau versucht, sich vor der Gewalt eines Mannes zu schützen.
Faszination des Bösen / Angst und Schrecken verbreiten und erleben
Sommerreihe: Das Böse übt seit jeher eine große Faszination auf die Menschen aus. Unterschiedliche Kulturen gehen anders damit um. Und natürlich ist wird dies auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften immer wieder thematisiert.
"Wenn dann beim Betrachter diese Angst ausgelöst wird, dann werden im Körper auch sogenannte Endorphine ausgeschüttet, das sind Wohlfühlhormone, die aber in diesem Fall auf diese Stresssituation vorbereiten sollen, weil nämlich dieses Angstgehirn, das kann nicht unterscheiden zwischen Studio und Realität, man glaubt, man ist mitten im Geschehen. Und wenn dann um 21.45 Uhr der Kommissar den Täter verhaftet hat und abführt, dann hat die Gerechtigkeit gesiegt, dann ist die Angst weg, und dann durchfluten diese Endorphine trotzdem den Körper, und das ist der Grund, warum so viele Menschen sonntags den 'Tatort' schauen."
"Endorphin-Junkies" auf der Suche nach dem Kick
Und nicht nur den: Die Zahl der Krimis ist Legion, die Zahl der Toten auch. Für das Jahr 2015 hat der Journalist Glenn Riedmeier die Morde in den Programmen von ZDF und ZDFneo gezählt: Er kam auf mehr als 4.500 Tote. Die öffentlich-rechtlichen und privaten Programme hinzugerechnet liegt die Zahl irgendwo zwischen 10.000 und 20.000. Deutschland ist ein Volk von Endorphin-Junkies, süchtig nach dem 90-Minuten-Kick. Und die Medienindustrie liefert verlässlich – nicht nur das Fernsehen.
"Der Leichenwagen, der durch die Einfahrt kam, die traurigen Gesichter im Abschiednahmeraum, ihre Kinder, die im Freien auf den Kirschbaum kletterten und Karl, der unten stand, und sie auffing. Der beste Schwiegervater der Welt. Blum weiß, dass er für sie da ist", heißt es im Hörbuch "Totenhaus" des Österreichischen Thriller-Spezialisten Bernhard Aichner.
Ein Mitarbeiter vor dem Regal mit Regionalkrimis in der Buchhandlung Hugendubel in München
Ein Regal mit Krimis in der Buchhandlung Hugendubel in München (imago / HRSchulz)
Das Genre "Kriminalroman" boomt
"Also ich glaub, dass die Faszination für das Böse, die hat es immer schon gegeben. Aber was Literatur betrifft, in den letzten 25 bis 30 Jahren gab es da schon einen enormen Boom. Also ich kann mich erinnern, als ich jugendlich war, da gab es Agatha Christie und noch vier, fünf andere Kriminalautorinnen, ab dann war bald fertig. Wenn man heute in die Buchhandlung geht, dann sind da Türme, stapelweise gibt es Krimis, es gibt jährlich extrem viele Neuerscheinungen."
44 Prozent aller Deutschen haben 2015 nach Berechnungen des "Börsenvereins des Deutschen Buchhandels" mindestens einen Krimi gelesen. Mehr als die Hälfte der Leser ist 50 bis 59 Jahre alt, wobei Frauen mit einem Anteil von 51 Prozent deutlich häufiger Kriminalromane lesen als Männer, die es gerade auf 37 Prozent bringen.
"Blum sieht, was sie nie wieder haben wird, wie es hätte sein können. Kirschen, die sie pflückt, wenn ihr danach ist, der Schatten im Sommer, wenn sie im Gras unter einem Baum liegt. Schön ist es. Einmal kurz noch, dann schließt sie ihre Augen und stirbt", ist in Bernd Aichners Geschichte zu hören.
Tausenden medialen Morden stehen 386 reale Tote gegenüber
Überall Tod und Verderben! Allerdings nur in den Medien, die Realität sieht zumindest bezogen auf die Zahlen anders aus. 2018 wies die bundesdeutsche Kriminalstatistik gerade mal 386 Morde aus – Tendenz fallend! Eines darf man allerdings nicht vergessen: Verglichen mit den Zehntausenden Morden in Print und Elektronischen Medien sind 386 Opfer zwar verschwindend wenig, aber diese Opfer sind real! Keine Glückshormone durchfluten den Körper, wenn der Täter gefasst wird, keine Katharsis stellt sich beim Blick auf die Leichen ein. 14 Jahre alt war das Mädchen, als es vergewaltig und erwürgt wurde. 70 Jahre der Mann, den ein Drogensüchtiger ausraubte und für eine Beute von 40 Euro erschlug. Mitte 30 die Mutter, deren Mann sie aus Eifersucht auf offener Straße erschoss. Das reale Böse ist immer pures Grauen. Für die Opfer und ihre Angehörigen auf jeden Fall, häufig auch für die Täter. Da müssen keine Morde bemüht werden, es reicht schon ein Blick auf die alltägliche Kriminalität.
Ein Mann im Gefängnis
Ein Mann im Gefängnis (imago)
Justizvollzugsanstalt Düsseldorf. Ruppige, distanzierte Begrüßung. Zweck des Besuches, fragt die Endzwanzigerin hinter schusssicheren Scheiben, Ausweis abgeben, Smartphone sowieso, der Rucksack kommt in ein Schließfach. Jede Tür wird einzeln geöffnet und wieder verschlossen, lange Gänge, irgendwo ein kleiner Besucherraum. Ein Tisch, an dem zwei Männer sitzen.
Reale Verbrechen sind oft das Grauen – manchmal auch für die Täter
"Ich bin 36 Jahre alt und wurde verurteil wegen schwerem Raub. Endstrafe sind 15 Monate, aber ich warte auf ein Gutachten und dann müsste ich hoffentlich nächsten Monat nach Hause gehen." - "Ja, ich bin 37 Jahre alt, ich bin zu 28 Monaten verurteilt wegen gefährlicher Körperverletzung und sitz jetzt noch knapp neun Monate."
Zwei Männer, zwei Taten, zwei Lebenswege, die sie so nicht eingeplant hatten. Irgendwann und irgendwie sind sie ins Böse abgerutscht.
"Das fing bei mir eigentlich 2000 an, direkt nach meinem Schulabschluss habe ich meine erste Straftat begangen, das war so ein befreiendes Gefühl für mich gewesen, und darauf habe ich meine kriminellen Machenschaften aufgebaut. Es tat gut, jemanden anders zu verletzen, wo man jahrelang selber verletzt worden ist, dann hab ich halt den Fehler gemacht und hab auch zugeschlagen", erzählt einer der Häftlinge und erklärt:
"Es hatte viel damit zu tun, dass ich kritikunfähig war, weil ich das nicht erlernen konnte, weil, ich hatte keine Eltern, ich bin bis zu meinem 18. Lebensjahr misshandelt worden, und man hat mir immer beigebracht, der Stärkere gewinnt. Und darauf habe ich auch mein Leben aufgebaut, der Stärkere gewinnt!"
Und weiter: "Meine Mutter, die ist lieber Party machen gegangen, als auf uns Kinder aufzupassen, das heißt, wir waren drei Kinder bei ihr, ich war halt der Zweite, ich denke, ich hab dieses ganze Martyrium nur überlebt, weil ich meine Geschwister schützen wollte, auch als kleines Kind schon."
Gelegenheit zur Straftat
18 Kinder hat die Mutter des heute 37-jährigen, gekümmert hat sie sich um keines. Als der leibliche Vater das drei Monate alte Baby in der Badewanne ertränken wollte, schritten die Behörden ein. Vergebens, auch die Pflegefamilie misshandelte den Jungen. Beim zweiten Mann liegt der Fall etwas anders.
"Ich gelte ja als Erststraftäter, ich würde nicht behaupten, dass ich darauf hingearbeitet habe, es hat sich eine Gelegenheit geboten, ich war in einer miesen Lebenslage, daraufhin hab ich die Tat begangen. Ein schwerer Raub, wir haben einen Verteiler ausgeraubt und haben auch Menschen gefesselt, also das war ein gemeinschaftlicher Raub mit Freiheitsraub."
Fünf Kinder im Alter von 11, 12, 15, 16 und 17 Jahren hat der Mann, seine damalige Ehefrau hat ihn wegen der Tat mittlerweile verlassen. Und wie geht es weiter mit den beiden Männern?
Therapie zur Aufarbeitung
"Ich hab eine Traumatherapie, weil durch mein Kindheitserlebnis bin ich traumatisch geschädigt worden, ich hab hier drin einen externen Psychologen, der kommt von draußen und wir arbeiten meine Problematik auf, weil, ich hab nie mit jemandem gesprochen, was mir passiert ist, weil ich mich damals dafür geschämt habe, dass ich als Kind misshandelt wurde."
"Ich würde mal sagen, die Therapeuten haben erkannt, dass ich einen Fehler gemacht habe und das auch einsehe, und da gibt es auch nicht viel mehr, was man da machen kann. Ich muss meine Zeit absitzen, meine gerechte Strafe, zu der ich verurteilt worden bin, und wenn die Zeit gekommen ist, dann zurück ins normale Leben."
Ein junger Mann hebt seine geballte Faust
Ein junger Mann hebt seine geballte Faust (dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
Was das Böse ist, weiß niemand genau
Hinter Verbrechen stehen fast immer Geschichten, die das Böse miterzeugen. Das Strafgesetzbuch schafft Richtern Freiräume, diesen teilweise furchtbaren Hintergrund ins Urteil einfließen zu lassen. Das Böse selbst wird dadurch aber nicht beseitigt, das Böse ist einfach da.
"Ich glaube, es gibt keine allgemeingültige Definition, aber ich als Psychiater habe ja sehr viel mit Menschen zu tun, die sogenannte antisoziale Persönlichkeitsstörungen haben, und das sind die Menschen, die wir als 'böse' meistens bezeichnen, weil sie eben Straftaten begehen. Sie begehen Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Totschlag, Mord, und das verstehen wir als das Böse. Als Psychiater sind es eigentlich Menschen, die Straftaten begehen."
Suche nach spezifischen Eigenschaften
Eine allgemeinere Definition des "Bösen" schlägt der Koblenzer Psychologe Professor Benjamin Hilbig gemeinsam mit zwei Wissenschaftlern aus Ulm und Kopenhagen vor. Sie suchen Gemeinsamkeiten der "dunklen Eigenschaften" des Menschen, des Bösen also. Zu diesen Eigenschaften zählen Egoismus, Gehässigkeit, Machiavellismus, moralische Enthemmung, Narzissmus, Psychopathie, Sadismus, Selbstbezogenheit und übertriebene Ansprüchlichkeit.
"Wir hatten den Eindruck, dass sich viele dieser dunklen Persönlichkeitseigenschaften letztlich reduzieren lassen auf einen relativ einfachen gemeinsamen Nenner. Und der war ausschlaggebend für uns, diese Forschung zu machen und diese Frage zu untersuchen, ob man viele dieser dunklen Eigenschaften, dieser spezifischen Eigenschaften wenn man so will, reduzieren kann auf einen gemeinsamen Kern, den wir den D-Faktor nennen."
Übertriebener Egoismus als der dunkle Faktor des Menschen
Den dunklen Faktor der Persönlichkeit. Für Benjamin Hilbig ist er die Tendenz, eigene Interessen dauerhaft vor alles andere zu stellen – und zwar auch dann, wenn Mitmenschen darunter leiden. Das klingt im ersten Moment überzeugend, allerdings taucht ein Problem auf: Übertriebener Egoismus – nichts anderes bedeutet es, wenn jemand dauerhaft eigenen Interessen vor alles andere stellt – ist gesellschaftlich durchaus erwünscht. Bewundern nicht viele insgeheim Manager und Politiker, die anderen kompromisslos ihren Willen aufzwingen? Die Tausende in die Arbeitslosigkeit schicken, nur um noch mehr Geld zu scheffeln? Mit "You're fired" schickte Milliardär Donald Trump Menschen in die Bedeutungslosigkeit, der Beifall von Millionen Fernsehzuschauern war ihm gewiss. Wer möchte nicht auch so dominant sein? So viel Macht besitzen? Ein Bonmot unter Psychiatern lautet, dass man bei manchen Psychopathen nicht wisse, ob sie in zwei Jahren im Gefängnis sitzen oder hochangesehene Politiker sind.
"Es gibt so Theorien, dass Psychopathen überall sind, also nicht nur in Gefängnissen, sondern dass sie auch als Rechtsanwälte, als Chirurgen, als Manager in großen Betrieben arbeiten oder als Politiker."
Jeder kann zum Mörder werden
Durchaus möglich, dass psychopathische Tendenzen nicht nur bei Politikern, Anwälten und Managern zu finden sind. Im Sommer 1961 startete der damals 27-jährige Psychologe Stanley Milgram an der US-amerikanischen Yale-Universität eine Testreihe, die als "Milgram-Experiment" in die Geschichte einging. Er wollte die Bereitschaft untersuchen, sich einer Autorität zu beugen und auf deren Anordnung hin offensichtlich unmenschliche Anordnungen zu befolgen. Etwa Stromstöße einer Testperson zu verpassen, wenn sie falsche Antworten lieferte.
Da stellte sich heraus, dass nicht alle Versuchspersonen bereit waren, das zu machen, dass aber, wenn hinter jedem Versuchsteilnehmer ein weißbekittelter autoritär auftretender Versuchsleiter stand, der dann wortwörtlich gesagt hat: "Nun machen Sie schon, Sie müssen das machen, es gehört zum Experiment, nun machen Sie schon, es ist unausweichlich."
60 Prozent aller Versuchsteilnehmer – so Joachim Bauer, emeritierter Professor für Psychologie am Universitätsklinikum Freiburg – gaben Stromstöße ab, die in der Realität tödlich gewesen wären. Und zwar auch dann, wenn die Opfer nach jedem Stromstoß stöhnten, grunzten, vor Schmerzen aufschrien und darum bettelten, den Versuch abzubrechen.
Krimis sind spannend – nur Tiere dürfen nicht leiden
Wie verstörend widersprüchlich das "Böse" wahrgenommen wird, verdeutlicht zum Schluss diese Erfahrung des Österreichischen Kriminalromanschriftstellers Bernhard Aichner. Erstochene Frauen, erwürgte Kinder, verbrannte Männer – alles kein Problem, die erlösende Endorphinflut kommt garantiert. Es sei denn, das blutige Idyll wird gestört.
"Wenn eine Katze stirbt oder eine Hund stirbt oder man einem Hund eine Pfote amputieren muss, weil das eigene Kind sonst umgebracht wird vom Entführer und das der einzige Weg ist, dieses Kind zu retten. Der Hund verliert die Pfote, und dann gibt es Leserbriefe, dann hagelt es Leserbriefe, das kann doch nicht sein, der arme Hund, aber es sterben Menschen bestialisch, wenn die ermordet werden, aber sobald ein Tier in einem Buch Leid erfährt oder umgebracht wird, dann wird es ganz schlimm. Und das ist für mich sehr, sehr schräg. Diese Grenze wird nicht überschritten, alle anderen Grenzen werden überschritten, um diese Lust zu empfinden, die Sensationslust zu stillen, aber bei Tieren hört es auf."