Freitag, 29. März 2024

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Sommerserie: Dialekte in Deutschland
Der sympathische Schnorrer "Datterich" aus Südhessen

Der "Datterich" ist arm und versoffen, aber auch bauernschlau und schlagfertig. Er erzählt in Kneipen im südhessischen Dialekt Geschichten, macht sich über die Obrigkeit lustig und bekommt dafür von anderen Gäste Rotwein. Real ist er jedoch nicht, sondern eine literarische Kultfigur in Darmstadt - und auch eine Art Maskottchen eines neuen politischen Bündnisses.

Von Ludger Fittkau | 12.07.2016
    Die Fassade der Datterich-Klause in Darmstadt
    Der "Datterich" ist das wohl beliebteste Mundart-Stück Südhessens - und eine Kneipe. (Deutschlandradio/Ludger Fittkau)
    Der Bahnhofsvorplatz in Darmstadt. Straßenbahn- und Bushaltestellen, eine Grünanlage. In einer Ecke des Vorplatzes ein älteres Gebäude mit einigen Säulen davor. Es könnte eine ehemalige Wartehalle oder ein großer Kiosk gewesen sein. Die Säulen und die graue Gebäudewand sind mit gelben Graffiti bemalt, alles wirkt ein wenig provisorisch. Ein von einer Mauer umfasster, begrünter Innenhof mit Tischen und Bänken bietet im Sommer Biergartenatmosphäre. Der Schotte Dave Wade, der auf der Durchreise von Österreich nach Hause ist, genießt die schöne, ruhige Stimmung
    "It's nice and quiet. Everybody is friendly.”
    Auf dem Dach des Gebäudes prangt ein vergleichsweise neues Schild mit der Aufschrift "Datterich-Klause". Edeltraut Mandalio ist hier im Sommer Stammgast. Obwohl sie selbst nicht aus Darmstadt kommt, hat sie schon etwas über den die Mundart-Figur "Datterich" gehört:
    "Der Datterich? Na ja, dass der hier ein Darmstädter war, und dass er sich überall durchgeschnorrt hat. Das weiß ich, aber sehr viel weiß ich auch nicht."
    Was Edeltraut Mandalio nicht weiß: Der "Datterich" ist keine reale Figur der Stadtgeschichte, sondern eine Erfindung des Mundart-Dichters Ernst Elias Niebergall. Der Datterich ist Protagonist seiner auch heute noch beliebten südhessischen Dialekt-Posse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
    "Datterich bildet den sympathischen, schlauen Schnorrer ab, der sich durchs Leben schlägt. Am Ende dann ein Scheitern, ein sympathisches Scheitern, ein melancholisches Scheitern. Das ist ein Buch, dass die Darmstädter Mundart darbietet in einer wunderbaren Art und Weise, mit Sprüchen, die die Darmstädter sehr genau kennen", erklärt der Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch von den Grünen.
    Ungewöhnliches politisches Bündnis
    Der "Datterich" ist nun auch eine Art Maskottchen eines neuen politischen Bündnisses, das die Stadtregierung stellt. Es besteht aus den Grünen, der CDU und einer links-alternativen Fraktion mit dem südhessischen Namen "Uffbasse". Auf hochdeutsch: " Aufpassen". Das ungewöhnliche Dreier-Bündnis wurde ganz bewusst in der "Datterich-Klause" besiegelt, so der Oberbürgermeister:
    "Das ist auch ein Stück Selbstironie - selbstverständlich. Ich glaube, man sollte gerade in diesen Zeiten, wo viele Leute genau gucken, was passiert denn eigentlich? Nimmt uns Politik ernst, nimmt Politik wahr, wer macht denn eigentlich was für uns, muss man bei aller Ernsthaftigkeit und bei aller Notwendigkeit gerade in der Sozialpolitik und in der Stadtentwicklung Lösungen für abgehängte Menschen zu finden und denen deutlich zu machen – wir sind für Euch da, das ist ja die große Aufgabe die wir haben – glaube ich, dass man den Leuten an bestimmten Stellen zeigen muss, das Ironie mit dabei ist und das man sich auch nicht so ernst nimmt."
    Kräuter zum Mitnehmen an der Datterich-KLause
    Hier darf geerntet werden! (Deutschlandradio/Ludger Fittkau)
    Dennoch ist gerade die "Datterich-Klause" am Darmstädter Bahnhof ein Ort, der ein kleines sozialpolitisches Ausrufezeichen setzt. Denn hier gibt es keinen Verzehr-Zwang für Gäste. Die Kräuter, die hier an der Mauer im Biergarten angepflanzt sind, kann man pflücken und mitnehmen. In einer Ecke stehen kleine Grillgeräte bereit, auf denen man mitgebrachte Würste selbst Grillen kann. Genau das fasziniert Edeltraut Mandalio:
    "Wunderschöne Kräuter überall, die kann man sich pflücken. Ich habe gerade gesehen, da hat er jetzt Johannisbeeren und Himbeeren noch gebracht, die müssen noch wachsen. Dahinten sind sogar Weintrauben. Und die Tomaten werden auch langsam, die darf man dann auch ernten, wenn sie reif sind."
    Essbares Darmstadt
    Die "Datterich-Klause" ist Ausgangspunkt für eine neue Initiative mit dem Namen "Essbares Darmstadt", die wie schon in anderen Städten im öffentlichen Raum Nutzgärten anlegen will, in denen Bürger kostenlos Gemüse oder Kräuter pflücken können. Oberbürgermeister Jochen Partsch:
    "Die Datterich-Klause hat sich schon deswegen gut angeboten, weil ich glaube, dass ist jetzt kein Datterich-Bündnis, das wir da geschlossen haben, im Gegenteil. Es ist ein Bündnis mit viel Power für die Entwicklung der Stadt, aber es bezieht sich halt schon auf dieses: Wir wissen schon genau, wo wir herkommen, wenn wir loslaufen."
    Bodenhaftung – diesen Begriff schätzt das Darmstädter Stadtoberhaupt. Auch der südhessische Dialekt kann dieser Bodenhaftung dienen. Die Mundart-Theaterfigur "Datterich" ist sogar bei Fußballspielen von Darmstadt 98 im Stadion präsent:
    "Als Bild, ikonografisch. Mit einem Glas Wein, in dem dann Signets verschiedener anderer Bundesliga-Vereine drin sind und drunter steht: Dieser "Dorscht" – also dieser Durst, das man immer weiter will. Das hat was damit zu tun, dass sich in Darmstadt bestimmte Milieus und Szenen immer wieder begegnen."
    Im Sommer an lauen Abenden jetzt auch wieder in der "Datterich-Klause" am Hauptbahnhof. Edeltraut Mandalio wird es in den nächsten Wochen genießen:
    "Bestimmt, ist doch wunderschön!"