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Sozialdemokratische Geschichte
Eine neue Historische Kommission für die SPD?

"Geschichtsvergessen" und "kurzsichtig": Als die SPD-Spitze im Sommer 2018 bekannt gab, ihre Historische Kommission aufzulösen, war die Empörung groß. Nun lenkt die Partei ein: Ein neues Gremium soll her, mit mehr Gegenwartsbezug und größerer Breitenwirkung.

Von Moritz Küpper | 17.01.2019
    Flugblätter der Spartakisten auf den Straßen Berlins
    Flugblätter der Spartakisten auf Berlins Straßen vor 100 Jahren: "Keine andere Partei kann so stark auf Geschichte rekurrieren", sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Dietmar Nietan (World History Archive)
    Es sind die Tage und Wochen des Erinnerns: 100 Jahre ist es her, dass am 5. Januar 1919 in Berlin der sogenannte Spartakus-Aufstand begann, in dessen Folge die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik endgültig gespalten und Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Der damalige Volksbeauftragte für Heer und Marine, der SPD-Politiker Gustav Noske, soll, einigen Historikern zufolge, in den Mord verwickelt gewesen sein:
    "Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen."
    Die undurchsichtige Rolle, die Noske bei der Ermordung spielte, sowie die nur halbherzige Verurteilung der Tat durch die SPD-geführte Regierung beschäftigen bis heute die Historiker, denn die tiefe Entfremdung der verschiedenen Lager innerhalb der deutschen Sozialdemokratie hat die Geschichte der Weimarer Republik entscheidend geprägt und zu ihrem Scheitern beigetragen.
    Eingestellt wegen Geldmangel?
    Bis heute sind die Folgen dieser Spaltung im Parteienspektrum sichtbar.
    "Die Sozialdemokratie ist weit über 150 Jahre alt. Wir sind aus einer Emanzipationsbewegung, aus der Arbeiter-Bewegung im 19. Jahrhundert entstanden. Und, wenn man so will, kann keine andere Partei so stark auf Geschichte rekurrieren", sagt Dietmar Nietan, seines Zeichens SPD-Bundestagsabgeordneter aus Düren in Nordrhein-Westfalen, Schatzmeister seiner Partei und eigentlich ein eher stiller Arbeiter im Hintergrund.
    Doch in den letzten Wochen und Monaten, war Nietan auf einmal gefragt. Denn: Der 54-Jährige ist seit September letzten Jahres Beauftragter für historische Fragen beim Parteivorstand. Der Grund: Die traditionelle Historische Kommission, kurz Hiko, war im vergangenen Sommer von der Parteiführung aufgelöst worden:
    "Ich habe von diesem Beschluss durch ein Telefongespräch erfahren. Frau Andrea Nahles hat mich am 22. Juni morgens 9:15 Uhr angerufen und in diesem Gespräch hat sie mir mitgeteilt, dass sie dem Parteivorstand vorschlagen werde, das Mandat der Historischen Kommission nicht mehr zu verlängern."
    Erinnert sich der bisher letzte Hiko-Vorsitzende Bernd Faulenbach. Geldsorgen, so lautete die offizielle Begründung damals. Hinter den Kulissen hieß es dagegen, dass die Hiko aus der Zeit gefallen und in den letzten Jahren wenig produktiv gewesen sei.
    Unterstützung, aber auch Kritik an Hiko
    Das Kalkül jedoch, dass dieser Schritt im Trubel der Fußball-WM untergehe und sowieso niemand die Hiko vermissen werde, ging nicht auf. Faulenbach, Geschichtsprofessor in Bochum und Ehrenvorsitzender der dortigen SPD, sprangen viele zur Seite. Dietmar Nietan soll nun ein neues Gremium initiieren, das sich um historische Belange der SPD kümmert. Die Abwicklung der Historischen Kommission wurde im Übrigen auch von jungen Sozialdemokraten kritisiert:
    "Viele Leute, die in die SPD kommen, die kommen auch zur SPD, weil sie sich mit den historischen Errungenschaften der Sozialdemokratie identifizieren können und weil sie das Gefühl haben, in der SPD im Zweifel auf der richtigen Seite zu stehen", sagt beispielsweise auch Jan Bühlbecker. Der 23-Jährige kommt - wie auch Faulenbach - ebenfalls als Bochum, engagiert sich in der Partei - und steht seit Jahren mit einem Slam-Poetry-Programm auf der Bühne. Für ihn steht fest:
    "Es gibt ein großes Interesse der Genossinnen und Genossen an den historischen Fragen, an den Reden von Otto Wels, an der Ost-Politik von Willy Brandt und an dem ganz tatkräftigen und leidenschaftlichen Engagement beispielsweise von Regine Hildebrandt und vielen weiteren. Und dieses Interesse und diese Leistungen und diese Errungenschaften aufzuarbeiten, das ist eben wichtig und spannend und ich glaube, dass die Historische Kommission da viele Potenziale bietet, die es zu nutzen gilt."
    Doch an Bühlbecker und seiner Meinung zeigt sich das Dilemma. Denn: Er ist zwar für eine Kommission – doch mit der Arbeit des letzten Gremiums war er nicht zufrieden:
    "Fairerweise muss man sagen, dass man von der Arbeit der Historischen Kommission vor der letzten Diskussion gar nicht so viel mitbekommen hat. Wenn man sich in der SPD mit der Geschichte der Sozialdemokratie auseinandersetzen wollte, dann ist man zu den Seminaren der Friedrich-Ebert-Stiftung gegangen."
    Neues Gremium, neuer Ansatz
    "Im Nachhinein, das will ich selbstkritisch sagen, war es ein Fehler, erstmal eine Struktur aufzulösen, ohne schon eine neue präsentieren zu können. Das musste geradezu den Eindruck provozieren, wir wollen uns von der historischen Arbeit verabschieden. Das wollten wir nicht, da war aber das Kind dann in den Brunnen gefallen und jetzt versuchen wir es halt besser zu machen", räumt Dietmar Nietan ein.
    Eigentlich hätten schon im vergangenen Jahr erste Pläne präsentiert werden sollen, aber die angespannte Finanzlage der Partei sorgte dafür, dass der Schatzmeister ausgelastet war – und die Arbeit des Beauftragten für historische Fragen liegenblieb. Doch nun will Nietan rasch Ergebnisse liefern:
    "Es wird eine Gruppe geben aus Menschen, eben aus Politik, Wissenschaft, die sich mit solchen Themen weiter beschäftigen soll. Wie die Gruppe genau aussieht, welchen Arbeitsrahmen es dafür geben wird, das eruieren wir gerade und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in den Gremien der SPD, im Parteivorstand, Ende Januar, spätestens sonst am 10. Februar auf unserer Klausur-Tagung, dann auch entsprechende Beschlüsse fassen können, so dass wir dann mit der neuen Arbeitsstruktur auch sofort beginnen können."
    Mehr Rückschlüsse und Leitplanken für die aktuelle Arbeit – weniger Aufarbeitung der Geschichte, so die Idee. Und auch personell soll sich einiges tun. Das würde auch Jung-Genosse Bühlbecker freuen, er hofft auf ein paritätisches, diverseres Gremium:
    "Wenn man es überspitzt sagt, glaube ich nicht, dass es gute Gremien in der SPD gibt, die ausschließlich aus alten, weißen Männern besteht, sondern: Es sollten auch mehr Frauen dabei sein, es sollten Menschen mit Migrationshintergrund dabei sein, es sollten Leute aus verschiedensten Lebensrealitäten in unserer Partei in der historischen Kommission auch in der Zukunft abgebildet werden, weil das eben auch eine Stärke der SPD ist, dass sie verschiedene Blickwinkel auf verschiedene Fragestellungen vereint."
    Mehr Wirkung in Partei hinein
    Dazu mehr politikwissenschaftliche Expertise, um Handlungsempfehlungen zu erarbeiten und, so Bühlbecker es sollte auch möglich sein, "dass auch Mitglieder eben an der Arbeit partizipieren können. Erfahrungen an die Historische Kommission schildern können, Erkenntnisse und Antworten von der Historischen Kommission für ihre Fragestellungen auch bekommen können und eben die Arbeit der Historischen Kommission so sichtbarer wird."
    Eine Stoßrichtung, die auch Nietan versteht. Er will neue Mitglieder gewinnen, alte behalten, so "dass wir auf der anderen Seite eben einen fruchtbaren Austausch hinbekommen, zwischen politischer Praxis und historischer Expertise. Diese Art von interdisziplinärem und sich gegenseitig befruchtendem Ansatz, der schwebt mir zumindest vor."
    Ob in Aufsätzen, Diskussionsveranstaltung oder auf anderen Kanälen: Über die Wirkungsmöglichkeiten der neuen Kommission ist noch nichts bekannt. Fest steht: "Historische Kommission" wird das neue Gremium nicht heißen können. Damit es nicht nach bloßer Neuauflage und korrigiertem Fehler aussieht, könnte das neue Gremium "Runde" oder "Kreis" getauft werden. Der Beauftragte für historische Fragen, Nietan:
    "Ich glaube, es wird an uns selber liegen, ob wir zeigen können: Wir schließen an die Tradition der Arbeit der Historischen Kommission an, die hat ja gute Arbeit geleistet, aber wir werden die Dinge auch anders machen. Wenn es uns gelingt, wenn man so will, die unbestreitbaren, wichtigen und wirklich hervorragenden Dinge der Historischen Kommission zu bewahren und weiter zu entwickeln, aber auf der anderen Seite zu zeigen, das ist schon auch noch mal eine andere, eine neue Struktur, dann hätten wir alles richtig gemacht."
    An Aufmerksamkeit, so viel steht wohl fest, wird es dem neuen Gremium nicht fehlen. Erstmal zumindest.