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Sorj Chalandon: "Am Tag davor"
Schacht und Schuld

Am 27. Dezember 1974 starben im nordfranzösischen Liévin 42 Bergleute unter Tage - die Bergwerksleitung hatte die Sicherheitsvorschriften vernachlässigt. Sorj Chalandon hat darüber einen beklemmenden Roman geschrieben, der sich der Schuldfrage auf überraschende Weise nähert.

Von Dina Netz | 13.06.2019
Zu sehen ist der Autor Sorj Chalandon und das Cover seines Romans "Am Tag davor".
Sorj Chalandon ist ein engagierter Autor und Journalist (Autorenfoto: D. Rouvre/ Cover: dtv Verlag)
Sorj Chalandon hat sich nie geschont. Er hat für die Zeitung "Libération" unter anderem aus dem Iran, dem Irak, aus Somalia und Afghanistan berichtet. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen den "Schlächter von Lyon" Klaus Barbie wurde er 1988 mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. In seinen Romanen hat er sich mit seinem tyrannischen Vater, mit der IRA, mit dem Bürgerkrieg im Libanon auseinandergesetzt. Und jetzt ist Sorj Chalandon, wie er selbst sagt, mit "Der Tag davor" zur Keimzelle seines engagierten Schreibens zurückgekehrt:
"Am 27. Dezember 1974, dem Tag der Katastrophe von Liévin, bin ich 22 Jahre alt. Ich habe ein Jahr zuvor als Journalist bei der Zeitung ,Libération' angefangen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Arbeitsplatz für mich ein Ort der Würde, des Mutes und des Respekts. Und plötzlich erfahre ich an diesem Tag mehrere Dinge, die ich instinktiv geahnt, aber noch nie empfunden habe: Ich erfahre, dass die Arbeit auch der Ort des Todes und der Ungerechtigkeit sein kann. Denn diese 42 Bergmänner hätten nie einfahren dürfen, weil die Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten wurden. Diese Nachricht, diese Ungerechtigkeit macht mich wütend. Es ist meine erste Wut als Mann, und sie wird zum Sockel meiner Wut werden. Diese 42 Toten lösen bei mir zum ersten Mal die Wut aus, die dazu führt, dass man beschließt zu kämpfen. Danach war mein Leben nicht mehr dasselbe."
Der 43. Bergmann ist eine Fiktion
Als Sorj Chalandon sich mehr als 40 Jahre später entscheidet, über die Katastrophe von Liévin einen Roman zu schreiben, ist ihm, dem Reporter, sofort klar, dass er nicht von einem realen Toten oder dessen Angehörigen erzählen kann – die Opfer sind ihm heilig. So greift er zu einem Kunstgriff und erfindet einen 43. Bergmann, Joseph Flavent, der nicht im Schacht selbst, sondern erst später an seinen Verletzungen stirbt. Und damit eine Prophezeiung seines Vaters erfüllt, der Bauer ist und der seinen Ältesten immer vor der Zeche gewarnt hat:
"Die Kohle wird dir nur Kummer machen. Auch wenn du nicht dabei draufgehst. Auch wenn du das alles überlebst, den Staub, die unsicheren Ausbauten, die entgleisenden Hunte, das Wüten des Abbauhammers, die Eiseskälte bei der Ausfahrt. Auch wenn du auf beiden Beinen in Rente gehst, wirst du die Dreckskohle doch nie loswerden. Ein Teil von dir wird unten bleiben. Du wirst eine Staublunge kriegen, Joseph. Die kann man dann höchstens noch in den Ofen schmeißen, um Feuer zu machen. Du bist dann vergiftet. Halb taub und halb tot."
Das ganze Städtchen Liévin ist von der Mine geprägt. Der Mine, die einerseits den Lebensunterhalt vieler Familien garantiert, die aber auch die Lebenskraft und die Gesundheit der Bergleute verschlingt. Manchmal sogar ganz. Émile Zolas apokalyptischen Bergwerksroman "Germinal" zitiert Chalandon nicht nur einmal.
Von dieser düsteren Atmosphäre erzählt Michel, der mit Joseph nicht nur seinen älteren Bruder, sondern auch sein Idol verlor. Michel ist weit mehr als der Chronist eines tragischen Todes – er hat sein ganzes Leben in den Dienst der Erinnerung an Joseph gestellt. Nach dem Tod seiner Frau vollzieht Michel schließlich die lange geplante Rache an Josephs Vorarbeiter, der nie zur Rechenschaft gezogen wurde: Michel versucht, ihn zu töten. Im Prozess kommt allerdings heraus, dass Joseph tatsächlich in der Nacht vor dem Grubenunglück starb, bei einem Motorradunfall, bei dem Michel am Steuer saß. Er hat sich seine Erinnerungen so zurechtgelegt, dass er damit leben konnte, sein privates in das kollektive Drama eingebettet.
Wer die Schuld an Josephs Tod trägt, ist damit klar, aber wer trägt die Verantwortung? "Nur weil ein Bergmann nicht unten bleibt, heißt das noch lange nicht, dass er noch lebt", sagt Michels Anwältin einmal. Egal woran sie sterben: Den Lebensmut raubt den Bergleuten in jedem Fall die Zeche - so stellt Sorj Chalandon es dar. Und Michels Leben wiederum endet durch den Unfall, bevor es so recht begonnen hat:
"Mit sechzehn ging ich vom Lycée ab. Die Werkstatt in Liévin, in der mein Bruder vor dem Bergwerk gearbeitet hatte, nahm mich als Lehrling, aus Mitleid und in Gedenken an ihn. Wie beim Autorennen musste ich Reifen wechseln und Motoren inspizieren, aber mein Kinderherz schlug nicht mehr. Ich war an Josephs Tod verwelkt. Meine Jugend war alt geworden."
Leben mit der Schuld
Als Michel volljährig ist, zieht er nach Paris – er muss der Zeche und seiner nordfranzösischen Heimat den Rücken kehren, um atmen zu können. "Der Tag davor" ist eine kluge und differenzierte Reflexion über die Frage, wie man mit Schuld leben und was sie bei einem Menschen auslösen kann. Das Einfühlen in seine Figuren, vor allem in vom Schicksal gebeutelte, ist eine von Sorj Chalandons großen erzählerischen Stärken. Die seelischen Schächte, in die er Michel steigen lässt, sind so finster wie die Gruben von Liévin. Der routinierte Reporter findet sich in den kurzen, klaren Sätzen wieder.
Politisch ist Chalandon allerdings kein Autor der leisen Töne, seine Kritik an den Verantwortlichen, den Bergwerksbetreibern, wird mehr als deutlich. Sein Roman ist eine Hommage an die Toten des 27. Dezember 1974 – und an alle Bergleute:
"Frankreich hat die Bergleute fallenlassen. Nach dem Krieg hatte Frankreich sich ihrer gern bedient, sie waren die neuen Helden, die Frankreich mit ihrer Arbeit unter Tage wieder aufbauten. Sie beleuchteten Frankreich, sie heizten Frankreich. Und eines Tages hat man sie vergessen. In den 1960er Jahren starb täglich ein Bergmann an Silikose, der Minen-Krankheit. Aber niemand interessierte sich mehr dafür, man war zu anderen Dingen übergegangen. Es war die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, und den Zechen kehrte man nach und nach den Rücken."
Als sein Roman 2017 im französischen Original erschien, lud der Bürgermeister von Liévin Sorj Chalandon zur jährlichen Gedenkfeier ein und bat ihn, aus seinem Roman zu lesen. Im Regen stand der Autor nun unter der für immer zur Zeit des Grubenunglücks angehaltenen Kirchenuhr und las von den Brüdern Michel und Joseph Flavent, die es nicht gegeben hat. Unruhig erwartete Chalandon die Reaktionen der Bergleute und ihrer Familien:
"Ein alter Bergmann legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: 'Siehst du, Chalandon, deinen Flavent, deinen 43. Bergmann, den nehmen wir unter uns auf. Denn wenn er nicht in der Nacht vor der Katastrophe verunglückt wäre, dann wäre er mit den anderen in den Schacht Saint-Amé eingefahren und ganz sicher auch ums Leben gekommen.' Damit sagte ein echter Bergmann, ein Überlebender, zu mir, dem Schriftsteller, dass meine fiktive Figur einer von ihnen sei. Und das war der außergewöhnlichste, der erschütterndste, der ergreifendste Moment meines Lebens als Journalist und Schriftsteller."
Gegen das Vergessen des Unglücks
Dass die Bergleute Joseph Flavent adoptiert haben, wundert nicht: Sorj Chalandons Roman muss ihnen aus der Seele sprechen, als flammendes Pamphlet gegen das Vergessen all derer, die Jahrzehnte lang unter Tage Gesundheit und Leben ließen. Zum Glück hat der Autor seine Wut über die Verantwortungslosigkeit der Bergwerksbetreiber eingehegt in schöne Literatur: "Am Tag davor" ist - bei allem politischen Nachdruck - in erster Linie ein in klarer, einfacher Sprache verfasster, empathischer Roman über eine Familie, die aus Kummer zerbricht.
Sorj Chalandon: "Am Tag davor"
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Deutscher Taschenbuch Verlag, München
320 Seiten, 23 Euro