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Sorgsam entfaltete Obsession

Glückliche Völker, so ließe sich ein Satz Tolstojs variieren, haben Leichen im Keller, unglückliche im Wohn- und Schlafzimmer. Kroaten müssen, wenn man dem zweiten Roman von Zoran Ferić trauen darf, zu den unglücklichen Völkern gehören. Das ganz normale Mittelschichtleben in "Die Kinder von Patras" ist ein einziger Abgrund. Erstaunlich, dass dieser 1962 geborene Schriftsteller noch an einem Zagreber Gymnasium unterrichten darf.

Von Jörg Plath | 12.03.2007
    Zoran Ferić erzählt vom Seitensprung eines seit elf Jahren verheirateten Ehemanns. Sein Sexualleben ist geregelt und er allem Anschein nach glücklich. Nur wenn die blonde Ehefrau auf die Toilette geht, vergisst Stanislav sie vollkommen und bekommt einen Schock, sobald die Spülung rauscht und Ines ganz selbstverständlich wieder auftaucht. Der Gymnasiallehrer Anfang Vierzig begehrt die Verlagsangestellte nur noch, wenn er eifersüchtig ist. Seine Aufmerksamkeit gilt der schönen, jungen Nachbarstochter und einer Schülerin an seiner Schule. Die erste sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl, die zweite wird ihn bald benötigen: Sie leidet an multipler Sklerose und zieht bereits das Bein nach. Stanislav sieht es und erschauert unter einer Welle der Zärtlichkeit.

    Der Leser aber erschauert auf andere Weise. "Die Kinder von Patras" ist der Roman einer merkwürdigen, sorgsam entfalteten Obsession. Stanislav hat Ines nicht davon abbringen können, mit ihm in die Villa zu ziehen, in der er aufgewachsen ist. Der Eingang seines "Geburtshauses" erschien ihm immer wie eine Falle: Gleich hinter der Tür hängt ein Spiegel:

    "So erblickten die Gäste in unserem Haus regelmäßig zuerst sich selbst, da der Öffnende ein wenig zur Seite treten mußte. Und das erste, was sie sahen, war das für den anderen aufgesetzte Lächeln. Indem sie einem anderen zulächelten, begegneten sie sich selbst."

    Und schon ist die Falle zugeschnappt. Auch die Eheleute verfehlen in diesem Haus im selben Augenblick den anderen und sich selbst. Sie leben in voneinander abgeschotteten Welten, und Ferić nutzt diese gegenseitige Undurchdringlichkeit geschickt zum Suspense: Stanislav findet Fotos von Ines in einem ihm unbekannten Hochzeitskleid, und Ines stößt bei Renovierungsarbeiten im Wohnzimmer auf ein kleines Massengrab. Die Knöchelchen sind Überreste von Katzenjungen, die Stanislav als Kind in der Badewanne ertränkt hat. Sein Vater hatte ihn dazu aufgefordert, am selben Tag, als die Mutter nach einer Brustoperation erschöpft aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war. Die Ertastung ihres Brustkrebses, an dem sie ein Jahr später sterben wird, hatte der Junge heimlich mitverfolgt. Die Krankheit zerstört erst das Symbol der Einheit mit der Mutter, dann sie, und für den Sohn gehen fortan Nähe und Krankheit, Sexualität und Tod Hand in Hand.

    Zoran Ferić erzählt seinen zweiten Roman vergleichsweise behutsam und mit Anklängen an Thomas Manns Todesverfallenheit, Vladimir Nabokovs Lolita-Besessenheit und John Updikes Sexfaible. Seine bisherigen Bücher "Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzern" und "Engel im Abseits" sind deutlich drastischer, jedoch ähnlich parabelhaft wie "Die Kinder von Patras". Für Stanislav ist die ganze Wirklichkeit verspiegelt wie der Eingangsbereich des elterlichen Hauses. Seine Liebe zu jungen Frauen, deren Krankheit ihm Nähe erlaubt, kommt ihm nicht seltsam vor. Aber Stanislav ist ein kluger Beobachter, und so formuliert er seine Resignation darüber, immer wieder nur auf sich zu stoßen und sich fremd zu bleiben, gern in aphoristischer Knappheit. So lautet der erste Satz des Buches in der nicht immer glücklichen Übersetzung von Klaus Detlef Olof:

    "Der Mensch hat das Rad erfunden, um so schnell wie möglich vor sich selbst weglaufen zu können, aber dann hat ihn die Geschichte eingeholt."

    Die Geschichte und die Toten: Auch Ines besitzt ein Geheimnis, in dem der Selbstmord eines geliebten Menschen eine zentrale Rolle spielt. Diskret verbindet Ferić all diese Toten mit den jugoslawischen Kriegen: Als diese begannen, verliebten sich Ines und Stanislav ineinander. Beständig herrschen in dieser Romanhölle Zwielicht und Ambivalenz, nur am Ende wirkt manche Szene etwas zu deutlich.

    Letztlich entkommt Stanislav auch in der fiebrigen, an den Wahnsinn grenzenden Affäre mit der begehrten Schülerin im griechischen Patras nicht dem Bann der Bilder: Eine Erektion bekommt er nur, wenn er eine Parallelhandlung mit einer willigen Sklavin imaginiert. Die Liebenden sind Untote, Versehrte einer nur zu erahnenden Katastrophe, die jede unmittelbare Nähe und Vertrautheit zerstört hat. Zoran Ferić haucht dem alten Thema des Seitensprungs ein faszinierend gespenstisches Leben ein.

    Zoran Ferić: "Die Kinder von Patras", Folio Verlag