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"Sound History"
Klänge sind eine Frage der Zeit

In der Geschichtswissenschaft gibt es einen relativ neuen Forschungszweig namens "Sound History". Denn jede Epoche hat Klänge, die das Leben der jeweiligen Zeitgenossen prägten. Ein Sammelband hat sich nun in Deutschland zum ersten Mal dem Thema angenommen.

Von Marcus Heumann | 08.12.2014
    "Wie klangen Städte zur vorletzten Jahrhundertwende im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn der Industrialisierung? Und wie klingen Städte heute? Sind Sie lauter oder leiser geworden? Ab wann begannen Menschen, den urbanen Lärm als Belastung, gar als unerträgliche Belastung wahrzunehmen? Ab wann wurde der Lärm erfasst und gemessen? (...) Hatte die DDR einen anderen "Sound" als die Bundesrepublik? Weisen politische Gemeinwesen überhaupt so etwas wie eine akustische Kennung auf?"
    Schon dieser - gekürzte - Fragenkatalog aus der Einleitung des Sammelbandes lässt erahnen, welch weites Feld vor all jenen liegt, die sich wissenschaftlich mit der Geschichte von Klängen befassen wollen. Ein bisher weitgehend unbestelltes Feld zudem, wie die Herausgeber Gerhard Paul, Historiker an der Flensburger Europa-Universität und Ralph Schock, Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk konstatieren.
    "Wir haben abends bei einem Bier zusammengesessen und haben überlegt: Welche Klänge befinden sich denn überhaupt in unseren Köpfen? Und daraus sind auf vielen, vielen Bierdeckeln Stichworte entstanden für die wir dann Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen Disziplinen gesucht haben, die sich dann diesen Tönen gewidmet haben," resümiert Gerhard Paul die Entstehungsgeschichte des Buches, das, ediert bei Wallstein, auf knapp 600 Seiten 76 Einzelbeiträge umfasst. "Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute" ist sein Untertitel.
    Nicht zufällig liegt der Startpunkt am Ende des 19.Jahrhunderts, als der Industrialisierung mitsamt ihren Erfindungen und neuen, mechanischen Geräuschen die Reproduzierbarkeit und elektronische Verbreitung von Tönen auf dem Fuß folgten. Die seitdem mögliche Konservierung von Schall bietet Soundhistorikern Zeitzeugnisse ohne Ende. Entsprechend beeindruckend ist die thematische Bandbreite des Buches. Hier nur einige Beispiele aus dem Inhaltsverzeichnis:
    - Geräusch und Lärm in der Großstadt um 1900 - Warnsignale des Todes: Fliegeralarm und Luftschutzsirenen
    - Wagners Walkürenritt: Aus dem Orchestergraben auf das Schlachtfeld
    - In einem stillen Land: Soundscape DDR
    - Abhören und Lauschen: Zur Entwicklung der akustischen Überwachung
    Die Zugänge der Autoren zu ihrem jeweiligen Thema könnten unterschiedlicher kaum sein - ebenso wie die inhaltliche Gewichtung. Besonders anschaulich wird das beim Themenkomplex "Nationalsozialismus/Zweiter Weltkrieg", dem der Sammelband breiten Raum gibt.
    Klang der Waffe
    Ein Aufsatz wie der von Claudia Zelms zur Musik der Deutschen Wochenschau etwa vergibt die Chance, einen tatsächlichen Bogen zur Sound History zu schlagen, indem er vor allem musikpsychologische Aspekte analysiert. Der produktionstechnische Hintergrund dieser Goebbels'schen Propagandawaffe und die tatsächliche Wirkung auf die Kinozuschauer bleiben hingegen nahezu im Dunkeln. Einen direkten Konnex zur psychischen Auswirkung von Klängen liefert hingegen zum Beispiel Bernd Ulrichs Beitrag zum Lärm des Zweiten Weltkrieges:
    "Beispielsweise die Stalinorgeln... (Katjuscha-Geräusch) oder die sogenannten Jericho-Trompeten unter den Stuka-Flugzeugen, wo der Laut als Waffe eingesetzt worden ist. (Stuka-Geräusch) Also während die Stuka-Flugzeuge sich auf feindlichen Linien und auf Städte gestürzt haben, lief durch eine Trompete unterhalb des Flugzeuges der Wind und erzeugte einen infernalischen Klang, der die Zeitgenossen erschreckt hat. Also der Klang als Waffe ist was Neues, insgesamt klingen der Erste und der Zweite Weltkrieg völlig anders als die regionalen Kriege noch des 19. Jahrhunderts."
    Bei der Bewertung von Tondokumenten müssen Soundhistoriker auch immer die Umstände der Aufnahme mitdenken. Ein Beispiel dafür ist die Stimme Adolf Hitlers, die sich in der historischen Überlieferung als unentwegt hysterisch brüllend eingeprägt hat. Doch dieser "Sound" war keineswegs nur rhetorischen oder massenpsychologischen Überlegungen geschuldet.
    "Das Mikrofon und die damalige Technik zwang Redner, laut zu sprechen, im Grunde zu schreien aus mehreren Metern Entfernung in ein Mikrofon hinein, und das führte dazu, dass die Stimme nach kurzer Zeit, nach fünf bis zehn Minuten überschlug, und dieses heisere Schreien, was wir abgespeichert haben in unseren Ohren, ist im Grunde die mediatisierte Stimme des Diktators."
    Der nun im Wallstein Verlag erschienene großformatige Band "Sound der Zeit" ist faktisch das Remake einer Publikation, die seit über einem Jahr nicht über den Buchhandel, sondern ausschließlich direkt über die Bundeszentrale für Politische Bildung bezogen werden kann – dort heißt das Buch indes "Sound des Jahrhunderts". Wer nun aber bei der Wallstein-Version mit einer erweiterten Neuausgabe rechnet, sieht sich getäuscht: Vielmehr fehlen rund 20 Beiträge der Erstausgabe, u. a. jene zur Geschichte des SOS-Signals (Geräusch), zu den musikalischen Futuristen des frühen 20.Jahrhunderts und ihrer "Maschinenmusik" (Musik Russolo), dem Sportpalastwalzer (Musik) oder auch zur Entwicklung der Musikbox.
    Urheberrechtliche und finanzielle Hürden
    Das ist verschmerzbar, zumal Musikhistorisches in der Ausgabe der Bundeszentrale noch eher überproportioniert erschien. Schwerer wiegen die anderen Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben: Die Edition der Bundeszentrale ist zwar durch ihren billigen Telefonbuch- Einband mit ebenso billiger Grafikgestaltung im Vergleich zum gebundenen Wallstein-Wälzer äußerlich nicht eben attraktiv, aber ihre inneren Werte punkten: die Masse der oft farbigen Fotos - und vor allem die beigefügte DVD mit dem kompletten Buchtext und direkten Audio-Links zu Hörbeispielen. Wallstein-Käufer müssen sich solcherlei Material mittels Internet-Verweisen, die am Ende jedes Beitrages zu finden sind, selbst zusammensuchen. Die Frage drängt sich auf: Gleicht ein Buch über Sound-History ohne Hörbeispiele nicht einem Buch über Gemälde, das keine Abbildungen enthält...? Mitherausgeber Gerhard Paul verweist auf urheberrechtliche und finanzielle Hürden:
    "Wenn Sie ein Buch mit 700 Bildern und 80 Tonbeispielen machen - Sie müssen für jedes dieser Bilder und für jeden Klang Lizenzen bezahlen. Das geht ganz schnell in die Zehn- beziehungsweise Hunderttausende. Das kann sich ein kommerzieller Verlag heute kaum mehr leisten. Von daher mussten wir das alles reduzieren."
    Doch auch schon bei der bpb-Ausgabe mit Hörbeispielen scheiterten die Herausgeber etwa mit ihrer Idee, den Hörer akustisch mit der berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels zu konfrontieren:
    "Die Tochter des ehemaligen Reichsbankpräsidenten beziehungsweise Finanzministers von Adolf Hitler, eine alte Dame in München, ist tatsächlich Rechteinhaberin und verlangt für die Verwendung der Töne einer Goebbels-Rede tatsächlich noch Honorar bis heute. Im nächsten Jahr wird es das Problem nicht mehr geben, weil 70 Jahre nach dem Tod des Produzenten, also in diesem Fall des Redners, werden auch diese Rechte frei."
    Womit ein weiteres Mal die These beider Bücher belegt wäre: Sound ist eine Frage der Zeit.
    Gerhard Paul und Ralph Schock (Hrsg.): "Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen - 1889 bis heute." Wallstein Verlag, 607 Seiten. 49,90 Euro.
    Die preiswertere Ausgabe mit DVD ist erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung, "Sound des Jahrhunderts", 598 Seiten, 7 Euro plus Versandkosten.