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Sondierungsgespräche
"Am Scheitern hat die CSU kein Interesse"

In den Sondierungsgesprächen hakt es vor allem bei dem Thema Flüchtlingspolitik: Sowohl die Union als auch die Grünen verharren auf ihren Positionen. Um sich dennoch zu einigen und den Weg frei für eine Jamaika-Koaltion zu machen, müssten sich die Parteien "ein Stück weit verrücken", sagte der Parteienforscher Heinrich Oberreuter im Dlf.

Heinrich Oberreuter im Gespräch mit Christine Heuer | 18.11.2017
    Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter.
    Der Politikwissenschaftler hält die Jamaika-Koalition für möglich (dpa / picture-alliance / Andreas Gebert)
    Christine Heuer: 68 Prozent der Deutschen sind für Neuwahlen, aber nur, wenn Jamaika nicht zustande kommt – so eine neue ZDF-Umfrage. Neuwahlen, das wäre aber der Worst Case für die Sondierer, und wenigstens in diesem Punkt dürften sich alle vier beteiligten Parteien einmal 100 Prozent einig sein.
    Trotzdem kommen sie bei ihren Verhandlungen kaum oder gar nicht weiter. Bis 18 Uhr morgen haben sich die Unterhändler jetzt noch einmal Zeit gegeben, um sich doch noch zusammenzuraufen. Seit 10 Uhr heute Morgen sitzen CDU/CSU, FDP und Grüne wieder zusammen.
    Und am Telefon ist Heinrich Oberreuther, Politikwissenschaftler, Parteienforscher, CSU-Experte. Guten Tag, Herr Oberreuther!
    Heinrich Oberreuter: Grüß Sie!
    Heuer: Ihr Tipp heute Mittag: Kommt Jamaika oder kommt es am Ende dann doch nicht?
    Oberreuter: Ich bin kein Hellseher, und die Dinge sind derartig unluzid und vermischt und kompliziert, dass es hochriskant ist, einen Tipp abzugeben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Jamaika kommen könnte, sage ich bewusst als Konjunktiv, die ist nach wie vor gegeben, weil alle Entwicklungen eigentlich, ich sage mal, verfassungspolitisch oder fürs politische Klima zu komplex sind.
    Heuer: Wir haben eingangs schon zum Beispiel gehört, Reinhard Bütikofer von den Grünen, der sagt, Alexander Dobrindt oder die CSU insgesamt, die wolle Jamaika eigentlich gar nicht. Wenn das Projekt scheitert, liegt es dann an der CSU, hat die den Schwarzen Peter?
    Oberreuter: Wenn es scheitert, liegt es an den Kontroversen zwischen Grün und Schwarz. Es kann ja nicht so verhandelt werden, dass nur die Positionen der Grünen legitim sind, und die der CSU wären es nicht. Die CSU hat sich im Wahlkampf derartig festgelegt in dieser Hauptstreitfrage Flüchtlingspolitik, dass sie eigentlich jetzt in den Koalitionsverhandlungen nicht als Verräterin ihrer Wählerschaft dastehen kann. Und vor dem gleichen Problem stehen die Grünen, die sich in der Frage des Familiennachzugs ähnlich festgelegt haben.
    Also im Grunde sind sie beide in einer Position, sich ein Stück weit verrücken zu müssen, und das nur so zulassen zu können, dass man es der eigenen Basis, der eigenen Wählerschaft auch noch verkaufen kann. Was vielleicht sogar dadurch möglich ist, dass hinsichtlich der Nachzugspotenziale offensichtlich doch irre und irrelevante Größen im Gespräch sind, denn die 750.000, die da auf dem Tisch verhandelt werden von der CSU, scheinen also ein erhebliches Zuviel zu sein.
    "CSU wird sich bewegen müssen"
    Heuer: Wenn Sie das schon sagen, Herr Oberreuther, und Sie kennen diese Partei und kennen ihre Bedürfnisse gut, wie kann die CSU denn da vielleicht trotzdem noch mal die Hand reichen den Grünen? Was kann sie anbieten?
    Oberreuter: Seehofer hat ja gestern gesagt, wir wollen eigentlich keine Zuwanderung, keine Nachzugszuwanderung. Eigentlich ist das ja schon eine sehr eingeschränkte oder einschränkende Größe.
    Heuer: Also die CSU bewegt sich aus ihrer Wahrnehmung?
    Oberreuter: Sie wird sich bewegen müssen, wenn sie das Ergebnis haben will. Und es gibt natürlich auch innerhalb der CSU, speziell bei Seehofer und seiner Mannschaft ein Interesse, mit einem erfolgreichen Ergebnis nach München zurückzukommen, weil wir ja da noch eine ganz andere Front zu beachten haben. Es könnte sein, dass eine realistische Betrachtung der Zahlen, um die es geht, eine Kontingentierung zum Ergebnis hat, die für Grüne und Schwarze, also Tiefschwarze, um an die CSU zu erinnern, erträglich ist und die sozusagen innerhalb dieser 200.000 läge, die von der CSU die ganze Zeit in einem umfassenderen Sinn natürlich gefordert worden sind.
    Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ausgerechnet, dass wahrscheinlich die Größe, um die es geht, 60.000 wären. Wenn man sich auf so etwas einigen könnte, kämen beide Parteien, glaube ich, ganz gut aus der Sache heraus. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die Sachkunde bei beiden Verhandlungspartnern schon so weit vorgedrungen ist, dass sie diesen Wert zur Kenntnis genommen haben.
    "CSU will den Kompromiss, weil sie ihn wollen muss"
    Heuer: Herr Oberreuther, Sie sind der CSU-Experte. Will die CSU diese Koalition überhaupt haben? Würde sie sich auf einen, wie ich bei Ihnen höre, vernünftigen Kompromiss einlassen, oder ist sie bereit, diese Geschichte scheitern zu lassen?
    Oberreuter: Ich glaube, sie will ihn, weil sie ihn wollen muss. Am Scheitern hat sie kein Interesse, und am Scheitern hat vor allen Dingen Seehofer in seiner verfahrenen Situation kein Interesse.
    Aber sie liebt diesen Kompromiss nicht und diese Koalitionsbildung, und das merkt man in den Verhandlungen sehr deutlich. Und deswegen ist Dobrindt sozusagen die personifizierte Gegenkraft zu dem, was da in Berlin beschlossen werden muss oder soll. Und wir können uns auf die eine oder andere Überraschung, positiv wie negativ, gefasst machen.
    "Da lässt sich keine Prognose wagen"
    Heuer: Der bayerische Machtkampf, den haben Sie jetzt schon ein paar mal angesprochen. Der Showdown war eigentlich für dieses Wochenende angesagt und ist jetzt aber erst einmal verschoben worden, weil ja Jamaika länger sondiert. Sie haben auch schon alle drei Namen genannt, die da eine Rolle spielen, Horst Seehofer, Markus Söder und Alexander Dobrindt.
    Mit welcher Überraschung rechnen Sie denn, wenn die CSU dann einmal bilanziert, was in Berlin beschlossen oder eben auch nicht beschlossen wurde?
    Oberreuter: Wir hätten noch zwei Namen auf den Tisch zu legen, nämlich Aigner, die sich seit Neuestem wieder zu Wort meldet, und Herrn Herrmann, der ja eigentlich der Spitzenkandidat war und sich bereiterklärt hat, ins Kabinett zu gehen, wenn es denn zustande käme.
    Also auch da lässt sich keine Prognose wagen. Ich glaube nicht, dass es zu einer friedlich-schiedlichen Übereinkunft kommt. Ich glaube überhaupt nicht, dass es zu dem kommt, was gegenwärtig in den Medien propagiert wird, nämlich Söder wird Ministerpräsident, und Seehofer behält den Parteivorsitz.
    Auch die Frage ist absolut offen. Ich würde nicht ausschließen, dass Seehofer beansprucht, bis nach der Landtagswahl beide Positionen zu behalten. Je länger der Berliner Kampf dauert, umso wahrscheinlicher wird das. Ich würde aber auch nicht ausschließen, dass dann noch um Weihnachten herum eine kleine Revolte in der Fraktion ausbricht. Aber die muss dann auch wieder die Partei hören. Man kann gegenwärtig weder in Berlin noch in München irgendeine rationale Prognose wagen.
    Heuer: Das ist schade, denn ich habe Sie eingangs nach Ihrem Tipp für Jamaika gefragt, und ich würde Sie gern zum Ende, Herr Oberreuther, doch dazu verleiten, mal einen Tipp abzugeben – wer ist, sagen wir zum Jahresende, bayerischer Ministerpräsident oder Ministerpräsidentin und Parteichef und Parteichefin? Oder danach?
    Oberreuter: Bis zum Jahresende ist auf jeden Fall noch, denke ich, Ministerpräsident Herr Seehofer, und ob er in Nürnberg Mitte Dezember einen anderen Parteivorsitzenden präsentiert kriegt, halte ich für eine offene Frage. Und wenn einer präsentiert wird, muss es nicht unbedingt Söder sein.
    "Wir sind in einer komischen Situation"
    Heuer: Auf wen setzen Sie, Herr Oberreuther?
    Oberreuter: Wie bitte?
    Heuer: Auf wen würden Sie setzen? Was sagt Ihre Erfahrung?
    Oberreuter: Nach den Beobachtungen der Kommunikation würde man Söder sagen müssen. Der Witz ist aber, dass gegenwärtig oder seit Wochen nur die Söder-Parteigänger sich öffentlich artikulieren, und alle anderen schweigen.
    Die ganze Seehofer-Mannschaft, zu der ja sehr bemerkenswerte und wichtige Politiker gehören, halten sich an das Abkommen vor der Koalitionsbildung in Berlin, oder wenigstens vor dem Ende der Sondierungsgespräche sich nicht zu äußern.
    Insofern haben wir eine komische Situation. Die Publizistik und die öffentliche Diskussion ist beherrscht von den Seehofer-Gegnern, und die anderen warten auf den großen Gegenschlag. Und ich glaube, dass dieser Gegenschlag Mitte Dezember in Nürnberg kommt. Speziell, wenn Jamaika erfolgreich sein sollte, wird Seehofer sagen, wer hat es gemacht? Ich. Ich habe euch ein Ergebnis beigebracht, das euren Intentionen nützt, in einer sehr schwierigen Situation.
    Und was haben andere gemacht? Die haben den Dolch geschärft, um ihn mir zwischen die Rippen zu stoßen. Und ich würde mich dann nicht wundern, wenn er am Parteitag eine kleine Mehrheit kriegen würde.
    Heuer: Heinrich Oberreuther, Politikwissenschaftler, CSU-Experte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Oberreuther, haben Sie vielen Dank dafür!
    Oberreuter: Ja, bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.