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Sorgenkind in der Nachbarschaft

Die Unruhen in Tunesien haben jetzt auch die Hauptstadt Tunis erreicht. Offiziellen Angaben zufolge gab es bisher 23 Tote. Die französische Regierung hält sich mit Äußerungen und Kritik auffallend zurück. Das verärgert nicht nur die tunesische Gemeinde Frankreichs.

Von Margit Hillmann | 12.01.2011
    Gestern Abend vor der Pariser Metrostation Saint François Xavier: Mehrere Hundert Demonstranten haben sich auf dem kleinen Platz unweit der tunesischen Botschaft versammelt. Sie halten Kerzen in der Hand; auf einem Pappschild steht in großen Lettern: Solidarität mit der Bevölkerung Tunesiens. Zwei junge Männer rollen eine rot-weiße Fahne aus – die Nationalflagge Tunesiens.

    "Ben Ali – Mörder; Sarkozy – Komplize!" skandieren sie. Unter ihnen auffallend viele junge Demonstranten, tunesischer aber auch marokkanischer und algerischer Herkunft,.

    "In Tunesien hat es schon zwischen 35 und 50 Tote gegeben – wir wissen nicht mal genau, wie viel es sind. Und in Frankreich ist das kaum ein Thema, es tut sich nichts. Auch die Medien berichten nur sehr wenig darüber. Das heißt doch: Ein toter Tunesier ist weniger wert als ein toter Europäer. Ich finde das schockierend!"

    Tatsächlich hält sich die französische Regierung auffallend zurück. Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat sich bisher öffentlich nicht zu den Unruhen in Tunesien geäußert; seine Außenministerin erst nach langem Schweigen: Frankreich bedauere die Todesfälle und hoffe, das sich die Situation in Tunesien beruhige, wieder Ordnung einkehre, so die Ministerin. Kein Wort der Kritik an die Adresse des tunesischen Staatspräsidenten. Für besonders großen Unmut in der tunesischen Gemeinde Frankreichs sorgt jedoch ein Statement von Agrarminister Bruno Le Maire gestern Morgen im französischen Fernsehen.

    "Der tunesische Präsident Ben Ali wird häufig zu schnell verurteilt. Er hat sehr viel gemacht, auch wenn man einige Aspekte kritisieren kann, bei den Menschrechten wachsam bleiben muss. Aber bevor man eine ausländische Regierung verurteilt, sollte man die Verhältnisse vor Ort gut kennen. Ich bin Franzose und habe keine ausländische Regierung von außen, einfach so, zu verurteilen."

    Ali El Baz vom Vorstand des französischen Verein "Maghrebinische Arbeiter Frankreichs" - kurz ATMF - hat für derartige Kommentare kein Verständnis. Erst recht nicht, wenn sie von einem französischen Regierungsmitglied kommen.
    "Wie kann man vorgeben, so wenig über die Zustände in einem Land zu wissen, das nur zwei Flugstunden von Paris entfernt ist, von dem jeder, der sich ein bisschen auskennt, weiß, das es eine Diktatur ist. Und wie kann man den Chef der Diktatur, Ben Ali, entschuldigen mit den Worten, er hat einiges gemacht?!"

    Für den Sprecher des ATMF gibt es nur eine Erklärung für den schonenden Umgang mit Ben Ali.

    "Das sind die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs in Tunesien, und – vielleicht noch wichtiger - die Terrorismusbekämpfung. Ben Alis Regime soll die Islamisten Tunesiens im Schach halten. Dafür ist Frankreichs Regierung bereit, die Augen zu verschließen vor den Menschenrechtsverletzungen in Tunesien. Aber das ist ein großer Irrtum. Das Schweigen der Franzosen und auch das Stillhalten der Europäischen Union sind Wasser auf den Mühlen der Islamisten. – Nicht nur in Tunesien. Die sagen jetzt: Da seht ihr, wie ernst es der Westen mit der Demokratie und den Menschenrechten meint! Das führt dazu, dass auch weniger radikale Tunesier die lautstarken Forderung nach Demokratie und Respekt der Menschenrechte – zum Beispiel im Iran – als europäische Heuchelei abtun."

    Der Tod weiterer Menschen in Tunesien lässt sich nur verhindern - davon ist der Sprecher des Vereins Maghrebischer Arbeiter überzeugt, wenn Frankreich und die EU endlich Druck auf die tunesische Regierung ausüben.

    "Europa und Frankreich haben die Mittel dazu. Schließlich sind sie für Tunesien wichtige Handelspartner, die EU zahlt enorme viel Subventionen an das Land. Das tunesische Regime reagiert eher auf wirtschaftliche und politische Sanktionen aus Europa als auf die Massenproteste der eigenen Bevölkerung. Auf die wird – im Moment jedenfalls – einfach geschossen."