Donnerstag, 25. April 2024

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Sozialphilosoph Axel Honneth
Die Ideen der Frühsozialisten

Axel Honneth, Sozialphilosoph und Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hält die Zeit für gekommen, neu über den Sozialismus nachzudenken - den frühen Sozialismus der Utopisten, den Sozialismus von Karl Marx. In einer Vorlesungsreihe am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar legte er dar, warum er den Blick zurück für unabdingbar hält.

Von Henry Bernhard | 11.06.2015
    "Die Gesellschaften, in denen wir leben, sind durch einen höchst irritierenden Zwiespalt geprägt. Einerseits ist das Unbehagen über den sozioökonomischen Zustand, über die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen. Wahrscheinlich haben sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges niemals so viele Menschen gleichzeitig über die sozialen und politischen Folgen empört, die mit der global entfesselten Marktökonomie des Kapitalismus einhergehen."
    Axel Honneth spricht vor großem Publikum im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Offensichtlich ist das Interesse noch oder wieder da, über Alternativen zum Bestehenden nachzudenken.
    "Andererseits aber scheint dieser massenhaften Empörung jeder normative Richtungssinn, jedes Gespür für ein Ziel der normativen Kritik zu fehlen, so dass sie eigentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt. Es ist, als mangele es dem grassierenden Unbehagen an dem Vermögen, über das Bestehende hinauszudenken und einen gesellschaftlichen Zustand jenseits des Kapitalismus zu imaginieren."
    Es mangele unserer Gesellschaft an Ideen, wohin sie sich entwickeln könnte, wo und wie sie mehr Demokratie, mehr Gerechtigkeit, mehr Miteinander finden könnte. Wir hätten die Fähigkeit, Neues und anderes in der gesellschaftlichen Sphäre zu antizipieren, verloren. In der globalisierten liberalen Marktwirtschaft nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus will Honneth kein Ende der Geschichte erkennen. Zwangsläufigkeiten und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte mag er nicht anerkennen.
    "Nein, das fand ich immer eine ziemlich unplausible These und widerspricht auch eigentlich den Grundüberzeugungen, die man als Mitglied moderner Gesellschaften erst mal erwirbt, nämlich dass es ein Nach-Vorne geben sollte, eine Verbesserung der existierenden Umstände. Diese Erfahrung machen wir doch in allen Bereichen: Wir glauben, dass uns die Medizin noch weitere Fortschritte bringen kann; wir glauben im Augenblick an die Menschenrechte in dem Sinn, dass wir die Überzeugung haben, sie ließen sich Schritt für Schritt weltweit etablieren. Warum sollen wir, was unsere Gesellschaftsordnung anbelangt, nicht auch solche Hoffnungen und Erwartungen an eine Verbesserbarkeit haben? Also, die posthistoire oder das Ende der Geschichte hat mir nie ganz eingeleuchtet."
    Dennoch oder gerade deswegen der Blick zurück. Die Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hätten schon die Frühsozialisten beflügelt, da sie eben diese Forderungen in der frühkapitalistischen Welt keinesfalls eingelöst sahen.
    "Deswegen auch meine Überzeugung, dass der Sozialismus eher auf dem Boden der modernen liberalen Gesellschaften operiert als mit Blick auf ein Jenseits dieser Gesellschaften."
    Die Sozialisten sind falsch abgebogen
    In zwei Vorlesungen setzte Honneth zur Kritik an den Frühsozialisten, an Marx an. Nicht erst in der praktischen Realisierung der egalitären sozialistischen Gedanken ab 1917 seien die Sozialisten falsch abgebogen, sondern schon viel früher, in ihren Denkgebäuden.
    "Ein ganz problematisches Verhältnis zu den individuellen Freiheitsrechten. Eine Fixierung auf die Idee, dass das Proletariat gewissermaßen das revolutionäre Subjekt ist - eine fatale Entwicklung, glaube ich, ja, wodurch der Sozialismus sich un-bürgerlicher gemacht hat als er vielleicht ist. Drittens auch der Gesetzesglaube, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich quasi mit historischer Gesetzmäßigkeit vollzieht, weswegen der Sozialismus auch mit einer gewissen Notwendigkeit irgendwann kommen wird. Das alles hat dazu geführt, dass der Sozialismus eigentlich eine Tugend, die er vielleicht ganz früh in den Anfängen mal hatte, sehr schnell wieder abgestreift hat, nämlich, sich experimentell zu verstehen. Auf dem Boden unserer Gesellschaftsordnung sich als experimentelle Bewegung zu verstehen, die immer neue Wege sucht, um die Umstände in Richtung einer besseren und sinnvolleren Verwirklichung von Freiheit zu verändern."
    Freiheit bleibt Honneths zentraler Begriff der Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Mit der maximierten individuellen Freiheit aber, so Honneth, seien Gleichheit und Brüderlichkeit nicht zu haben. Der kapitalistische Markt mache aus allen nur Käufer und Verkäufer; Gleichheit und Brüderlichkeit seien für den Markt irrelevant. Erst wenn Freiheit nicht nur dazu diene, private, egoistische Interessen zu verfolgen, bekämen Gleichheit und Brüderlichkeit überhaupt erst eine Chance. Gegen den individuellen Freiheitsbegriff setzt Honneth deswegen den Begriff der "sozialen Freiheit".
    "Hegel sagt: Das deutlichste Modell für diese Form von sozialer Freiheit ist Freundschaft und Liebe, weil: In Freundschaft und Liebe erfahren wir, dass wir unsere Bedürfnisse nur im Komplementären ergänzen mit jemandem anderen verwirklichen können, erfahren das aus der subjektiven Perspektive als Erweiterung unseres Selbst, und trotzdem ist es eine Freiheit, die ich alleine überhaupt nicht verwirklichen könnte."
    Annäherung an einen gelungenen Sozialismus durch Experimente
    Wie er diesen privaten, ja intimen Rahmen der Rücksichtnahme aber auf größere Gruppen, ja Gesellschaften übertragen will, darüber spricht Honneth deutlich weniger konkret. Er gibt auch nicht vor, einen Fahrplan zum gelungenen Sozialismus zu haben, sondern spricht lieber von der experimentellen Annäherung an ihn, mit der Trial-and-error-Methode.
    "Wenn der Sozialismus sich experimentell versteht, ist es dann seine Aufgabe, die Bedingungen durch praktisch durchgeführte Experimente zu erkunden, unter denen man diesem Selbstverständnis am nächsten kommt, sodass alle Beteiligten tatsächlich nicht nur die Idee haben einer fairen Kooperationsgemeinschaft, sondern die Überzeugung haben, wir haben sie realisiert, um zu vermeiden, dass das so ein Ideal für Kleingruppen wird, für irgendwelche freiwilligen Kooperationen in Berlin-Kreuzberg oder sowas. Ich meine: Das wäre ja fatal, wenn der Sozialismus da endet, ja!"
    In der Sphäre der Wirtschaft wäre dies, so Honneth, am schwersten auszutesten. Aber er sieht, anders als zum Beispiel Karl Marx, keinen Widerspruch zwischen privatem und gemeinschaftlichem Eigentum, zwischen Markt und Plan. Sie könnten koexistieren. Anzustreben wäre ein Zustand "noch Markt, aber schon soziale Freiheit". Dazwischen läge ein weites Feld zum Testen, zum Ausprobieren.
    "Entweder Grundeigentum oder basic income, als eine neue Eigentumsform, als einer bedingungslosen Form des individuellen Eigentums. Zweitens gemeinschaftliches Eigentum, auch das scheint mir irgendwie ein Tabu zu sein, nicht damit experimentell zu beginnen. Und drittens die Frage des Aktienbesitzes bei stärkerer Regulierung, als wir es kennen. Also, hier müssen wir genauso, wie ich denke, dass wir den Marktbegriff dekonstruieren müssen, den Eigentumsbegriff ganz neu perspektivieren und in unterschiedlichen Formen uns erst mal wieder neu vorstellen. Dann kommt man diesem Ganzen näher."
    Axel Honneth will anstoßen, Denkräume öffnen, Denkblockaden abbauen, um über mögliche Richtungen der Zukunft überhaupt erst mal nachdenken zu können und nicht schon in der Theorie in der Alternativlosigkeit gefangen zu sein. So gesehen passt er bestens in das Kolleg Friedrich Nietzsche, findet dessen Leiter, Rüdiger Schmidt-Grépály:
    "Viele werden sich fragen: Was hat Nietzsche mit dem Sozialismus zu tun? Und viele wissen natürlich, dass Nietzsche sich gegen den Sozialismus gewandt hat. Aber wir - Kolleg Friedrich Nietzsche - versuchen ja, seinen - Nietzsches - Traum von einem Kloster, von einem Ort für freie Geister zu verwirklichen und den emphatischen Freiheitsbegriff, den auch Nietzsche hat - wenn auch ganz anders als jetzt Axel Honneth! -, an diesem Begriff können wir gut anknüpfen. Und ich denke tatsächlich, dass es Zeit ist, wieder über Freiheit zu sprechen jenseits von Neoliberalismus und Hartz IV und all den Dingen, die uns bedrücken. Und da ist es ja doch sehr mutig jetzt von Axel Honneth, den Begriff des Sozialismus zu versuchen zu reformulieren, neu zu formulieren. Also: Es geht doch ganz gut im Hause Nietzsche!"