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Sowenig Nihilist wie Nietzsche

Viel hat Johann Caspar Schmidt unter seinem Pseudonym Max Stirner gar nicht geschrieben. Aber mit seinem einzigen Buch "Der Einzige und sein Eigentum" hat er sich gründlich den Ruf ruiniert. Karl Marx nennt Max Stirner den "hohlsten und dürftigsten Schädel unter den Philosophen", Jürgen Habermas bezeichnet ihn als "rigorosen Monomanen".

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 21.06.2010
    1819 erdolcht der radikale Burschenschaftler Karl Ludwig Sand den Dramatiker August von Kotzebue, einen Gegner der liberalen Bestrebungen zu einer deutschen Einheit. Max Stirner, so seine Kritiker, verteidige nicht nur diesen Mord, sondern überlasse es dem Einzelnen, nach Gutdünken und um des kleinsten Vorteils willen zu morden. So schreibt Stirner:
    Ihr könnt die Tat Sands gar nicht verdammen: sie war sittlich, weil im Dienst des Guten, weil uneigennützig; Was war am Ende sein Unterfangen anders gewesen, als dass er Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt Ihr dasselbe Verfahren nicht als ein "gesetzliches" und sanktioniertes?
    Wer den preußischen Befreiungskrieg gegen Napoleon befürwortet, hält auch den spanischen Guerillakrieg für gerechtfertigt, bei dem französische Soldaten hinterhältig umgebracht wurden. Oder etwas aktueller: Wer die afghanischen Mujaheddin gegen die Rote Armee in den achtziger Jahren finanzierte und mit Waffen versorgte, hält sich keinesfalls radikal an das Gebot: Du sollst nicht töten! Mord ist also nicht per se böse, sondern höchstens ungesetzlich. Man soll also gar nicht moralisch leben, so Stirner, sondern sich bloß an die Gesetze halten. Er schreibt:

    Man soll das Gesetz, die Satzung in sich tragen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht "Ich lebe, sondern das Gesetz lebt in Mir". So bin Ich denn wirklich so weit gekommen, nur das "Gefäß seiner (des Gesetzes) Herrlichkeit" zu sein. "Jeder Preuße trägt seinen Gendarmen in der Brust" – sagt ein hoher preußischer Offizier.
    Damit aber verliert Der Einzige (. .) sein Eigentum. Gesetzen zu gehorchen, weil hinter ihnen eine Zwangsgewalt steht, die den Einzigen zur Pflichterfüllung nötigt gleichgültig in welchem Namen, enteignet dem Menschen die sittliche Kompetenz. Dann stellt sich ihm nicht mehr die Frage nach dem Guten, sondern nur noch, wie er gegenüber den Gesetzen loyal sein kann. Die eigene Tat ist keine eigene mehr, sondern eine fremde, von außen veranlasst, gesteuert. Nicht erst die Nazis nutzten solchen Gehorsam aus, um den Menschen ihr Gesetz überzustülpen, nach Stirner vergleichbar damit, wie etwa die russischen Grenzwächter sich für berechtigt halten, die entrinnenden Verdächtigen totzuschießen, indem sie "auf höhere Autorität", das heißt "mit Recht" morden.

    Stirner antizipiert das Verhältnis von Bürger und Staat zu einem Zeitpunkt, als sich manche Probleme dabei erst ansatzweise zeigen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging man weitgehend davon aus, dass der Gesetzesgehorsam die wichtigste Bürgertugend darstellt; denn die Gesetze erlässt jetzt vielerorts nicht mehr ein König aus eigener Herrlichkeit, sondern sie sollen die Sicherheit der Bürger gewährleisten. Doch wohin auch der Gehorsam gegenüber solchen republikanischen Gesetzen führen kann, wird man in voller Dramatik erst im 20. Jahrhundert erleiden.

    Dem Gesetzesgehorsam muss sich dagegen nach Stirner der Einzige um seiner selbst willen entziehen, wenn er schreibt:

    Kirche und Staat sind "nicht meine Welt. Ich verrichte nie in abstracto Menschliches, sondern immer Eigenes, das heißt, meine menschliche Tat ist von jeder andern menschlichen verschieden und ist nur durch diese Verschiedenheit eine wirklich Mir zughörige Tat. Das Menschliche an ihr ist eine Abstraktion und als solches Geist, das heißt abstrahiertes Wesen.

    Denn Stirner will sich vor allem nicht die Verantwortung für die eigene Handlung, sowenig wie für das eigene Urteil entziehen lassen. Ich handele nur selbst, wenn ich dafür auch die Verantwortung selber trage. Ich handele nicht selbst, wenn ich nur im Rahmen von Institutionen agiere, die ihrerseits alle darin stattfindenden Vorgänge vorgeben und verantworten. Dem Einzigen eignet sein Eigentum, bei dem es nur nebenbei um materielle Dinge geht, nur dann, wenn es sich um eigene Handlungen handelt.

    Aber verteidigt Stirner genau damit nicht den Mord, wenn er noch provokantere Thesen formuliert:

    Brandmarkt jene Offiziers-Witwe, die auf der Flucht in Russland, nachdem ihr das Bein weggeschossen, das Strumpfband von diesem abzieht, ihr Kind damit erdrosselt und dann neben der Leiche verblutet, - brandmarkt das Andenken der – Kindsmörderin. Die Mutter ermordete es, weil sie befriedigt und beruhigt sterben wollte.

    Die von Bernd Kast edierte neue Ausgabe von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum ist nicht nur verdienstvoll, weil es insgesamt bloß wenige Editionen dieses Werkes gibt. Sie enthält auch eine etwa 40-seitige Entgegnung Stirners an seine ersten Kritiker, den Frühsozialisten Moses Heß aus dem Umfeld von Karl Marx, an Ludwig Feuerbach, der durch seine Religionskritik berühmt wurde und an Szeliga, einen Vertreter der Junghegelianer, ein Intellektuellenkreis um Bruno Bauer, den Marx scharf angegriffen hat. Nicht nur durch diese Antwort Stirners, sondern vor allem auch durch sein hervorragendes Nachwort und seine Einleitung zu Stirners Rezensentenkritik gelingt es Bernd Kast, den weitverbreiteten Fehldeutungen Stirners einige gute Argumente entgegenzusetzen.

    So ist Stirner sowenig Nihilist wie Nietzsche; entwerten beide nicht das Individuum. Stirner antizipiert nicht nur Nietzsches These, dass Gott tot ist, sondern vor allem dessen Übermenschen, wenn er schreibt:

    Ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.

    Um schöpferisch tätig zu werden, darf man sich nicht bevormunden lassen, darf man sich seine Handlungen nicht vorschreiben lassen, weder von der Kirche noch vom liberalen Eigentums- oder vom kommunistischen Gemeinschaftsverständnis. Dazu ist Egoismus nötig, der ebenfalls Stirner denn auch fleißig vorgeworfen wurde. Doch sein Egoismus schielt nicht nach der Vermehrung des Reichtums, sondern nach Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens:

    Nicht als Mensch und nicht den Menschen entwickle Ich, sondern als Ich entwickle Ich – Mich. Dies ist der Sinn des – Einzigen.

    Mag man Stirner mit dem Nihilismus- und dem Egoismusvorwurf auch fehl deuten: Aber befürwortet Stirner nicht doch den Mord aus eigennützigen Motiven?

    Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir's nicht verbiete, wenn Ich selbst Mich nicht vorm Mord als "Unrecht" fürchte.

    Doch würden wir die Nähe eines Mitmenschen schätzen, der nur deswegen nicht mordet, weil es verboten ist? Wir gehen doch davon aus, dass unsere Freunde von vornherein nicht kalkulieren, ob sie bei einem Mord erwischt werden. Doch die Gedanken sind frei und die Menschen können sich immer gegen Gesetze auflehnen. Sie müssen also selber den Mord ablehnen – brisante Themen im 20. Jahrhundert im Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus, aber auch im Terrorismus oder als ziviler Ungehorsam. So führt der Herausgeber Bernd Kast mit dieser Neuausgabe vor allem auch Max Stirners Aktualität vor.

    Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Ausführlich kommentierte Studienausgabe, Hrsg. Bernd Kast, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2009, broschur, 452 S., 49 Euro.